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Das Steppenross – Vorwort und Kapitel 1

Das-SteppenrossEduard Wagner
Das Steppenross
Eine Erzählung aus dem Jahr 1865 zu den Zeiten des amerikanisch-mexikanischen Krieges, nach dem Englischen des Kapitän Mayne Reid

Vorwort

Das vorliegende, für jugendliche Leser bestimmte Werk behandelt  höchst anziehende Züge aus dem Landschafts- und Völkerleben Mexikos, als die Vereinigten Staaten von Nordamerika Mexiko den Krieg erklärt hatten.

Es wird der seltsame Eroberungszug einer nordamerikanischen Guerilla erzählt, welcher den doppelten Zweck hatte, die Mexikaner zu unterjochen und die Unterjochten gegen die Indianer zu schützen.

Es muss dem Verfasser des nachfolgenden Werkes, dem berühmten  amerikanischen Schriftsteller, zugestanden werden, dass seinen Schilderungen eine frische Naturanschauung innewohnt, und dass selbst da, wo er von der Wirklichkeit abweicht, doch seine Einbildungskraft  nichts Unwahres geschaffen hat.

Wie alle Darstellungen, welche den amerikanischen Schauplätzen entnommen sind, enthalten auch diese hier mannigfache wilde Auftritte und Kriegsszenen, die wir am liebsten unseren jungen Lesern gegenüber gemildert hätten, wenn dies nicht auf Kosten der Wahrheit hätte geschehen müssen.

Den anziehendsten Teil des Werkes bildet aber die Jagd auf das weiße Steppenross. Es kann kaum etwas Spannenderes und Fesselnderes für die Jugend, namentlich für die Knaben geben. Was für eine Bedeutung für die männliche Jugend das Pferd überhaupt hat, das zeigte uns Goethe in Wilhelm Meisters Wanderjahren. In jener wunderbaren edlen Provinz, wo die Jugend erzogen wird, gilt die Pflege und Bändigung des Rosses für ein wichtiges Bildungsmittel. Auf welchen Knaben übte nicht das Pferd eine wunderbare Anziehung aus. Und nun vollends das weiße Ross der Steppe, jenes märchenhafte Tier, das in den Erzählungen der mexikanischen und texanischen Jäger und Trapper eine Hauptrolle spielt und welches die indianische Legende folgendermaßen schildert:

»Dies Ross hat unsichtbare Flügel, mit denen es über den Rasen und über den Sand dahineilt, ohne die geringste Spur davon zurückzulassen. Es altert nicht. Der Friedensfürst und die Alten unseres Stammes erinnern sich, es in ihrer Kindheit an der Spitze der wilden Herden gesehen zu haben, die es leitete, wie ein Anführer seine Krieger leitet. Unsere Wahrsager behaupten, dass es ein Geist, ein Manitu sei. Seine Gestalt ist unvergleichlich. Es schnaubt Feuer aus seinen Nüstern und erhellt die Nacht durch die blendende Weiße seines Felles, mit welcher der Schnee, der die Spitzen der Berge bedeckt, nicht wetteifern kann.«

An Unterhaltendem fehlt es also der nachfolgenden Erzählung gewiss nicht. Aber auch nicht an belehrendem Inhalt, und der Reichtum des Letzteren konnte durch mancherlei wissenschaftliche Einschaltungen um so leichter vermehrt werden, als die breite Darstellung des englischen Originals zweckmäßige Kürzungen notwendig machte.

Eduard Wagner

 

***

 

Kapitel 1
Die Gefangene

Wir befinden uns in einem mexikanischen Flecken am Ufer des Rio Bravo del Norte. Der ganze Ort besteht aus steinernen Wohnungen, welche platte, mit Ziegeln gedeckte Dächer haben. Jedes derartige platte Dach, die sogenannte Azotea, ist geschmackvoll angestrichen, mit einer Brustwehr von einer halben Männerhöhe umgeben und bildet den wesentlichen Teil der mexikanischen Architektur.

