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Oliver Henkel – Wechselwelten

Oliver-Henkel-WechselweltenOliver Henkel
Wechselwelten

Kurzgeschichten, Science Fiction, Paperback, Atlantis Verlag, Stolberg, Juni 2014, ca. 166 Seiten, 11,90 Euro, ISBN: 9783864021060, Titelbild und Umschlaggestaltung: Timo Kümmel
atlantisverlag.wordpress

Vor Zeugen tue ich hiermit kund und zu wissen, dass ihr, Herr Christoph Columbus, entsprechend den Bedingungen unseres Vertrags von Stund an berechtigt seid, des eigens für Euch erschaffenen erblichen Rang eines Großkapitäns der Deutschen Hanse zu führen. Item, dass die Stadt Lübeck euch den Adelsbrief eines Grafen zu Mölln nebst Wappen beim Kaiser erwerben wird. Item, dass alle sonstigen vertraglich festgelegten Bedingungen und Privilegien mit sofortiger Wirkung in Kraft treten.

(Aus: Der Adler ist gelandet)

Ein neunter Oktober

Leipzig 1989, unaufhaltsam bewegen sich die Demonstranten auf die Linie der Volkspolizisten zu, die die Aufgabe haben, diese Aufwiegler gegen die DDR aufzuhalten. Da ergeht der Befehl, dass die Staatsdiener beim kleinsten Zeichen von Widerstand ohne Vorwarnung von den Waffen Gebrauch machen sollen.

Der Adler ist gelandet

Andalusien 1491, kurz vor seiner Audienz bei Königin Isabella von Spanien kommt der Genuese Cristoforo Colombo mit dem Lübecker Kaufmann Hinrich Staacke ins Gespräch, dessen Ohren mehr als offen sind für die Pläne des Italieners. Vor allem, sobald er von den Reichtümern Asiens hört, von denen schon Marco Polo berichtete.

… auf dass er die Menschen erlöse

Der gesuchte Jesus von Nazareth befindet sich mit seinen Jüngern nach dem gemeinsamen Abendmahl auf dem Weg nach Gethsemane. Doch einer seiner Gefolgsleute fehlt bei dem Marsch. Judas Ischariot spricht stattdessen bei Hohepriester Kaiphas vor, um seinen Rabbi zu verraten. Als es zur Verurteilung des »Königs der Juden« kommen soll, tritt ein römischer Zenturio vor, dessen kranken Sohn Jesus einige Wochen zuvor geheilt hat und erwirkt mit seinen Worten eine unvorhersehbare Wendung des Verfahrens.

Kalifornia Dreaming

Mit einem offiziellen Brief bedankt sich Joseph Goebbels bei Walt Disney für eine Vorabführung in dessen Vergnügungspark. Der Staatsmann ist überwältigt vom wirkungsvollen Einsatz der erzwungene Perspektive, mit dem sich Gebäude optisch erheblich vergrößern lassen, wie auch von der populären Umsetzung, die die deutschen Märchen hier in Florida erfahren. Einem Besuch des Führers persönlich steht somit nichts im Wege.

Mr. Lincoln fährt nach Washington

Die Anti Slavery League bittet den jungen Anwalt Abraham Lincoln um seinen Beistand. Der Sklave Jefferson Hope floh vor seinem Besitzer in Georgia und konnte sich auf preußisches Gebiet in South Carolina retten. Grundsätzlich liefert Preußen entflohene Sklaven nicht an ihre ehemaligen Besitzer aus, doch der Anwalt des Staates Georgia, dem Lincoln nun gegenübersteht, hat verkündet, eine völlig neue Taktik vor Gericht anwenden zu wollen, die Preußen geradezu dazu zwingt, dieser und allen zukünftigen Auslieferungen zuzustimmen.

Die Unsterblichkeit des Harold Strait

Professor Dr. John D. Wagner von der Universität von Ohio ist es gelungen, Menschen durch die Zeit zu schicken, wo sie jeweils einige Stunden in den Körpern zeitgenössischer Personen verbringen, bevor sie zurückkehren. Einer seiner zeitreisenden Studenten, Rodney, hat sich sogar den Spaß erlaubt, während seines Aufenthalts in der Vergangenheit die Kürzel der Uni in eine Statue zu ritzen, die heute auf dem Unigelände steht. Ein harmloser Spaß, der seine Kommilitonin Kate über die Maßen beeindruckt. Harold Strait, der zweite Zeitreisende in Wagners Team fühlt sich herausgefordert, Rodney zu übertrumpfen und seinen Namen in den Geschichtsbüchern verewigen zu lassen. Mit unvorhersehbaren Folgen.

Aus den Symposien des Nikandros von Athen

Dialog XIV, auch bekannt als »Zweites Gastmahl des Sophronios«

Wenige Wochen vor seinem 33. Geburtstag wird Alexander der Große von einer schweren Krankheit an sein Lager gefesselt. Viele sehen darin eine göttliche Warnung, seine Eroberungswut zu bremsen. Doch Alexander sieht nicht, warum sich die Götter, die ihm bisher ihre Gunst gezeigt hatten, plötzlich gegen ihn stellen sollten. Stattdessen nutzt er die Zeit seiner Krankheit, sich auf weitere Eroberungen vorzubereiten. Er richtet seinen Blick nach Westen, um sein Reich in diese Richtung weiter auszudehnen.

Do you speak English?

