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Der goldene Fels Kapitel 2

Der-goldene-FelsRobert Kohlrausch
Der goldene Fels
Kriminalroman, Alster-Verlag, Hamburg, 1915

Zweites Kapitel

Mit einer korpulenten Generalin am Arm, auf deren Haupt ein Reiherbusch nickte, war der Kommerzienrat seinen Gästen in den Speisesaal neben dem Salon vorangeschritten. Wohl sechzig Personen waren ihm gefolgt und erfüllten jetzt, um eine hufeisenförmige Tafel geordnet, mit ihren zu Beginn des Festes noch gedämpften Stimmenden den weiten Raum. Weiße Säulen trugen eine weiße, gewölbte und kassettierte Decke. Zwischen den Säulen war mattblauer Seidendamast über die Wände gespannt.

Ein Bild nur befand sich im Saal, dieses aber von riesigen Dimensionen al fresco auf die eine Langwand gegenüber den vier hohen Bogenfenstern gemalt. Es war ein Familienbild zum höheren Ruhm des Hauses Helbig. In der Mitte der Vater des Kommerzienrats mit segnend ausgebreiteten Händen. Er glich einem ehrbaren Schuhmachermeister, was er auch in Wirklichkeit gewesen war. Um ihn her gruppierten sich seine beiden Söhne, der Kommerzienrat und ein Bruder von ihm, während rechts und links die beiden von ihnen begründeten Fabriken stolz aus dem Zaubergarten mit abenteuerlich großen Blumen hervorwuchsen.

Die Frauen und Kinder von diesen beiden ruhmvollen und begüterten Trägern des Namens waren, sich mehrfach liebevoll umschlingend, um sie her geordnet; Martha, des Kommerzienrates Tochter, als halbwüchsiges, hageres Mädchen mit großen, dunklen, fragenden Augen. Helene, Helbigs ältere Tochter, trug eine Spindel in der Hand, um poesievoll anzudeuten, dass ihr Mann der glückliche Besitzer einer großen Baumwollspinnerei in Chicago war, während Kurt, ihr Bruder, als flotter Ulanenleutnant hoch zu Ross erschien. Weil des Kommerzienrats Bruder eine Fabrik für Eisenbahnwaggons errichtet hatte, stützte sich dieser Herr auf ein großes, geflügeltes Rad. Kommerzienrat Helbig selbst aber als Besitzer der weit bekannten Fabrik für Beleuchtungskörper hielt ein elektrisches Kabel, das vor ihm auf dem Boden sich gleich einer dunklen Schlange ringelte, während es aus der haltenden Hand in die Höhe stieg und hier einen besonders überraschenden Effekt bewirkte. Dort oben schwebte nämlich ein allegorisches weibliches Wesen, das einen halbkreisförmigen Kranz über die Familienmitglieder ausstreckte. Der Kranz war nicht gemalt, sondern plastisch aus Goldbronze getrieben. Glühlampen stellten in dem goldenen Laub die Früchte dar. Zu diesem Kranz kroch das gemalte Kabel hinauf und bewirkte scheinbar das prunkende Leuchten der strahlenden Lampen.

Frau von Stoiben, Hofens Tischdame, fühlte sich verpflichtet, ihrer Bewunderung für das reizende, symbolische Familienbild Ausdruck zu geben. Er sah sie von der Seite her an und sagte ruhig: »Der Maler soll Selbstmord verübt haben, als er sein Werk vollendet sah.«

Worauf sie bedauernd ausrief: »Oh, wirklich? Wie schade! Solch ein talentvoller Mensch!«

Sie verweilte jedoch nicht lange bei diesem Thema. Gleich der übrigen Gesellschaft war sie von einem Gegenstand hingenommen, der schneller als gewöhnlich ein allgemeines, lebhaftes Gespräch entfacht hatte. Man war wegen einer Anzahl von kecken Verbrechen, Schwindeleien, Diebstählen in Aufregung, die den Aufenthalt in dem nahegelegenen großen Kurort, wo fast alle die Anwesenden dauernd oder vorübergehend wohnten, seit kurzer Zeit recht ungemütlich machte.