Auf dem Platz in der Mitte stand ein Trupp Männer, welche sich in einer fremden Sprache unterhielten und den Bewohnern ein Gegenstand des Schreckens waren. Doch bewiesen ihre Anzahl, ihr stolzes und kühnes Auftreten und der laute Ton ihrer Unterhaltung, dass diese seltsam aussehenden Burschen sich als die Herren des Grund und Bodens betrachteten. Jeder der Achtzig hatte eine Büchse in der Hand, einen Dolch im Gürtel und einen Revolver am Schenkel. Ihre Waffen deuteten auf eine gleichförmige Organisation. Im Übrigen waren sie sich in ihren verschiedenfarbigen Röcken aus grobem Tuch, mit ihren bunten Decken und Pelzmützen einander unähnlich. Die meisten dieser großen, kräftigen Burschen entstammten den Maispflanzungen von Kentucky, Tennessee und der fruchtbaren Ebene von Ohio in Indiana. Andere hatten ihre Heimat am weltlichen Abhang der Appalachen. Auch waren Schiffer des Mississippi, Pioniere aus Arkansas und Missouri, Trapper des Steppenlandes, des Seelandes, Pflanzer der Unterstaaten, französische Kreolen aus Louisiana und Ansiedler aus Texas darunter. Mit einem Wort: Es war ein Guerilla-Trupp der amerikanischen Armee. Dieses Korps, so rau es aussah, war doch voll Stolz und Ehrgefühl. Die meisten waren von dem Verlangen geführt, ein neues Gebiet der Freiheit auszubeuten, nur die Texaner mochten die Absicht haben, sich an ihren mexikanischen Nachbarn für manchen Mord oder manches blutige Gemetzel zu rächen. Der Krieg zwischen Mexikanern und Nordamerikanern war schon seit mehreren Monaten am unteren Teil des Flusses im Gange, doch war dies der erste amerikanische Trupp, der bis hierher drang, um die umliegende Gegend zu durchstreifen. Mit diesem Zweck war zugleich der andere verbunden: die Bewohner der besetzten Teile Mexikos vor dem indianischen Stamm der Comanchen zu schützen.

Die Leute hatten ihre Pferde hinter der Ringmauer der Kirche aufgestellt, teils an Bäume, teils an die Stangen der Fenster gebunden. Der Hauptmann stand auf dem platten Dach eines der Häuser und betrachtete mit einer gewissen Freude die runden Formen seines isabellfarbenen Pferdes, welches beim Brunnen in der Mitte des Platzes stand. Es ist Captain Warfield, den wir seine Abenteuer mit eigenen Worten erzählen lassen.

 

***

 

Ich dachte noch über den seltsamen Charakter dieses Krieges nach, als ich in meinen Gedanken durch den Schall von Hufschlägen gestört wurde, die sich von Weitem her außerhalb des Dorfes vernehmen ließen. Ich blickte über die Brustwehr und sah einen sehr jungen Mann ohne Bart einher galoppieren. Sein Gesicht war fast braun, seine Schulter mit einer scharlachroten Manga bedeckt, die hinten über die Schenkel seines Pferdes herabfiel. Er trug einen leichten, mit Schnüren und Goldbändern verzierten Hut, Sombrero genannt. Das Pferd war ein echter Andalusier, ein kleiner, schön geformter Mustang von Isabellfarbe mit dunkeln Flecken.

