Ausschreibung
Sternenlicht-Anthologie

Download-Tipp
Band 6

Heftroman der Woche

Archive
Folgt uns auch auf

Gold – Kapitel 2

Gold-Band-1Friedrich Gerstäcker
Gold
Ein kalifornisches Lebensbild aus dem Jahre 1849
Kapitel 2
Das goldene Tor

Sonnenlicht und klar brach der nächste Morgen an. Kaum aber warf der erste Dämmerschein seinen matt grauen Strahl über die ruhig wogende See, als das Deck der Leontine schon von Passagieren wimmelte, denn »da liegt das Land! Dort liegt Kalifonium (wie es die Leute wunderbarerweise nannten), schoss wie ein Lauffeuer durch das ganze Zwischendeck.

Der Kapitän hatte nämlich die erste Hälfte der Nacht vom Land so viel wie möglich abgehalten. Nach acht Glasen aber (um Mitternacht) ließ er die oberen Segel einnehmen, nicht zu viel Fortgang zu machen, und segelte gerade wieder auf die Küste los, mit vollem Tag derselben nahe zu sein. Bei dem ruhigen Wetter hatte er auch nichts für sein Schiff zu fürchten, und lag mit anbrechendem Morgen kaum zwei englische Meilen von der Küste entfernt, die er jetzt, die Brandung voll und deutlich in Sicht, nach Norden auflief.

Acht verschiedene andere Fahrzeuge konnten sie dabei um sich her zählen. Einige noch weiter südlich, andere oben mehr nach Norden, und einzelne noch weit draußen in See, die Küste jetzt ebenfalls anlaufend, und keines von diesen schien mehr von der Einfahrt zu wissen wie sie selber.

»Hallo!«, schrie da plötzlich der Obersteuermann, der oben in die Marsen gestiegen war, um einen besseren Überblick zu gewinnen, und deutete mit dem Arm hinüber zu der schroffen Felsenküste. »Was ist das da drüben?«

»Ein Segel, so wahr ich lebe, das gerade aus den Felsen herauskommt«, rief der Seemann fröhlich zurück. »Dort muss die Einfahrt sein. Sehen Sie da drüben den flachen Felsenkegel, Kapitän, mit scharf ausgezackter Wand daneben?«

»Wo?«, rief der Kapitän, der mit dem Fernglas in der Hand auf dem Quarterdeck stand, indem er das Teleskop auszog und hinüber richtete. »Was gibt es dort?«

»Ich hab’s!«, rief der Kapitän zurück, und der Steuermann ergriff eine der ihm nächsten Pardunen, an der er blitzschnell an Deck hinunterglitt. Aber langes Schauen war nicht mehr nötig. Der Kapitän hatte mit seinem guten Fernrohr bald die schmale Felsschlucht ausgemittelt, aus der heraus gerade jetzt das helle Segel sichtbar wurde. Im Nu flogen die Rahen herum und strebte der eigene Bug der ersehnten und lang gesuchten Einfahrt entgegen.

Kaum weniger aufmerksam waren aber die übrigen Fahrzeuge gewesen, denn als sie nur die veränderte Richtung der Leontine sahen, die nicht ohne Grund so gerade auf die schroffe Felsenküste lossteuern konnte, änderten sie sämtlich ihren Kurs. Vielleicht hatten sie dabei ebenfalls das kleine Segel bemerkt. Sie mussten aber jedenfalls dort die Einfahrt vermuten und hatten sich auch in der Tat nicht geirrt. Je näher sie der Küste kamen, desto deutlicher erkannten sie, dass sich dort die schroffen Felsen voneinander trennten, und einen schmalen, kanalartigen Eingang bildeten. Gerade in dem Augenblick kam noch eine amerikanische Brigg heraus, und sie wussten nun, dass sie wirklich vor dem sogenannten gate oder goldenen Tor Kaliforniens lagen.

Das war ein Jubel an Bord, als sich die Passagiere plötzlich ihrem Ziel so nahe sahen. Alles drängte nach vorn, das so lang ersehnte Ufer endlich begrüßen zu können, oder doch wenigstens zu den hohen und kahlen Felsen empor zu starren, die rechts und links die Einfahrt bezeichneten.

Zwischen den Passagieren hindurch aber, die überall im Weg standen, schoben und pressten die Matrosen fluchend und wetternd, und wo dies nicht genügte, auch wohl ohne besondere Umstände die Fäuste gebrauchend, bis sie sich Raum für ihre notwendigsten Arbeiten erzwangen.