»Und gerade hier alle diese Schrecklichkeit!«, rief Hofens Tischdame. »Hier, wo doch nur die beste Gesellschaft verkehrt.«

Er lächelte wieder sein ironisches Lächeln, das in dem gebräunten Offiziers- oder Jägerantlitz mit weißer Stirn, ganz kurz gehaltenem Haar und langem, blonden Schnurrbart allerlei kleine Fältchen zeigte, die verrieten, dass er älter war, als man auf den ersten Blick dachte. Was er antwortete, versetzte die Dame für einen Augenblick in stummes, verständnisloses Erstaunen.

»Vielleicht kommt es gerade davon, gnädige Frau. Denn die gute Gesellschaft hat Geld und Geld ist allen Übels Anfang. Bei denen, die es haben und bei denen, die es nicht haben.«

»Die es nicht haben?«, fragte sie hilflos.

»Jawohl. Denn die hätten es eben gern, und viele von ihnen lassen kein Mittel unversucht, um es auf möglichst bequeme Weise zu bekommen. Da gibt es dann manche kleine Verwirrung in der Moral. Und es entwickelt sich in den Geldgegenden ein üppiges Wachstum von Spielern, Betrügern, Fälschern, Dieben und so fort.«

»Ach, meinen Sie wirklich?«, fragte Frau von Stoiben und fasste nach ihrer Brillantbrosche, denn sie hatte wenige Minuten vorher von einer amerikanischen Millionärin gesprochen, deren Schmuck in der vergangenen Nacht im ersten Hotel des Kurortes geraubt worden war.

Dann wandte sie sich zum Nachbar auf ihrer anderen Seite, da dieser Herr von Hofen ihr ungemütlich wurde.

Der Kommerzienrat hatte gleich zu Beginn des Festmahls die Gäste mit ein paar Worten begrüßt, jetzt erhob er sich zu einer längeren Rede. Den Anfang machte die Geschichte von den zehn Pfennigen, die sich bei seiner Ankunft in Berlin gerade noch in seiner Hofentasche befunden hatten, und wunderbarerweise hatte sein Bruder genau dieselbe Summe bei seinem Einzug in Dortmund in der seinen gehabt. Doch der väterliche Segen hatte auf ihnen beiden geruht, wohl deshalb segnete der Schuster noch so unermüdlich auf dem Wandgemälde. Von ihm waren Fleiß, Ausdauer und Beständigkeit auf ihrem Lebensweg mitgegeben worden.

»Arbeit, Arbeit, Arbeit!«, rief der Industrielle mit bebender Stimme, »ist unseres Lebens Evangelium gewesen. Ihr verdanken wir, was wir sind und was wir haben. Und wie dieses Haus, in dem ich Sie heute zu meiner Freude versammelt sehe, so ist auch das Deutsche Reich auf seiner Bürger Arbeit begründet. Als ein Mann treuer unermüdlicher Arbeit und Pflichterfüllung erhebe ich mein Glas und rufe: »Seine Majestät, unser allergnädigster Landesherr, unter dessen mächtigem Schutz Handel und Industrie so friedlich blühen können, er lebe hoch! Hurra! Hurra! Hurra!«

Mit gebührender Begeisterung stimmte die Festversammlung in den Ruf ein, und ein hinter Palmen verborgenes Orchester nahm alle Kraft für einen energischen Tusch zusammen. Bei der Ansprache des Kommerzienrates hatten zwei Personen, die gegenüber auf der anderen Seite der Tafel saßen, ein merkwürdig verschiedenes Verhalten gezeigt. Seine Tochter Martha hatte regungslos, mit einem schwachen, verlegenen Rot auf ihrem blassen Gesicht, unablässig vor sich nieder auf ihren Teller geblickt und leicht aufgeatmet, als die Rede zu Ende war. Sein Schwiegersohn dagegen, der bis dahin für seine Tischdame der liebenswürdigste, heiterste Gesellschafter gewesen war, hatte gleich unbewegt immerfort Helbig ins Gesicht geschaut. Jedes Mal, wenn des Redners Augen seinen spöttischen Blicken begegnet waren, hatte der Geschäftsmann einen seiner gewohnten Hustenanfälle bekommen, als ob die festen, unermüdlichen Blicke verwirrend auf ihn wirkten.