Als der Reiter sich genähert hatte, sprang ein Wache schiebender Jäger auf der anderen Seite des Dorfes aus seinem Versteck hervor und forderte ihn auf, zu halten. Diese Aufforderung hatte keinen Erfolg. Der Mustang wurde durch einen Ruck am Zügel herumgeschwenkt und setzte, von den Sporen abgetrieben, seinen Galopp fort, wobei er aber nicht auf die Straße zurückkehrte, sondern in einer rechtwinkligen Richtung dahinflog. Schon war man im Begriff, dem Reiter und dem Ross eine Büchsenkugel nachzusenden, als ich der Wache noch zu rechter Zeit zu feuern verbot. Mein Pferd stand am Wassertrog und trug noch Sattel und Zügel. Der schwarze Stallknecht, der meine Absicht erkannte, kam mir mit dem Ross auf halbem Weg entgegen. Ich ergriff die Zügel und schwang mich in den Sattel. Als ich im Heckenweg galoppierte, bemerkte ich, dass ein halbes Dutzend der schnellsten Jäger meinem Beispiel gefolgt war und hinter mir her ritt. Ich wusste jedoch, dass alle Pferde meines Trupps nicht so schnell waren, wie das meine, und da ich bei den Sprüngen des Mustangs seine Schnelligkeit bemerkt hatte, so schlussfolgerte ich, dass ich allein ihn einholen könnte, wenn er ebenso viel Ausdauer wie Schnelligkeit besäße. Der rote Reiter versuchte, um das Dorf zu kommen. Die Jagd ging über ein Maisfeld, und während der leichte Mustang wie ein Pfeil dahinflog, sank mein Pferd tief in die lockere Erde ein, und ich fürchtete schon, dass ich ihn aus den Augen verlieren würde. Plötzlich sah er seinen Lauf durch einen Zaun von 10 Fuß hohen Magueys unterbrochen, der dem Tier wie dem Reiter den Durchgang verwehrte. Der Mexikaner änderte die Richtung, um daran entlangzureiten. Als er aber bemerkte, dass ich ihn einzuholen drohte, wandte er sein Pferd wieder gegen die Pflanzenhecke, gab ihm die Sporen und stürzte sich geradezu hinein. Ich hörte die dichten Zweige unter den Hufen des Pferdes brechen, und in einem Augenblick waren Ross und Reiter meinen Blicken entschwunden.

Es blieb mir keine Zeit zum Überlegen, wenn ich folgen wollte. Die Jagd aufzugeben fiel mir nicht ein, denn meine Ehre stand gewissermaßen auf dem Spiel. Unbedenklich brauste ich mit dem Pferd durch die Hecke. Wir kamen zerrissen auf der anderen Seite wieder heraus und ich sah zu meiner Freude, dass der rote Reiter durch seinen Halt Zeit verloren hatte. Er kam jedoch wieder zügig vorwärts, als wir über ein zweites Feld von schwerem Boden galoppierten. Ein breiter Bewässerungsgraben blitzte vor uns. Anstatt zur Seite abzubiegen, führte der Mexikaner sein Pferd zu dem Graben und das edle Tier erhob sich und setzte über den Kanal. Voller Bewunderung galoppierte ich ebenfalls und machte mich zum Sprung bereit. Mein Pferd hatte das andere über den Kanal springen sehen und brauchte weder Peitsche noch Sporen. Es sprang mit einem einzigen Satz über den Graben und griff dann mit vorgestrecktem Kopf wie ein Rennpferd aus.

Wir bewegten uns in einer Savanne, einer weiten Rasenfläche, auf welcher man die Hufe beider Pferde laut schallen hörte. Ich war überzeugt, dass ich den Mustang einholen musste, wenn sich nicht ein neues Hindernis darböte. Dieses trat ein. Die Savanne war in ihrer ganzen Ausdehnung von einer zahlreichen Herde von Ochsen und Pferden bedeckt, welche durch den Galopp erschreckt, die Köpfe in die Höhe warfen und uns von allen Seiten in den Weg liefen, sodass ich mehrmals den Zügel anziehen musste, um mein Pferd vor einem Sturz zu bewahren. Der Mustang hatte durch Übung einen Vorteil, bewegte sich im Zickzack und kam mir weit voraus. Als wir endlich die Ebene hinter uns hatten, sah ich zu meinem Ärger vor mir einen Hügel, auf welchem sich eine mexikanische Sommerwohnung, eine sogenannte Hazienda, befand. Vor dieser lag ein Dickicht aus höheren Bäumen, und wenn der Reiter es erreichte, musste ich ihn sicher aus den Augen verlieren. Ich hatte die Wache am Schießen gehindert. Die verzweifelten Anstrengungen des Reiters, zu entkommen, musste die Vermutung erregen, er sei entweder ein Spion oder eine wichtige Person des Feindes. Ich hielt es daher für meine Pflicht, ihn gefangen zu nehmen. Infolgedessen trieb ich mein Pferd durch die Sporen zur äußersten Anstrengung an. Zehn Sekunden mussten genügen, um die Entfernung zwischen mir und dem Mustang aufzuheben. Diese zehn Sekunden verflossen. Als ich in Schussnähe war, zog ich die Pistole aus dem Halfter.