Jetzt, wie mit einem Zauberschlag, klafften die beiden schroffen Felsenwände zurück, während das Schiff, von Wind und Flut begünstigt, rasch durch die enge Straße schoss. Weit voraus öffnete sich das herrliche, großartige Wasserbecken der Bay von San Francisco, an dessen rechter Seite, nur noch von einer vorspringenden Landzunge geschützt, sie schon den Mastenwald der dort ankernden Schiffe erkennen konnten.

Das war ein Drängen und Fragen, und Jubeln und Laufen an Bord, denn wunderbar rasch entfaltete sich mehr und mehr das eigentümliche Leben der Bay vor ihren Augen. Aber zum Antworten hatte niemand Zeit oder Luft. Jeder wollte nur sehen, genießen, und achtete schon des Gegenwärtigen nicht mehr, denn gerade voraus enthüllte sich mit jeder Schiffslänge mehr das eigentliche Ziel der langen Fahrt, die Hauptstadt ihrer goldenen Träume: San Francisco.

Noch hatten sie erst einzelne zerstreute Häuser und Zelte auf den dort nächsten Hängen erkannt. Plötzlich aber, die Spitze der Landzunge umfahrend, lag die wunderlichste Stadt der Erde in ihrer ganzen Ausdehnung, vorn von Hunderten von abgetakelten Schiffen, im Hintergrund von kahlen Bergen umschlossen, vor ihnen da. Der eigene niederrasselnde Anker – die herrlichste Musik nach so langer Fahrt – brachte sie auch erst wieder zu sich selber und kündete den Passagieren, dass ihr passives Leben, dem sie sich fast ein halbes Jahr gezwungen hingegeben hatten, nun einem tätigen, selbstständigen Raum machen müsse.

Der Anker fasste – das Hinterteil ihres Schiffes schwang herum, den Bug der Einfahrt wieder zugekehrt, und zu gleicher Zeit fielen die Rahen, flatterten die gelösten Segel und kletterten die Matrosen nach oben, die, in der scharfen Brise auswehende Leinwand fest zu beschlagen.

Das Manöver aber, das zu jeder anderen Zeit die Aufmerksamkeit der Passagiere gefesselt haben würde, blieb in diesem Augenblick von ihnen vollkommen unbeachtet. Da draußen war mehr zu sehen, als ihnen ihr eigenes Schiff und dessen Mannschaft bieten konnten. Wer von ihnen gerade nicht damit beschäftigt war, sein eigenes Gepäck zusammenzuraffen, hing gewiss an der Schanzkleidung und schaute zu dem lärmenden Leben und Treiben der Bay hinüber.

Dicht neben der Leontine, das heißt vielleicht zweihundert Schritte davon entfernt, lag eine Bremer Barke, die gleichfalls eben, oder doch vor ganz kurzer Zeit angekommen schien. Sie hatte bereits ein flachbordiges Boot längsseits, in das die Seeleute die Güter der Passagiere hinabließen. Das Lichterfahrzeug war auch geräumig genug, eine ziemlich schwere Last und eine Anzahl von Menschen zu fassen. Kisten und Kästen, Ballen, Fässer, Koffer und Hutschachteln standen schon in Masse darin verstaut, und die wunderlichste menschliche Fracht hütete überdies dabei ihr Eigentum und wartete auf den Moment des Abstoßens.

Fast alle waren bis an die Zähne bewaffnet, mit Flinten, Pistolen, Säbeln und Dolchen. Ganze Bündel Spaten, Spitzhacken und Brecheisen lagen ebenfalls in dem Boot aufgeschichtet. Ein paar matrosenähnliche Burschen mit roten chinesischen Schärpen und Strohhüten auf – aber ohne Dolche und Pistolen – schienen die Führer des kalifornischen Bootes zu sein.

»Alle an Bord?«, rief jetzt der Steuermann der Bremer Barke vom Deck hinunter.

»Alle – Gott sei Dank, dass wir Euer nichtsnutziges Schiff hinter uns haben!«, schrie einer der Passagiere.

»Ihr werdet noch froh sein, wenn Ihr hier trocken Brot zu kauen habt!«, rief da der Kapitän von seinem Quarterdeck aus.