Helbig wurde nach glücklicher Absolvierung seiner Hauptrede sehr vergnügt. Nur wenn er von seiner eigenen Person und seiner Familie so recht eindringlich zu der Generalin an seiner Seite sprach, traten ihm zuweilen Rührungstränen in die Augen. Zwischendurch trank er fleißig von den ausgezeichneten Weinen seines Kellers, nannte die Preise der verschiedenen Sorten und ermunterte die Herren in seiner Nachbarschaft, sich einzuschenken: »Prösterchen, Herr Ingenieur! Trinken Sie doch noch ein Glas von dem Lafitte, er steht ja vor Ihnen. Die Flasche davon kostet fünfzehn Em, so gut wird es Ihnen nicht alle Tage gehen.«

Der also angerufene Max Burkhardt wurde rot, hob jedoch höflich sein Glas gegen den Kommerzienrat, um es dann, als er es flüchtig mit den Lippen berührt hatte, wieder auf den Tisch zu stellen. Auch die Flasche ließ er still auf ihrem Platz. Das leichte Rot auf Marthas Gesicht vertiefte sich noch mehr, und sie warf einen raschen Blick zu Burkhardt hinüber, dessen Augen sich im selben Moment auf sie richteten. In den ihren schien eine stumme, verlegene Bitte zu liegen, in den seinen brannte düsteres Feuer. Und er kehrte seinen Blick sofort wieder von ihr ab.

Die Genüsse der Tafel steigerten sich, die Weine wurden immer schwerer, der Kommerzienrat hielt noch zwei Reden, die letzte auf das Andenken seines toten vortrefflichen Vaters, der immer noch an der Wand seine Söhne segnete, und endlich war die lange Sitzung vorüber. Nun gingen die Paare zunächst wieder in den Salon zurück, manche der Herren mit merkbar geröteten Köpfen. Martha hatte sich von ihrem Tischherrn eben mit einer leichten Verbeugung verabschiedet, als ihr Mann rasch neben sie trat.

Er sprachs halblaut: »Du. Schatz …«

Müde schaute sie zu ihm hin. »Was denn?«

»Du siehst heute Abend wieder großartig aus, phänomenal geradezu!«,

»Ist das alles, was du mir zu sagen hast?«

»Ist es nicht genug? Aber freilich. Schatz, da du fragst, ich hätte noch eine kleine Bitte an dich.«

»Und?«

»Könnten wir dies Vergnügen hier nicht ein wenig abkürzen und uns früher absentieren? Ich möchte noch etwas mit dir sprechen.«

»Sprich doch hier, jetzt gleich.«

»Hier, nein, ich möchte nicht gerne, so coram publico …«

»Zeitiger fortzugehen ist ja nicht möglich für mich! Du weißt, ich muss die Hausfrau repräsentieren, da kann ich nicht gehen, ehe nicht alle Gäste fort sind.«

»Gewiss, das ist ja wohl richtig, nur …«

»Hinterher stehe ich gleich zu deiner Verfügung, aber jetzt muss ich bleiben.«

»Na, dann später, noch viel Vergnügen, Schatz, und hinterher nett sein zu mir, nicht wahr?«

Sie gab ihm keine Antwort, ihre Züge wurden schlaff und müde. So stand sie einen Augenblick und sah auf das glatte Parkett vor sich nieder, wo sich der Kronleuchter als eine verschwommene Feuerkugel spiegelte. Dann hob sie den Kopf und blickte hinüber zu der anderen Seite des goldfunkelnden Raumes. Dort stand Max Burkhardt, allein und stumm.

Sie ging langsam, doch ohne wieder zu ihm hinüberzusehen, quer durch den Saal, sprach mit verschiedenen Damen ein flüchtiges Wort und kam so nahe zu seinem Platz heran. Er hatte mit brennenden, großen Augen und leicht geöffneten Lippen, über die der Atem in raschen Stößen kam und ging, ihr Kommen erwartet.

»Guten Abend, Herr Burkhardt«, sagte sie leicht hin, doch mit etwas unsicherer Stimme. »Wir haben uns vorhin so flüchtig begrüßt.«

Er suchte nach Worten und verneigte sich nur stumm, als er keine fand.