»Halt, oder ich schieße!«, rief ich laut, und als der Mustang noch immer weiter flog, wiederholte ich den Ruf. »Halt, oder es kostet Ihr Leben!«

Es folgte wieder keine Antwort, und da ich kaum sechs Schritte von dem Mexikaner entfernt war, hätte ich ihm leicht eine Kugel in den Rücken jagen können. Mein Finger ruhte jedoch am Abzugsbügel. Ein geheimer Antrieb, ein unklarer Gedanke, vielleicht auch ein Gefühl der Bewunderung verhinderte mich zu schießen. Der Reiter näherte sich den Bäumen, und ich beschloss, um ihn nicht in das Dickicht gelangen zu lassen, das Pferd zu verwunden. Während ich nach einer Stelle suchte, auf welche ich zielen konnte, wandte sich das Tier plötzlich in eine andere Richtung, um dem Zwischenraum zu vergrößern. Dies gab mir die gewünschte Gelegenheit zu zielen. Ich erhob die Pistole und schoss den Mustang eine Kugel durch den Leib, er machte noch einen letzten Satz vorwärts und stürzte dann mit dem Reiter zu Boden.

Der Reiter machte sich augenblicklich von dem schlagenden Tier los, und da ich glaubte, er könnte in das Dickicht fliehen, eilte ich, eine Pistole in der Hand, vorwärts und zielte auf seinem Kopf.

Er stand aufrecht da, wandte sich gegen die Waffe, ohne Widerstand zu leisten, und sagte in kaltblütigem Ton, indem er mir gerade ins Gesicht sah. »Töten Sie mich nicht, Herr! Ich bin ein Mädchen.«

Auf diese Erklärung war ich nicht vorbereitet, beschämt und verwirrt bemerkte ich, als die Manga eine Zeit lang in der Luft flatterte, ein seidenes Mieder und darunter eine Tunika. Obwohl ich die Beine nicht sehen konnte, gewahrte ich doch einen goldenen Sporn und den Besatz eines kleinen roten Stiefels. Das zusammengebundene Haar war durch die heftige Bewegung gelöst und fiel in zwei starken Zöpfen auf den Rücken des Pferdes. Außerdem hatte ich bei der letzten Wendung des Pferdes das Gesicht des Reiters aus der Nähe gesehen.

Größeres Erstaunen als jene Erklärung erregte der Ton, in welcher sie gesprochen wurde. Das Mädchen sprach diese so kaltblütig wie einen Scherz. Dann aber kniete sie in tiefer Trauer nieder, legte den Mund an die Schnauze des noch atmenden Pferdes und rief: »Ach, armes Pferd, tot! Tot!«

Der tote Mustang schien in diesem Augenblick der einzige Gegenstand ihrer Gedanken zu sein, und ich, der ihn getötet hatte, war ihr so gleichgültig, als wenn ich gar nicht vorhanden gewesen wäre.

Dann stand sie auf, trat ohne den geringsten Anschein von Furcht mir gegenüber und fragte: »Was wünschen Sie? Sie haben meinen Liebling getötet!«

»Señorita«, antwortete ich, »ich bedauere, dass ich dazu genötigt wurde. Es hätte aber schlimmer werden können. Meine Pistole hätte gegen Sie gerichtet werden können.«

»Es wäre nicht schlimmer gewesen«, fiel sie mir ins Wort. »Ich habe das Geschöpf dort so zärtlich wie mein Leben geliebt.«

Bei diesen Worten, die sie zornig aussprach, beugte sie sich wieder nieder, schlang die Arme um den Hals des Pferdes und drückte die Lippen auf seine weichen Wangen, dann drückte sie ihm die Augen zu, richtete sich auf, verschränkte die Arme und blickte mit trauriger Miene auf die leblose Gestalt.