»Und das wird uns gut schmecken, wenn wir Eure Fratze nicht mehr dabei anzusehen haben, Kapitän Meier«, lautete die wenig schmeichelhafte Antwort.

»Werft die Falle da los!«, tönte der Ruf des Steuermanns über Deck.

»Na, was heißt das?

Was schleppt ihr das Boot noch weiter nach vorn? Hinunter mit den Tauen!«

»Jawoll, Stürmann!«, rief lachend einer der Matrosen. »Alles in Ordnung! Soll gleich besorgt sein!«

»Halt! Was werft ihr da noch hinunter?« schrie der Steuermann plötzlich, als sechs oder acht weißleinene, festgeschnürte Säcke in das Boot hinabflogen. »Was ist das? Was geht da vor?«

»Nichts, mein Herzchen, nur unsere Garderobe«, lautete die Antwort des Matrosen zurück, und wie Katzen folgten ebenso viele der Seeleute ihrem vorangegangenen Eigentum in das Boot.

»Halt – Donnerwetter, das wird zu viel!«, riefen die beiden Eigentümer erschreckt. »Wir sinken!«

»Gott bewahre – Kameraden – stoßt ab! Ahoi!« Sich mit bestem Willen gegen die Seite ihres eigenen Schiffes legend, schoben sie das vierkantige Frachtfahrzeug ein Stück ab und in offenes Wasser hinaus.

»Ihr dürft nicht abstoßen! Bleibt hier! Halt! Meine Jolle hinunter!«, schrie und tobte der Kapitän auf seinem Deck herum, denn diese kecke Flucht der eigenen Leute, gerade unter seinen Augen, war ihm doch außer dem Spaß. Die Bootführer kehrten sich aber entsetzlich wenig an seine Ausrufungen. Erstens bekamen sie von jedem Kopf, den sie mehr hinüberbrachten, einen Dollar extra, und dann waren es ebenfalls weggelaufene Matrosen, die andere Kameraden nicht so leicht im Stich ließen. Freilich führten sie nur zwei Ruder, und das Boot ging so schwer im Wasser, dass sie entsetzlich langsam damit fortrücken konnten, aber das Land war auch nicht weit entfernt. Das erst einmal erreicht, und alle Kapitäne der Bay hätten sie nicht wiederholen können.

Kapitän Meier gedachte indessen nicht, sie bis an Land zu lassen, und hoffte noch immer genug von seiner Autorität über die Leute, sie vorher zurück und aus dem Boot zu holen.

Rasch sank die schon bereit gehaltene Jolle aufs Wasser nieder, und mit seinen beiden Steuerleuten sowie dem Zimmermann und Koch, setzte er den Flüchtigen nach, die er auch bald eingeholt hatte. Das viereckige kastenartige Fahrzeug war gerade vor dem Bug der Leontine vorübergefahren, und zwar so dicht, dass das eine Ruder die angespannte Ankerkette streifte, als die leichtgebaute Jolle heranschoss und der Kapitän seine Leute barsch herüber und zu sich an Bord beorderte. Sein Empfang dort lautete aber nicht ermunternd.

»Komm herüber und hol uns, mein Schatz!«, riefen ihm die Matrosen höhnend zu, während die Passagiere ihren bisherigen Schiffsführer mit Schmähungen überhäuften. Alle nur erdenklichen Schimpfwörter wurden gegen ihn geschleudert, und selbst dabei blieb es nicht, denn Stücken Zwieback flogen gegen ihn an, und mit den Blechbechern schöpften einige Wasser und gossen es nach ihm.

Mit Gewalt war da nichts auszurichten, soviel sah Kapitän Meier endlich ein. Den Bug seines Bootes herumwerfend, hielt er, so rasch er konnte, der nächsten Landung zu, wahrscheinlich, gerichtliche Hilfe in Anspruch zu nehmen. War das übrigens seine Absicht gewesen, so kam er damit zu spät, denn das Lichterboot gelangte bald darauf an eine Stelle, wo es die Matrosen bequem an Land setzen konnte. Diese schulterten dort ihre Säcke, zahlten ihr Überfahrtsgeld und waren im nächsten Augenblick in dem Gewühl am Ufer verschwunden, während das Boot langsam dem gewöhnlichen Landungsplatz entgegen ruderte.

Der Kapitän der Leontine schien einmal nicht übel Lust zu haben, seinem Kollegen zu Hilfe zu eilen, besann sich aber doch wieder eines Besseren und mischte sich nicht in fremde Händel, deren günstiges Resultat immer nur höchst zweifelhaft geblieben wäre.

