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Mit den Konquistadoren ins Goldland Teil 19

Gustav Dittmar
Mit den Konquistadoren ins Goldland
Eine Erzählung aus der Zeit der Welserzüge
Teil 19

Endlich war der Tag des Festes gekommen. Schon seit den frühen Morgenstunden strömten die Gäste von allen Seiten in langen Zügen in die Stadt, voran die Männer, geführt von ihren Häuptlingen, dann die Frauen mit den kleinen Kindern, die sie auf dem Rücken trugen, endlich die Mädchen und die halbwüchsigen Knaben. Die Frauen schleppten obendrein den größten Teil ihres Hausrats mit sich, Hängematten, Körbe, Tongefäße, Kassavebrot und anderen Reiseproviant, denn der Weg zur Hauptstadt und zurück ins heimatliche Dorf war weit. Schon eine Strecke vor der Stadt wurde halt gemacht. Alle bemalten sich mit leuchtend roten und schwarzen Farben und schmückten sich mit Feder- und Goldzierrat. Die Männer, vorab die Guechas, trugen Waffen: Speere und glatte, polierte Kriegskeulen, dazu Schilde aus Rohrgeflecht, die mit prächtigen Ornamenten aus bunten Federn geschmückt waren. Stolz schwangen die Knaben ihre kleineren Speere und Keulen, die sie – viele zum ersten Mal – beim Waffentanz führen durften. Auf dem Marktplatz, vor dem Tempel Suas, erwarteten inmitten seines Hofstaats der Herr der Koralschlange seine Gäste. Unbeweglich saß er in seiner Sänfte, die vier Sklaven auf den Schultern hielten. So ließ er seit Stunden die Scharen der Ankömmlinge an sich vorüberziehen. Kein Blick traf ihn, alle wanden ehrerbietig das Gesicht ab. Es war ein heißer Tag, und der Staub wirbelte in Wolken unter den zahllosen Füßen auf. Bald quoll die Stadt über von Menschen, aber fast alle fanden bei Freunden und Verwandten ein Unterkommen. Nur wenige mussten in den Schuppen nächtigen, die gewöhnlich zur Aufbewahrung der Musikinstrumente, Masken und Tanzgewänder dienten.

Die Wellen der festlichen Erregung drangen bis in den stillen Palastgarten zu den Freunden. Auch die Guechas, die sie bewachten, hatten sich geschmückt. Sie standen zusammen und die sonst so Schweigsamen redeten lebhaft miteinander. Kaum fühlten die Gefangenen die undurchdringlichen Augen der Wächter weniger scharf auf sich gerichtet, als sie auch schon über Fluchtplänen brüteten. Sie hatten das Gefühl, dass ihnen dieses Fest eine unwiederbringliche Gelegenheit zur Flucht bieten konnte. Aber wie sie ergreifen? Sollten sie es mit Gewalt versuchen oder sollten sie zu einer List ihre Zuflucht nehmen? Tausend Pläne erwogen sie, um sie immer wieder als unausführbar zu verwerfen.

Gegen Mittag erschien Weiße Termite und überbrachte den Freunden die Einladung des Herrn der Koralschlange, dem Fest beizuwohnen.

»Wir sollen wohl als Schaustück dienen?«, meinte Fabricius grimmig.

»Vielleicht ist es unser Glück. Am Ende können wir während des Festtrubels entfliehen«, erwiderte Hans Hauser nachdenklich.

Zum ersten Mal seit langer Zeit durchschritten die drei Deutschen und der Xidehara mit dem unvermeidlichen Gefolge ihrer Wächter wieder die drei Palisadenzäune. Ein dichter Menschenstrom, Männer, Frauen, Kinder, Guechas und Handwerker, Priester und Laien nahm sie auf. Er wälzte sich durch die Straßen, dem Festplatz zu, der vor den Toren der Stadt lag. Bei den vielen Fremden, die das Fest in die Stadt gelockt hatte, erregten die weißen Männer wieder gewaltiges Aufsehen. Doch sie spürten deutlich, dass sie nicht mehr mit der scheuen Ehrerbietung angestaunt wurden wie früher. Keck umschwärmte sie eine Schar Knaben. Sie lachten ihnen dreist ins Gesicht, fast so, als wollten sie die bleichgesichtigen Männer verspotten. Endlich erreichten die vier die Gasse, die zum Festplatz führte. Zwei Reihen hoher Bambuspfähle, auf denen Menschenköpfe steckten, bezeichneten den Weg.

Die Menge umsäumte den Platz in dichten Scharen, ein wimmelnder Ameisenhaufen.