Ich befand mich der Gefangenen gegenüber in großer Verlegenheit und hätte den Sold eines Monats dafür gegeben, wenn ich den gefleckten Mustang hätte, wieder ins Leben zurückrufen können. Geld durfte ich ihr nicht anbieten, und ich dachte daher auf einen anderen Ersatz.

Die reichen Mexikaner hegten allgemein ein großes Verlangen nach unseren amerikanischen Pferden und zahlten fabelhafte Preise für diese großen Tiere. In unserem Trupp befanden sich viele edle Pferde, und ich machte der Dame das Angebot, ihren Liebling durch eins von diesen zu ersetzen.

»Wie, Señor«, rief sie, mit dem Fuß stampfend und auf die Ebene zeigend. »Mir ein Pferd? Sehen Sie dorthin, dort sind tausend Pferde, die mir gehören. Erkennen Sie jetzt, was Ihr Vorschlag wert ist?«

»Aber diese sind einheimische Pferde, Señorita«, stammelte ich, »und das, was ich Ihnen …«

»Pah!«, fiel sie mir ins Wort, »alle Ihre amerikanischen Pferde würde ich nicht für dieses einheimische Pferd eintauschen, denn keines kommt ihm gleich.«

»Doch eins, Señorita«, sagte ich, auf meinen Moro blickend.

Ihre Augen folgten den meinen und sie betrachtete die edlen Umrisse meines Pferdes einige Sekunden in schweigender Bewunderung, ohne jedoch ein Wort zu sprechen.

»Sie haben recht, Caballero«, sagte sie endlich nachdenklich.

Ich bedauerte, ihre Aufmerksamkeit auf mein Pferd gelenkt zu haben. Wenn sie Moro verlangen sollte, so würde es mir unter allen Umständen peinlich gewesen sein, mich zu weigern. Zu meinem Glück wurde ich dadurch aus meiner peinlichen Lage befreit, dass die Jäger, welche uns gefolgt waren, in diesem Augenblick herbeikamen.

Sie warfen einen Blick auf das gestürzte Ross mit dem blutigen Geschirr und auf die malerisch gekleidete Reiterin. Letztere schien sich über die Gegenwart dieser wildgekleideten und grimmig aussehenden Männer zu beunruhigen. Deshalb schickte ich diese zu ihren Quartieren zurück.

Als die Männer fort waren, fragte sie: »Sind dies Texaner?«

»Nicht alle, nur einige von Ihnen.«

»Sie sind vermutlich ihr Capitán?«

»Dies ist mein Rang.«

»Dann, Señor Capitán, bin ich Ihre Gefangene.«

Dies erinnerte mich an meine Pflicht. Wenn die Dame wirklich die Überbringerin einer wichtigen Depesche an den Feind war, so konnte ich sie nicht freilassen, ohne unangenehme Folgen zu erwarten. Während ich zwischen der Pflicht und der Höflichkeit schwankte, zeigte sich mir ein Ausweg.

»Señorita«, sagte ich, ihr näher tretend, »ich fordere nur Ihr Wort. Wenn sie mir versichern, dass Sie keine Spionin sind, so können Sie gehen.«

Meine Gefangene brach in lautes Lachen aus. »Ich eine Spionin!«, rief sie wiederholt, »eine Spionin! Hahaha! Señor Capitán, Sie scherzen.«

»Warum versuchten Sie denn, zu fliehen?«

»Ach, Caballero, sind sie nicht Texaner? Sie dürfen sich nicht beleidigt fühlen, wenn ich Ihnen sage, dass Ihre Leute bei uns Mexikanern in schlechtem Ruf stehen.«