Die Passagiere und besonders die Matrosen hatten übrigens dieser Szene mit außerordentlichem Interesse zugeschaut, und wie auf gemeinschaftliche Verabredung stockten, solange sie dauerte, alle Arbeiten.

Der Kapitän selbst vergaß ganz, dass sich die eigenen Leute doch am Ende ein Beispiel daran nehmen könnten. Erst als die Deserteure an Land und jubelnd den Abhang hinaufsprangen, rief er seine Mannschaft mit lauter und barscher Stimme an ihre Arbeit zurück.

Dadurch wurden die Passagiere aber ebenfalls gemahnt, dass sie ihre Zeit nutzlos vergeudeten. Dort drüben lag Kalifornien, und alles drängte und schrie durcheinander nach einem Boot, das Schiff so rasch als möglich zu verlassen.

So sehr sich nun die Auswanderer bei ihrer Landung in Nordamerika oder Australien scheuen, das Schiff gleich die ersten Tage zu verlassen, weil sie doch gern erst einmal rekognoszieren und den Boden kennenlernen wollen, auf dem sie ihre neue Heimat gründen sollen. So rücksichtslos suchte hier alles nur Land – nur Boden zu gewinnen, dem man eben mit Spaten und Spitzhacke beikommen konnte.

Dass dort Gold lag, verstand sich von selbst.

In diesem nach Außendrängen der Masse konnte sich aber der Einzelne natürlich nicht um den Einzelnen bekümmern. So geschah es denn auch, dass die Frau Siebert, der man bis dahin jede Freundlichkeit erwiesen hatte, unbeachtet und allein mit ihren drei Kindern an Deck stand und mit klopfendem Herzen über die Bay hinausschaute, auf der sie jeden Augenblick das nahende Boot ihres Gatten erwartete.

Das vor Anker gegangene Schiff zeigte schon lange die Hamburger Flagge. Er wusste, dass sie mit einem solchen in dieser Zeit eintreffen musste, und hatte gewiss schon wochenlang auf sie und die Kinder gehofft – ja, ohnedies auch in seinem Brief fest versprochen, sie gleich von Bord abzuholen, – und doch kam er nicht.

Nur der alte Assessor Möhler war bei ihr geblieben. Einmal fürchtete er, dass das Jüngste, in der Aufregung der Mutter und bei der allgemeinen Verwirrung, vielleicht doch am Ende zu Schaden kommen könne, und dann sagte ihm auch wohl ein unbestimmtes, eben nicht ermutigendes Gefühl, dass er immer noch früh genug jenes fabelhafte Land betreten würde. So, indem er Schutz gab, suchte er auch wieder zugleich Schutz unter den Fittichen der Frau, und glaubte die Bekanntschaft des reichen Kaliforniers unter keinen besseren Umständen machen zu können, als dass er ihm die gewiss sehnlichst erwartete Familie gesund und wohl überliefere.

Eine Menge kleiner Boote kreuzten herüber und hinüber zwischen den verschiedenen Schiffen und dem Land – oft dicht an ihrem eigenen Fahrzeug vorüber. Angerufen schüttelten die Rudernden aber stets mit dem Kopf oder antworteten auch gar nicht. Sie hatten irgendein anderes Ziel. Was kümmerten sie die Neuankommenden, denen Schiff auf Schiff folgte.

Nur ein paar leere Booten von einzelnen Männern gerudert, legten längsseits, Passagiere mit hinüber zu nehmen. Es waren Amerikaner, die mit ihren eigenen Booten auf solche Art ihren Lebensunterhalt verdienten. Die Passagiere wunderten sich darüber, solche Leute hier noch zu finde. Warum waren die nicht oben in den Minen und gruben Gold?

Mr. Hetson, der, seit sie die Einfahrt des goldenen Tores passierten, das Deck noch keinen Augenblick verlassen hatte, rief eines dieser Boote an und mietete es zu einem enormen Preis für sich, seine Frau und sein Gepäck. Andere wurden von den übrigen Kajütpassagieren in Beschlag genommen. Mehrere Stunden mochten vergangen sein, ehe dasselbe viereckige und kastenähnliche Fahrzeug, das früher von der Bremer Barke den Matrosen zur Flucht verholfen hatte, wieder zwischen den Schiffen sichtbar wurde und auf sie zuhielt.