Dem Chicha wurde bereits schon fleißig zugesprochen und es herrschte laute Fröhlichkeit. Umso jämmerlicher sah der Haufen Gefangener aus, der in der Mitte des Platzes stand und sein Los, den Speerwerfern als lebendige Zielscheibe zu dienen, mit stumpfer Ergebung erwartete.

Ohrenbetäubendes Getöse verkündete das Nahen des Kaziken. Nicht weit von der Stelle, wo die weißen Festgäste standen, nahmen die Sänftenträger mit ihrer kostbaren menschlichen Last Aufstellung.

Hans Hauser konnte einen verstohlenen Blick auf den Fürsten werfen: ein Knabengesicht, ein Knabenkörper, zusammengesunken unter der Last des Goldharnisches, Lippen und Ohren noch geschwollen und mit blutigem Schorf bedeckt, Spuren der Wunden, die sich der Kazike im Tempel Suas beigebracht hatte, als er den Gott um den Sieg seiner Soldaten und seines Lehnsherrn, des Zipa von Muikita anflehte. Mit einem Ausdruck tiefer Traurigkeit schweifte der Blick des fürstlichen Jünglings über das bunte Gewimmel ringsumher.

Dann begann das Fest. Zuerst zeigten Knaben, Guechasöhne, in einem Wettlauf ihre Ausdauer, Kraft und Schnelligkeit. Sie waren ganz nackt, nur mit wallenden Federbüschen geschmückt. Unzählige Male umkreisten sie im rasenden Lauf die Bahn, von den Zuschauern durch gellende Rufe angefeuert. Viel hing für sie von dieser Probe ab. Nur wer sie bestand und viele andere dazu, wer es gelernt hatte, unter Geißelhieben nicht zu zucken, wer Bogen, Speer und Keule zu handhaben verstand, einen Bogen zu schnitzen und einen Pfeil zu fiedern wusste, der war würdig, in die Gemeinschaft der Männer aufgenommen zu werden. Ihm würde man im Tempel Suas Ohrmuscheln, Lippen und Nasenscheidewand durchstechen, um die Goldzierrat darin zu befestigen, die Zeichen der Mannbarkeit. Ihre letzte Kraft setzten die rennenden Knaben ein. Viele brachen zusammen. Der Sieger – auch er war völlig erschöpft – wurde vor den Kaziken geführt, aus dessen Hand er mit abgewandtem Gesicht den Preis empfing, ein reichbemaltes Baumwollgewand.

Wettläufe der Männer folgten. Dann gaben Blasrohrschützen Proben ihrer Kunst. Scharen bunter Vögel flatterten auf, und fast alle holten die Pfeile der Schützen aus der Luft.

Danach traten, von den Zuschauern mit Jubel begrüßt, die Speerwerfer auf den Plan. Die Abschlachtung der Gefangenen begann. Zu je vieren wurden sie an Pfähle gebunden, und die Speerwerfer nahmen in gemessener Entfernung vom Ziel Aufstellung. Hohngeschrei erhob sich, wenn ein Speer sein Ziel verfehlte, Jauchzen, wenn ein Gefangener tödlich getroffen in seinen Fesseln zusammensank. Angewidert wendete Hans Hauser die Augen ab. Da traf sein Blick zufällig Tochter des Schwälbchens, die unter den Frauen des Oberpriesters saß. Ungerührt sah sie dem blutigen Schauspiel zu. Einen Augenblick fanden sich ihre Augen, aber das Gesicht der Indianerin, das glänzend bemalt war, blieb unbeweglich.

Endlich war auch der letzte Gefangene den Speeren erlegen. Man schleifte die Leichen fort. Nur eine große Blutlache bezeichnete noch den Platz, wo über hundert unglückliche Untertanen des Zaque von Tunja unter den Speeren ihrer Feinde verröchelten. Die Guatavitaner aber freuten sich über die Köpfe, mit denen sie demnächst die Zäune ihrer Tempel schmücken würden.

Nun fiel Musik mit hartem Rhythmus ein. Zur Begleitung der Kürbisrasseln, der Blashörner und Pauken ertönte wilder Gesang. Der Waffentanz begann. Knaben eröffneten ihn. Die nackten Füße stampften den Boden. Sie stürmten aufeinander los, sie flohen einander, sie umkreisten sich. Die Zuschauer feuerten sie mit lautem Zuruf an. Die Speere klirrten, hart prasselten Keulenschläge auf die Schilfschilde. Allgemach wurde der Tanz zum Kampf. Schon floss da und dort Blut. Immer mehr Tänzer stürzten sich in das Getümmel, die erwachsenen Männer zuerst, dann auch Frauen, ja Mädchen. Hans sah mit Schrecken, wie mit einem wilden Schrei auch seine kleine Indianerfreundin sich unter die Tanzenden mischte. Irgendjemand hatte ihr eine kleine Keule und einen Schild in die Hand gedrückt. Sie tanzte zunächst für sich allein, die Keule im Rhythmus der Musik schwingend. Dann näherten sich ihr ein paar Jünglinge, umtanzten sie mit erhobenen Keulen und Speeren. Das Mädchen sprang vor, wich zurück. Es schien die Männer reizen, verhöhnen zu wollen. Ein Keulenhieb traf ihren winzigen Schild. Sie sank in die Knie – fiel. Haarscharf ging der Keulenschwung ihres Überwinders über ihren Kopf. Im nächsten Augenblick stand sie wieder auf den Füßen. Ihr Gewand war schmutzbedeckt. Tanzend entschwand sie Hans Hauser aus den Augen.