»Aber Ihr Fluchtversuch war unbesonnen, denn Sie setzten Ihr Leben aufs Spiel.«

»Ja, das sehe ich wohl«, versetzte sie, mit einem bitteren Lächeln auf den Mustang blickend. »Aber damals wusste ich es nicht. Ich glaubte nicht, dass es unter dem Trupp einen Reiter gäbe, der mich einholen könnte. Sie aber haben mich eingeholt.«

»Sie mögen eine Spionin sein oder nicht, Señorita, so will ich Sie nicht länger zurückhalten. Sie dürfen gehen.«

»Ich danke Ihnen, Caballero. Und da Sie sich so anständig mir gegenüber benommen haben, will ich Sie über die Gefahr, die Sie auf sich nehmen, beruhigen. Lesen Sie!«

Dabei übergab sie mir ein zusammengefaltetes Papier, welches ich auf den ersten Blick als einen Pass des Oberbefehlshabers erkannte. Es wurde darin jedermann befohlen, die Donna Isolina de Vargas zu schützen.

»Sie sehen, dass ich nicht Ihre Gefangene bin. Aber gerade dieser Pass veranlasste mich, zu fliehen. Ich hielt Sie nicht für Amerikaner, sondern für Guerillas von meinen Landsleuten, und wir fürchten unsere Freunde mehr als unsere Feinde. Hätten Sie mir in Ihrer eigenen Sprache Halt zugerufen, so würde ich meinen armen Liebling gerettet haben.«

Nach diesen Worten sank sie wieder auf die Knie und schlang die Arme um den Hals des toten Mustangs. Sie verbarg ihr Gesicht an der langen Mähne des Tieres und ließ die Tränen wie Tautropfen über das verwirrte Haar herabrinnen.

»Armes Pferd«, fuhr sie fort, »ich habe wohl Ursache zu trauern. Du hast mich mehr als einmal vor den wilden Indianern bewahrt. Was soll ich jetzt tun? Ich muss die indianischen Umhertreiber fürchten und darf nicht mehr ausreiten. Mein Pferd gab mir Flügel. Jetzt kann ich nicht mehr fliegen.«

Dies alles wurde in so traurigem Ton gesprochen, dass ich ihr Gefühl wohl zu würdigen verstand, denn ich selbst liebte mein tapferes Pferd herzlich. Ich wiederholte daher meinen Vorschlag.

»Señorita«, sagte ich, »unter meinem Trupp sind schnelle Pferde und einige von edler Herkunft.«

»Sie haben unter Ihrem Trupp kein Pferd, auf das ich den geringsten Wert lege. Ich sah Sie heute aus der Stadt kommen. Sie ritten an der Spitze Ihres Trupps. Ich wiederhole, dass ich auf keines Ihrer Pferde den geringsten Wert lege, ausgenommen auf ein einziges: Dieses dort!« Dabei zeigte sie auf Moro, und es war mir, als ob ich in die Erde sinken sollte. Sie bemerkte meine Verwirrung und erwartete eine Zeit lang stumm meine Antwort.

»Señorita«, stammelte ich endlich, »dieses Pferd ist ein großer Liebling und ein alter erprobter Freund. Wenn Sie es aber zu besitzen wünschen, so steht es Ihnen zu Diensten.«

Es half nichts, dass ich mich an ihre Großmut wandte.

»Ich danke Ihnen, es soll gut gepflegt werden«, antwortete sie nur in ruhigem Ton. »Hoffentlich wird es meinen Wünschen entsprechen. Ich will versuchen, wie es mit seinem Maul steht. Ha, Sie haben eine Kinnkette. Dies wird genügen. Ich gebrauche jedoch den Mameluckenzügel. Geben Sie mir dort das Lasso!«

Sie zeigte auf ein Lasso von weißen Pferdehaaren und mit einem silbernen Ring, der um den Sattel des Mustangs geschlungen war. Ich löste ihn und schlang ihn um meinen Sattelknopf. Dann verkürzte ich die Steigbügel.

Sie nahm die Zügel in die Hand und rief: »Nun, Capitán, werde ich sehen, was Ihr Pferd leistet.«

Dabei sprang sie, fast ohne die Steigbügel zu berühren, in den Sattel. Ihre großen Augen drückten ruhigen Mut aus.