»Es ist schön, dass Sie zu unserem Fest gekommen sind. Wie haben Sie sich das Leben in Ihrem alten Haus eingerichtet?«

»Wie man sich das Leben so einrichtet, wenn …«

»Wenn was?«, fragte sie, da er nicht weitersprach.

»Wenn es keinen anderen Zweck mehr hat als Arbeit.«

Ein paar Sekunden lang suchte nun auch sie vergeblich nach einer Antwort. Sie fasste den zierlich aus Perlmutter und Spitzen gearbeiteten, zusammengelegten Fächer so, dass er eine kleine Brücke zwischen ihren Händen bildete. »Sie sind nun schon drei Wochen wieder hier, nicht wahr?«, fragte sie so leichthin, wie sie zuvor gesprochen hatte.

»Ja, drei Wochen. Ihr Herr Vater verlangte nach mir für die Fabrik. Sie wissen, dass ich ihm Dank schuldig bin. Er hat mir’s ermöglicht, weiter zu studieren, als Vater starb. Darum bin ich gekommen.«

»Wären Sie sonst für immer in der Fremde geblieben?«

»Ja.«

»So haben Sie nichts mehr hier in der Heimat, was Ihnen teuer ist?«

»Nein! Ich wüsste nicht was. Übrigens, ich hab’ noch keine Gelegenheit gehabt. Ihnen Glück zu Ihrer Heirat zu wünschen. Ich hole das hiermit nach.«

»Ich danke Ihnen.« Sie zögerte einen Augenblick. Es war, als wollte sie noch etwas hinzufügen. Dann aber wandte sie sich rasch ab und sagte nur noch: »Ich hoffe, nun vergeht keine so lange Zeit wieder, bis wir ein Wort miteinander sprechen. Auf Wiedersehen!«

Er verbeugte sich wieder stumm und sah ihr finster nach, als sie zu der Generalin mit dem Reiherbusch hinüberging, die bei Tisch neben ihrem Vater gesessen hatte. Im Vorübergehen sprach Martha noch ein freundliches Wort mit ihrem Schwiegervater, der mit Herrn von Hofen zusammenstand. Schon vor Tisch waren die beiden in ein lebhaftes Gespräch miteinander gekommen und hatten sich hier wieder zusammengefunden. Sie schienen Gefallen aneinander zu haben. Wie sie so dastanden, bildeten ihre Gestalten einen interessanten Gegensatz. Hofen mit seiner jugendlichen Frische, seinen scharfen Blicken und seinem leicht geweckten ironischen Lächeln war offenbar ein Mann, der noch im vollen Strom des Lebens dahinschwamm. Der Professor dagegen wirkte wie ein Mensch aus vergangenen Tagen, der vom sicheren Ufer still in den bewegten Strom hineinschaut. Sein ergrautes, mit schönem Ansatz um die hohe Stirn gelegtes Haar, der dunkel gebliebene Schnurrbart, seine reinen blauen Augen gaben ihm etwas von einem französischen Marquise der guten alten Zeit.

»Leben Sie dauernd hier bei Ihrem Herrn Sohn?«, fragte Hofen. »Es ist doch Ihr Herr Sohn, der die Tochter unseres Wirts geheiratet hat?«

»Ich kann ja und nein zugleich auf Ihre Fragen antworten. Ja, mein Sohn ist es, da drüben steht er neben dem Hauptmann Matthäus. Er war früher im selben Regiment, erst bei der Heirat hat er seinen Leutnantsrock ausgezogen. Aber ob ich dauernd hier wohne, nein, das ist nicht meine Absicht. Väter und Schwiegerväter sehen sich junge Ehen besser ein wenig par distance an. Ich wohne auch nicht hier in der Villa, habe mich ein Stückchen talaufwärts in einem Forsthaus eingemietet. Es liegt sehr hübsch am Waldrand, ein wenig den Berg hinauf. Der Förster ist ein frischer, netter Mensch, und seine Mutter, die den Haushalt besorgt, ist ein Juwel in altmodischer Fassung. Mir nebenbei noch unbezahlbar als Helferin bei meinen Studien.«