Der Kapitän der Leontine war indessen schon lange mit seiner eigenen Jolle an Land gefahren, und der Steuermann wollte das gut gemerkte Fahrzeug nicht an seinen Bord legen lassen. Die Passagiere aber, denen das Deck unter den Füßen brannte, sammelten sich in Masse gegen den Seemann und drohten ihn über Bord zu werfen, wenn er ihnen verbieten wolle, das Schiff zu verlassen. Das Lichterfahrzeug nahm übrigens nicht die geringste Notiz von den drohend hinübergerufenen Worten des Offiziers. Einzelne der Passagiere, während sich die Matrosen vollkommen untätig dabei verhielten, warfen ihnen dabei ein Tau hinunter, und alle, die ihr Gepäck schon bereit hatten, reichten ihre Kisten und Kästen hinab, und sprangen nach, so rasch sie irgend konnten. Nur die Frau Siebert blieb teilnahmslos bei dem allem stehen und schien bloß Augen für die Ufer, bloß für die anfahrenden Boote zu haben, um wieder und immer wieder enttäuscht zu werden. Der alte Assessor aber redete ihr fortwährend Trost ein und bat sie, ja nicht ungeduldig zu werden. In dem Wirrwarr, der dort am Ufer zu herrschen schien, habe Herr Siebert recht gut die Ankunft ihres Schiffes übersehen können, oder wenn er darauf gewartet, so hätte er auch die übrige kleine Flotte, die ihnen gefolgt sei, bemerken müssen. Noch eine Hamburger und eine Bremer Flagge wehte von deren Masten, und es war sehr leicht möglich, dass er erst nach den beiden anderen deutschen Schiffen – leider den falschen – hinübergefahren sei, ehe er an Bord käme, seine Frau und Kinder hier zu finden.

Die Frau nickte schweigend mit dem Kopf. So zuversichtlich sie aber bisher aufgetreten war, ein so beengendes Gefühl hatte sich nun ihrer bemächtigt, denn gar so einsam, gar so verlassen kam sie sich in dem fremden Land vor. Sie wusste wohl recht gut, dass das nur auf ein paar Stunden sein konnte, aber sie hatte sich den Empfang doch anders gedacht und ausgemalt, hatte gehofft, dass ihr Mann noch an Bord springen würde, solange alle Passagiere versammelt wären, sie dann im Triumph an Land zu führen. Und jetzt?

Ein Boot nach dem andern glitt an ihnen vorüber, und keins von allen trug den so heiß Erwarteten.

Der Eigentümer des viereckigen Lichterbootes war mit an Bord gekommen, und lehnte an der Schanzkleidung, das Einladen seiner Fracht zu überwachen. Was an Bord übrigens vorging, schien ihn nicht im Geringsten zu interessieren, denn er hatte nur Augen für die, auf seinem Boot eingestauten Güter. Der Assessor stand kaum zwei Schritte von ihm entfernt, aber der Bootsmann drehte ihm den Rücken zu und überhörte auch ein paar, höflich und leise an ihn gerichtete Fragen des alten Mannes. Wer von ihm etwas erfahren wollte, musste laut sprechen.

»Heda Hans!«, rief er da plötzlich in deutscher Sprache dem einen der unten beschäftigten Leute zu.

»Donnerslag, pack nich alles dahinüber zu Stürbord. Du willst uns woll den Kasten umdrehn?«

»Aber die Passagiere …«, rief der Mann zurück.

»Die mögen sehn, wo sie Platz finden«, lautete die Antwort, »hier ‘über damit, Junge, wir können ja auch sonst das eine Ruder gar nicht führen.«

»Verzeihen Sie«, fasste sich der Assessor da ein Herz, als er den Mann deutsch sprechen hörte, indem er dem über Bord Gelehnten leicht und schüchtern auf die breiten Schultern klopfte.

»Ja?«, sagte der Seemann und drehte den Kopf nach ihm um.

»Kennen Sie einen gewissen Herrn Siebert hier in Kalifornien?« fragte der Assessor, fest entschlossen der fraglichen Sache ernst zu Leibe zu rücken. Die Frau horchte auf, als sie den Namen hörte.