Es dunkelte schon, als der Tanz zu Ende ging. Mächtige Holzstöße flammten auf und beleuchteten die schwarzen Scharen der Tänzer, die sich erschöpft auf den Boden warfen und gierig Chicha tranken. Plötzlich – die Nacht war mittlerweile völlig hereingebrochen – erhob sich lautes Jammergeheul. Eine Schar Maskierter erschien. Sie waren phantastisch mit Federn geschmückt und hatten Holzmasken vor dem Gesicht, die, zum Geheul ihrer Träger passend, vielfach mit Tränen bemalt waren. Die Maskierten begannen unter fortwährenden klagenden Anrufungen Suas, des Sonnengottes, einen langsamen, feierlichen Tanz. Allmählich mischten sich die Zuschauer unter die Tänzer. Immer lauter wurde der Gesang, immer schneller und wilder der Tanz. Schließlich wirbelten alle, Männer und Frauen, Jung und Alt, vom Rausch des Tanzes besessen auf dem weiten Platz umher, den die brennenden Holzstöße gespenstisch beleuchteten. Stundenlang und ohne Pause ging der Tanz. Wer erschöpft war, trat für eine Weile aus der Reihe und labte sich am berauschenden Festtrank. Ja, manche unterbrachen den Tanz nicht einmal, um zu trinken. Frauen und Mädchen sprangen mit wildem »Hai-hai-hai« in den Kreis der Tänzer und reichten ihnen Chicha in großen Kalebassen, die sie, immerfort tanzend, in gierigen Zügen leerten.

Die Freunde sahen gespannt auf das wilde Getümmel. Je toller der Rausch wurde, in den die Indianer der Tanz und der übermäßige Chichagenuss versetzte, um so höher stieg ihre Hoffnung, im Schutz der Dunkelheit entfliehen zu können. Doch die einfachste Klugheit riet zur Vorsicht. Ein nochmaliger missglückter Fluchtversuch – daran war nicht zu zweifeln – würde sie das Leben kosten.

Plötzlich stand Tochter des Schwälbchens vor Hans Hauser. Ihr Gewand war zerrissen und beschmutzt, die feuchten Haare hingen ihr wirr ins Gesicht. Sie fasste Hans am Arm und zog ihn, ehe er sich’s recht versah, in den Wirbel der Tanzenden. Er musste mittanzen, ob er wollte oder nicht. Zu seiner Linken tanzte Tochter des Schwälbchens, die ihm die rechte Hand auf die Schulter legte, zu seiner Rechten ein altes, stark betrunkenes Indianerweib, das die Ehre, neben einem weißen Mann zu tanzen, offenbar nicht mehr zu würdigen verstand. Hans hatte das Gefühl, dass die kleine Indianerin an seiner Seite ihn aus dem Lichtkreis der Holzstöße fortzuziehen versuchte. Unmerklich kamen sie so an das Ende der langen Reihe der Tänzer. Es war dort ganz dunkel und Hans mit seiner Tänzerin allein.

Plötzlich warf sich Tochter des Schwälbchens dem überraschten Hans an die Brust. »Hüte dich – hüte dich!«, flüsterte sie. »Heute Nacht …!«

»Was willst du, Tochter des Schwälbchens?«, fragte Hans verwirrt.

Da, wie aus der Erde gewachsen, stand der Herr des Donners vor ihnen. Dieses Mal misshandelte er seine Ziehtochter und künftige Gattin. Er packte sie an ihrem dichten blauschwarzen Schopf und warf sie zu Boden. Doch im gleichen Augenblick fuhr ihm Hansens Faust unter das Kinn, dass er betäubt zusammensank.