»Ihre Studien, verzeihen Sie …«

Der Professor lächelte mit einem bescheidenen, milden Lächeln. »Da bin ich glücklich bei meinem Lieblingsthema. Fragen Sie mich nur nicht viel, sonst werden Sie mich gar nicht wieder los. Ich war nämlich Gymnasiallehrer. Sie wissen, wie Schulmeister sind, jetzt aber bin ich seit einem Jahr in Pension. Und nun will ich einen Lieblingsplan ausführen und ein Buch über deutsche Burgen und Sagen schreiben.«

»Das interessiert mich sogar sehr. Dafür machen Sie nun auch hier Ihre Studien?«

»Das Tal ist reich an alten Burgen, wie Sie wissen werden. Die Nähe des Rheins bringt es so mit sich. Gleich hier drüben hinter der Villa, jenseits des Wassers, liegt ja die Ruine der Burg Eschersleben auf dem nächsten Hügel. Der Kommerzienrat hat sich die ganze Geschichte gekauft, Hügel, Burg und alles miteinander.«

»Da finden Sie gewiss hier guten Stoff. Denn wo Burgen sind, gibt es auch Sagen.«

»Und für die Sagen ist mir die treffliche Frau Lübbers, die Mutter des Försters, das lebendige Konversationslexikon. Sie weiß alles, ein paar Stunden talauf und talab.«

»Und mit was für Geschichten macht man hier am Ort die Kinder grauen?«

»Am interessantesten ist mir die Sage vom goldenen Fels.«

»Ach, erzählen Sie!«

»Ja, da hinter dem Burghügel ist nämlich ein hoher, glatter Felsen, der beinahe senkrecht in die tiefe Klamm zwischen ihm und dem Hügel hinuntergeht. Man sieht hier von der Villa nur noch seinen höchsten Gipfel, weil der Burghügel davorliegt. Aber ein wenig weiter im Tal, so von meiner Wohnung zum Beispiel, sieht man beinahe die ganze steile Wand. Und hier geht nun die Sage: Wenn dieser Fels bei Nacht wie Gold leuchtet, kommt sicher hinterher ein Unglück.«

»Was für ein Unglück denn? Weiß Frau Lübbers das auch?«

»Ja, damals, vor ein paar Hundert Jahren, als man den Felsen zum ersten Mal so merkwürdig vergoldet gesehen haben will, da soll unmittelbar hinterher der Schwarze Tod über das Tal hereingebrochen sein und furchtbar unter den Menschen hier gewütet haben. Ein zweites Mal aber, so im Dreißigjährigen Krieg oder kurz danach, soll auf den goldenen Glanz, der sich damals wieder gezeigt hat, ein ebenso furchtbares Morden durch verwilderte, räuberische Soldateska gefolgt sein. In beiden Fällen, auch die wirkliche Beobachtung des goldenen Felsens einmal zugegeben, ließe sich das gut genug auf natürliche Weise erklären. Holzarbeiter oder Soldaten können auf dem Burgberg ein Feuer angezündet und so den Felsen absichtslos golden beleuchtet haben. Weil aber zufällig hinterher unerwartete Kalamitäten gekommen sind, hat wieder einmal der alte Trugschluss vom post hoc ergo propter hoc sein Unheil angerichtet. Einem harmlosen Feuerschein hat man die Schuld gegeben an Pest und Mord.«

»Und jetzt, sieht man den Felsen jetzt nicht mehr so vergoldet? Und wenn es geschieht, was bedeutet es?«

»Frau Lübbers will es zweimal in ihrem Leben gesehen haben. Und jedes Mal hat es, nach ihrer Behauptung, den baldigen Tod eines Menschen hier in der Nähe bedeutet.«

»Herr Professor, da würde ich aber schleunigst meine Wohnung wechseln, wenn Sie von dort aus diesen goldenen Teufelsfelsen so gut sehen können.«

Hofen rief es lachend, aber mit Erstaunen sah er, wie sich das meist von einer stillen, gleichmäßigen Seelenheiterkeit erleuchtete Gesicht ihm gegenüber durch einen Hauch der Schwermut oder Sorge trübte, wie die klaren, blauen Augen sich dunkler färbten und mit einem starren Ausdruck in eine verschleierte Ferne hineinzublicken schienen. Auch sprach der Professor nun langsamer und mit besonderer Betonung.