Während seines Besuches im Gau Karolina ist Adolf Hitler und sein Übersetzer Siegfried Heldt entsetzt über die Präsenz der Neger im öffentlichen Stadtbild. Offenbar ist hier zukünftig noch viel zu tun. Doch zuvor plant Hitler ein geheimes Treffen mit Al Capone, der einige Männer der deutschen Truppen als Sicherheitspersonal für ein geplantes Kasino außerhalb des amerikanischen Hoheitsgebietes einsetzen möchte. Mit Gewinnbeteiligung versteht sich. Heldt jedoch ist während seiner privaten Stunden in der Stadt, einer Frau näher gekommen, die sowohl jüdische als auch schwarze Vorfahren in der Familie hat. So ist der Übersetzer gezwungen, eine Entscheidung zu treffen. Nun liegt es in seiner Hand, welchen Ausgang das Treffen des Führers und des Mafiabosses nimmt.

Nach wenigen Minuten erreichte Lincoln den Prinzenplatz im Zentrum der Stadt. Der Name kam von einem überlebensgroßen Reiterstandbild des Prinzen Heinrich, dem das Königreich Preußen den Besitz South Carolinas ebenso sehr zu verdanken hatte, wie seinem Bruder Friedrich dem Großen, wenn nicht noch mehr.

(Aus: Mr. Lincoln fährt nach Washington)

Der Stolberger Atlantis Verlag hat sich in den letzten Jahren als lohnende Anlaufstelle für Fans nicht braun gefärbter Alternativweltgeschichten empfohlen. Während das Genre in Deutschland, ähnlich wie der verwandte Steampunk, in der allgemeinen Leserwahrnehmung immer noch ein Nischendasein führt, veröffentlicht Guido Latz davon unbeeindruckt sowohl Einzelromane wie Oliver Henkels Die Fahrt des Leviathan, Kaisertag, Die Zeitmaschine Karls des Großen, Heinz Zwacks Nebenweit oder auch Dirk van den Booms Zeitreise-Serie Kaiserkrieger (Teil 10 ist im Frühjahr 2016 erschienen), die man ebenfalls zum Genre zählen kann. Das spricht dafür, dass es offenbar doch ausreichend Anhänger des Genres gibt und der Verleger auf eine treue Stammkäuferschaft zählen kann.

Mit Wechselwelten liegt eine Kurzgeschichtensammlung von Oliver Henkel vor, die insgesamt acht Ideen und Szenarien alternativer Realitäten beinhaltet. Nun bleibt in der Kurzgeschichte naturgemäß wenig Gelegenheit, den Leser über die Protagonisten einzufangen, sodass sich der Autor zum größten Teil auf den Aha-Effekt verlassen muss, den die geschilderten Abweichungen von der historisch verbürgten Zeitlinie beim Leser auslösen. Und um diese vollständig zu erfassen, sollte der Leser schon über eine ordentliche Portion (historische) Allgemeinbildung verfügen, ansonsten verpufft dieser Effekt wirkungslos. Frei ist der Autor jedoch darin, in welche Richtung er seine Geschichten auf der Spielwiese historischer Möglichkeiten lenkt. Er kann dem aufgeklärten Leser einen Schock verpassten, wenn er die »Friedliche Revolution« in Leipzig in einem Blutbad enden lässt (Ein neunter Oktober) oder zum Schmunzeln anregen, indem er Christoph Kolumbus zu einem frühen Werkzeug der Globalisierung (Der Adler ist gelandet) macht. Beides funktioniert.

Auch formal bietet Oliver Henkel einiges an Abwechslung. Während der Eröffnungsbeitrag Ein neunter Oktober in seiner Kürze als Fingerübung gelesen werden kann, sind Beiträge wie Do you speak English? und Mr. Lincoln fährt nach Washington hinreichend ausgearbeitet, um als »vollwertige« Kurzgeschichte gelten zu dürfen. Kalifornia Dreaming besteht nur aus einem kurzen Brief und Aus den Symposien des Nikandros von Athen »lediglich« aus dem Dialog zweier weiser Männer, die die Geschichte Alexanders des Großen nacherzählen.

Mit Die Unsterblichkeit des Harol Strait ist auch eine ganz besondere Variation der Alternativweltgeschichten enthalten, nämlich die, in der die ursprüngliche und eine veränderte Realität vorkommen. Meist, auch hier wird die Umgestaltung der Geschichte durch eine Reise in die Vergangenheit ausgelöst, die eine veränderte Zeitlinie nach sich zieht, siehe Ray Bradburys berühmte Kurzgeschichte Ferner Donner/Ein Donnerschlag (A Sound of Thunder) oder Filme wie Zurück in die Zukunft und The Butterfly Effect (der Titel bezieht sich wiederum auf Bradburys Geschichte).

Das brillante Covermotiv von Timo Kümmel kann sinnbildhaft für den Begriff »Alternative Geschichte« stehen, sieht es doch so aus, als würden zwei an ihrer Basis zusammengefügte und nur in Kleinigkeiten der Bauweise voneinander abweichende Gebäude, von der immensen Kraft eines Raketenstarts auseinander gedrückt.

Fazit:
Gelungene und abwechslungsreiche Sammlung kurzer Alternativweltgeschichten, die jedoch ein gewisses Maß an allgemeiner Vorbildung erfordert. Sehr gut als Einstieg in das Genre geeignet.

(eh)