Sekundenlang starrte die Indianerin entsetzt auf den leblos am Boden Liegenden. Dann schrie sie auf: »Rette dich, o Jüngling des Maises, rette dich!«

Blitzartig kam Hans Hauser zum Bewusstsein, was er mit diesem Faustschlag angerichtet hatte. Ohne sich noch einmal nach der Indianerin umzusehen, stürmte er zurück über das Tanzfeld zu den Gefährten, die schon voll Unruhe nach ihm Ausschau hielten.

»Wir müssen fliehen«, keuchte er, »sofort fliehen!«

Fabricius hielt den Augenblick, die Flucht zu wagen, keineswegs für günstig. In der Hoffnung, dass Rausch und Müdigkeit die Indianer immer mehr überwältigen würden, hätte er lieber noch gewartet. Doch der Ausdruck in Hans’ Gesicht erschreckte ihn so, dass er nicht zu widersprechen wagte. Sie schlichen sich vom Festplatz weg, zuerst die Deutschen, dann der Xidehara. Sie durften nicht laufen, um kein Aufsehen zu erregen. Ungehindert erreichten sie die Straße, die in die Stadt führte. Da wurde Geschrei hinter ihnen laut. Sicher war ihre Flucht bemerkt worden. Sie begannen zu laufen. Von der Straße bogen sie in die Felder ab. Es waren Kartoffel- und Hirsefelder. Unwillkürlich nahmen sie die Richtung zum Paramo. Wie lange war es her, dass sie dort oben in die Hände der Chibcha fielen? Ach, wenn sie sich in den Schluchten der wilden Kordilleren verbergen könnten! Doch das Land war flach, flach wie ein Teller. Und der Mond – war er mit den verdammten Heiden im Bund? Es war Vollmond. In seinem Schein mussten die Verfolger die schwarzen Gestalten sehen, die über die Felder rannten. Kein Baum, kein Strauch war da, hinter dem sie sich verstecken, keine Mulde, in der sie sich verbergen konnten. Sie liefen hintereinander: zuerst der Xidehara, dann Hans Hauser, Fabricius und am Ende Kressel. Der Hesse blieb mehr und mehr zurück. Fabricius sah sich nach ihm um. »Wir müssen auf Kressel warten«, schrie er dem vor ihm laufenden Hans zu. Die beiden blieben stehen. Die Ungeduld verzehrte sie. Diese Sekunden konnten über ihr Schicksal entscheiden. Endlich war Kressel heran, aber sein Atem ging keuchend. Einen Augenblick musste er verschnaufen. Da hörten sie hinter sich das Geschrei der Verfolger, es kam näher, immer näher. Aufgehetzt stürzten sie weiter, aber Kressel blieb immer wieder zurück. Die beiden anderen warteten, verzehrt von Ungeduld, verzweifelt. Sie gingen schließlich, das Geschrei der Verfolger in den Ohren, eine ganze Weile ruhigen Schrittes neben dem Keuchenden und versuchten, ihn dann wieder ein Stück mit sich fortzureißen. Umsonst! Es war alles vergebens. Der Abstand zwischen den Flüchtenden und den Verfolgern verringerte sich immer mehr. Dann hatten die Guechas sie erreicht.

Von einem Keulenhieb gestreift, brach Kressel mit einer stark blutenden Kopfwunde zusammen. Auch Zischende Viper wurde verwundet. Die Guechas erhoben ein wildes Jubelgeschrei. Im Nu waren alle vier gepackt. Im Triumph wurden sie auf den Festplatz zurückgeschleppt.

Im Morgengrauen bewegte sich ein riesiger Zug zurück zur Stadt. Die Sänfte, in welcher der Kazike müde und berauscht schlief, schwankte auf den Schultern der Träger voran. Es folgen die Chiqui, dann, von Windhose geführt, die Guechas. Sie führen in ihrer Mitte, aneinander gefesselt, die Gefangenen. Hans Hauser und Fabricius waren totenbleich. Kressel rann das Blut in dünnen Bächen über das Gesicht, der Xidehara blutete aus einer tiefen Wunde im Rücken. Ein wilder, wüster Haufen von Männern, Frauen und Kindern machte den Schluss. Alle waren betrunken, einige lallten blöde vor sich hin, andere heulten wie Tiere oder sie schluchzten jämmerlich. Auf allen Gesichtern aber hatten die Leidenschaften der Nacht tiefe Spuren hinterlassen.

Unter den Frauen wankte Tochter des Schwälbchens. Von den Tränen, die ihr fortwährend über die Wangen liefen, war ihr schmutziges, bemaltes Gesicht ganz streifig geworden. Auch sie war ein wenig betrunken und halbtot vor Müdigkeit und Angst. Ach, wie würde sie daheim in der Hütte des Oberpriesters empfangen werden?

Welche Strafe würde der rachsüchtige Priester sich ausdenken, sie zu züchtigen? Arme kleine Indianerin!