»Vor diesem Felsen mit seinem goldenen Schein habe ich keine Furcht. Aber hinter ihm steht ein anderer, der viel größer und gewaltiger ist. Auf ihm leuchtet nicht nur zuweilen das verderbliche Goldlicht auf, er hat beständig diesen gefährlichen Glanz. Und er lockt Hunderte, Tausende und Abertausende zu sich heran, bis ihr Lebensschiff an ihm scheitert. Er zerstört uns vor allem die Jugend.«

»Sie meinen …«,

»Ich meine, dass in unserem so schnell reich gewordenen Vaterland für die Jugend weit größere Gefahren lauern als früher. Es ist ja nur natürlich, dass ihr der Anblick von Glanz und Genuss etwas Natürliches, Alltägliches ist. Aber weil sie nicht weiß, was an Arbeit und Kraftanstrengung dazugehört hat, um dahin zu kommen, meint sie, das alles müsse nun auch ihr von selbst zufallen. Sie will, sie fordert auch für sich mühelosen Genuss …«

»Und schafft sich die Mittel dafür auf jede erlaubte und jede unerlaubte Weise. Sie haben ganz recht, Herr Professor. Die Statistik der Gerichte liefert schon uns dafür den Beweis. Die Verbrechergesellschaft rekrutiert sich gegenwärtig sogar häufig aus ganz anderen Kreisen als ehemals.«

»Ich habe nicht an Verbrecher im eigentlichen Sinn gedacht. Alles Extravagante liegt mir so fern. Aber in den Kreisen der Familie, hinter den Mauern des Hauses, da spielen sich um jenes verderblichen Goldfelsens willen stille Tragödien ab, die manchem alten Vater das Herz brechen. Und wohl deshalb hat auch die hiesige Sage vom goldenen Fels mir einen ganz besonderen Eindruck gemacht. Ich sehe darin wieder einmal die wunderbare Treffsicherheit in der Phantasie des Volkes. Der Felsen da drüben ist ja nur der Träger des Gedankens, das Unheil kommt vom Gold. Sobald es in die Menschheit hineinleuchtet, folgen ihm Streit und Kampf und Verrat und Mord. So klingt es von uralten Zeiten her aus der Sage vom Nibelungenhort mit seinen goldenen Schätzen, von ihnen kommt alles Verderben. Und manchmal …«

Eine Bewegung unter den Gästen unterbrach ihn. Ein berühmter Pianist war vom Kommerzienrat engagiert worden, um das Fest mit seinem Können zu verherrlichen. Er war eben im Begriff, sich am Flügel niederzulassen. Professor de la Motte, der die Musik sehr liebte, suchte sich einen guten Platz, um ihr in Frieden lauschen zu können. Als er sich in der Meinung, Hofen würde seinem Beispiel folgen, nach ihm umschaute, war dieser verschwunden.

 

***

 

Das Klavierkonzert nahm unter lautem Beifall sein Ende, Gespräche lösten die Musik wieder ab. Auf einmal kam ein lustiges Jubeln von der anderen Seite des Raums herüber, wo sich eine Gruppe von Herren, darunter viele junge Gesichter, um den Kommerzienrat geschart hatte. »Famos, famos, auf in den Keller! Das ist ein großartiger Gedanke!« So klangen die Stimmen da drüben durcheinander.

Wenn der Kommerzienrat etwas reichlich getrunken hatte, las er nach Tisch seinen Gästen gern ein kleines Privatissimum über die Vorzüge seiner Weine und ihre Preise. Dabei kam es vor, dass er zum Schluss eine Wallfahrt in die kühlen, weinduftenden Tiefen des Kellers vorschlug, wo Fässer und Flaschen in verlockender Menge reihenweise lagen. Vom Loblied auf einen besonders herrlichen Jahrgang der Lacrimae Christi war er auch diesmal zu solchem Endresultat gekommen, und mit freudiger Zustimmung rüstete sich die Mehrzahl der Herren zum erwünschten Abstieg.