Ein wilder Stier war, vielleicht von Neugierde getrieben, von der Herde weggelaufen und kam auf uns zu. Das Pferd, von den Sporen berührt, galoppierte geradewegs auf den Stier zu. Durch den plötzlichen Angriff eingeschüchtert, wandte sich dieser zur Flucht. Aber die Verfolgerin kam ihm bald nahe. Die Schlinge des Lassos fuhr durch die Luft und legte sich um die Hörner des Tieres. Das Pferd wurde herumgeworfen und auf der entgegengesetzten Seite getrieben. Durch den plötzlichen Ruck spannte sich das Lasso und der Stier stürzte betäubt zur Erde. Dort blieb er wie leblos liegen, und noch ehe er Zeit hatte, sich wieder zu erholen, trabte die Reiterin auf ihn zu, bückte sich im Sattel nieder, löste die Schlinge, wickelte sie um ihren Arm und galoppierte zu mir zurück.

»Herrlich! Außerordentlich schön! Prächtig!, rief sie, indem sie aus dem Sattel sprang und das Pferd anblickte. »Ach, armer Mustang, ich werde dich vielleicht bald vergessen haben! … Und dies Pferd gehört mir?«, fuhr sie zu mir gewandt fort.

»Ja, Señorita, wenn Sie es haben wollen«, antwortete ich traurig, mein bestes Pferd zu verlieren.

»Aber ich will es nicht!«, sagte sie in entschlossenem Ton. »Ich kenne Ihre Gedanken, Capitán. Glauben Sie, ich wüsste nicht, welches Opfer Sie mir bringen wollen? Behalten Sie Ihren Liebling. Es ist genug, dass einer von uns leidet. Behalten Sie das wackere Ross! Sie verstehen es zu reiten. Wenn es mir gehörte, so sollte es mir kein Sterblicher entreißen. Jetzt muss ich Sie verlassen. Adios!«

»Darf ich Sie zu Ihrer Hazienda begleiten?«

»Nein, Señor, ich danke Ihnen. Jene Hazienda dort ist das Haus meines Vaters, und dort ist jemand, der für meinen toten Liebling sorgen wird.« Bei diesen Worten winkte sie einen Viehhüter von der Herde herbei. »Merken Sie es sich, Capitán, dass Sie ein Feind sind und ich Ihre Güte ebenso wenig annehmen, wie Ihnen Gastfreundschaft anbieten darf. Sie kennen den Tyrannen Santa Anna nicht. In diesen Augenblick können sogar seine Spione kommen. O Himmel, es ist Jiurra, verlassen Sie mich, Señor! Es ist mein Vetter. Verlassen Sie mich!«

Der Mann, welchen sie meinte, kam vom Hügel herab. Obwohl ich ihn gern aus der Nähe gesehen hätte, folgte ich doch ihrer dringenden Bitte, sprang in den Sattel und ritt mit einem Adios davon. Als ich jedoch die Grenze des Waldes erreicht hatte, siegte die Neugierde. Unter dem Vorwand, meine Steigbügel zusammenzuschnallen, drehte ich mich im Sattel und blickte zurück. Jiurra schien ungefähr dreißig Jahre alt zu sein und trug einen Schnurr-und Backenbart. Er stand seiner Cousine gegenüber, hielt ein Papier in der Hand und sprach, während er auf dieses zeigte. Obwohl er eigentlich schön war, hatte sein Gesicht doch einen wilden, zornigen Ausdruck.

Die Dame verließ plötzlich den Ort und ging schnell auf die Hazienda zu. Ich wandte mein Ross, drang in die Tiefe des schattigen Waldes ein und erreichte bald die Straße, welche zum Flecken führte. In Gedanken versunken, überließ ich mein Pferd seinem eigenen Lauf, bis mich plötzlich das Anrufen meiner Wachen daran erinnerte, dass ich den Eingang des Dorfes erreicht hatte.