»Ja, mein guter Mann«, antwortete aber der Bootseigentümer, seine Aufmerksamkeit wieder dem eigenen Fahrzeug zuwendend. »Kalifornien ist groß, und in dem mögen schon eine gute Portion Sieberts herumlaufen. Einen Gottlieb Siebert hab ich hier übrigens gekannt, wenn es der sein soll.« »Gottlieb heißt mein Mann!«, rief da die Frau, indem sie rasch auf den Bootsführer zutrat. »Kennt Ihr den, guter Freund, und ist er in San Francisco?«

»Hm«, sagte der Mann und drehte sich nach ihr um. »Ihr seid seine Frau? Ja, ich weiß, er hat sie von Deutschland erwartet.«

»Ist er in San Francisco?« bat die Frau.

»Wenigstens nicht weit davon«, murmelte der Deutsche leise vor sich hin, und spuckte seinen Tabaksaft über Bord. »Tut mir leid, Madame, den haben wir aber vorgestern begraben.«

»Begraben?«, schrie die Frau und fasste in Todesangst den Arm des Mannes , der ihr die furchtbare Kunde mitgeteilt hatte. Selbst der Assessor setzte das kleinste Kind, das er bis dahin auf dem Arm gehalten hatte, rasch an Deck nieder, denn er fürchtete, dass er es fallen ließe, so war ihm der Schreck in die Glieder gefahren. Der Deutsche nickte aber mit dem Kopfe und sagte: »Ja … tut mir leid, aber … erfahren hättet Ihr’s doch müssen, und so ist’s vielleicht besser, Ihr hört es gleich vom Anfang an. Er ist an einer Art Ruhr gestorben, und die Sache muss entsetzlich schnell gegangen sein, denn abends waren wir noch zusammen, und am anderen Morgen lag er tot in seinem Bett.«

Die Frau war in die Knie gesunken und barg das Gesicht in den Händen, und Einzelne der Passagiere drängten herbei, zu hören, was vorgefallen wäre.

»Siebert ist tot!«, ging da die Kunde von Mund zu Mund. »Na, das ist eine schöne Geschichte – die arme Frau, die sitzt jetzt da. Und was ist aus seinem Gold geworden?«

Der Deutsche zuckte die Achseln.

»S’ ist eine böse Wirtschaft hier in dem Kalifornien«, meinte er. »Es sollte mir lieb sein, wenn die Frau noch etwas davon vorfände, aber es sind schon zwei Tage her. Na, fragt da ‘nmal in Rergels deutschem Boardings Haus an – halt da, Hans – nimm nichts mehr ein – wir haben genug. Was jetzt nicht mit kann, muss bis zur nächsten Fuhre bleiben.

Hinunter mit Euch – Jeder Mutter Sohn, der an Land will. Wir stoßen jetzt ab, und wer nicht drin ist, bleibt zurück!«

Der Mann schwang sich dabei auf die Schanzkleidung und hinüber, und wollte eben nach unten gleiten, als der Assessor noch einmal seinen Arm ergriff.

»Wie hieß das Haus, das Sie uns nannten , in dem Herr Siebert gewohnt hat?«, fragte er rasch und ängstlich.

»Nergels Boarding Haus«, lautete die kurze Antwort. »In der Pacific Street.« Und im nächsten Augenblick war er unten bei seinen Leuten. Ihm nach drängten die Passagiere; die, die ihre Sachen schon unten hatten, um nicht zurückgelassen zu werden, die übrigen ein anderes, ähnliches Boot herbei zu winken, das gerade nicht weit von dort vorüberfuhr, und dem Ruf Folge leistete. Kreuzte es doch nur eben zu dem Zweck in der Bay umher, Passagiere und Güter von den frisch einlaufenden Schiffen an Land zu befördern.

Um die Frau bekümmerte sich niemand mehr, und wenn sie auch wohl, wie die Leute meinten, schlimm daran war, nun ohne Mann in Kalifornien dazusitzen, hatten sie doch zu viel mit sich selber zu tun, länger über eine Sache nachzudenken, an der sie doch nichts ändern konnten.

Nur der alte Assessor war zurückgeblieben. Als das zweite Lichterboot von Bord abstieß, kauerte die Frau noch immer mit in den Händen geborgenem Antlitz auf dem Deck, und der alte Mann stand neben ihr, hielt das Jüngste wieder auf dem Arm und zeigte ihm, mit selber blutendem Herzen, die bunte lebendige Bay, das rege, lustige Schaffen und Treiben da draußen, damit es nur nicht mehr so schreien sollte.