»Also voran, meine Herrschaften«, sagte der Kommerzienrat, in dessen rotem, weinseligem Gesicht die Augen noch kleiner als gewöhnlich geworden waren.

»Das heißt, vorangehen muss ich selber. Den Schlüssel zum Weinkeller, den vertraue ich nämlich niemand an. Der liegt eingeschlossen in meinem Arbeitszimmer, dort muss ich ihn holen. In ein paar Minuten kommen die Herren dann wohl unten in den Flur.«

Mit kleinen, eiligen Schritten ging er aus der Tür, die Treppe mit ihren schweren, vergoldeten Geländern hinunter. Alle gesellschaftsfähigen Räume des Hauses, auch im Erdgeschoss, waren erleuchtet und geöffnet. Aus der offenen Tür eines kleinen Salons dort unten klangen die gedämpften Stimmen von ein paar Herren, die sich mit ihren Zigarren dorthin zurückgezogen hatten. Helbig rief laut und lustig auch zu ihnen die Einladung hinein, sich der Kellerwallfahrt anzuschließen, dann trat er in die offene Tür seines Arbeitszimmers. Mit einem Stutzen aber blieb er im selben Augenblick stehen. Mitten in dem sonst leeren Zimmer sah er eine Männergestalt vor sich, die ihm den Rücken zuwandte. Sie stand bewegungslos nahe vor dem großen Geldschrank, dessen blankpolierte Fläche die Figur wie der Hintergrund eines Gemäldes umschloss.

Offenbar war es einer der Gäste. Das bezeugte der Gesellschaftsanzug. Aber trotzdem lief es dem Kommerzienrat für eine Sekunde kalt über den Rücken, als er die dunkle Gestalt hier ganz allein in seinem Arbeitszimmer bewegungslos und scheinbar in tiefer Betrachtung vor seinem Geldschrank fand. Ob die Blicke des Einsamen wirklich dorthin gerichtet waren, blieb freilich unerkennbar. Aber die Geschichten von den Einbrüchen und Räubereien im Kurort, von denen auch er an diesem Abend genug hatte reden hören, fuhren Helbig rasch und unbehaglich durch den Sinn.

Er hörte die Stimmen der Herren im kleinen Salon jedoch tröstlich herüberklingen und fasste sich Mut für ein lautes »Nanu?«

Beim Klang seiner Stimme fuhr die schwarze Gestalt herum. Es war Herr von Hofen. Jetzt lachte der Kommerzienrat, jedoch etwas gezwungen.

»Sie sind es? Wie kommen Sie denn hierher? Ich dachte schon an Einbrecher und Mörder.«

Auch Hofen lachte. »So muss ich wohl ausgesehen haben, hier vor Ihrem Geldschrank. Aber ich bin ein harmloser Einbrecher. Ich will es Ihnen nur gestehen, in musikalischen Dingen bin ich ein Barbar. Darum bin ich vor dem Pianisten eben davongelaufen und ein wenig im Haus umherspaziert. Auch hier, die Tür stand ja weit offen, da war ich so frei, mir Ihr vortreffliches Porträt dort an der Wand in Muße zu betrachten.«

Helbig atmete auf. »Ich freue mich, dass ich Sie gefunden habe. Jetzt kommen Sie mir nämlich nicht wieder los, jetzt müssen Sie mit in den Keller.« Und er holte, während er die merkwürdig klingende Einladung rasch erklärte, die Schlüssel zum Weinkeller aus dem alten Eschenholz-Schreibtisch, der das erste Möbelstück war, das er sich vom eigenen Verdienst erworben hatte und nun pietätvoll für immer aufbewahrte.

Dann schob er Hofen vor sich her auf den Flur, gesellte sich mit ihm zu den schon draußen versammelten Herren und stimmte, musikalisch nicht ganz richtig, aber noch ungefähr erkennbar, den Toreromarsch aus Carmen, an. Mit einem lauten »Auf in den Kampf, Torero!« fielen die anderen ein, und unter den feurigen Klängen dieses Kriegsgesangs begannen sie den Abstieg in den Keller.