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Sagen- und Märchengestalten – Der Adept zu Berlin – Teil 4

Sagen- und Märchengestalten sowie Geister-, Wunder- und Aberglauben des deutschen Volkes
Mit Erzählungen von Begebenheiten der Vorzeit, die den Glauben an eine Geisterwelt förderten, Berlin, Verlag von Burmester & Stempell,1874

Der Adept zu Berlin – Teil 4

Schon dehnten sich die Schatten des Abends. In der Tiefe der Bergschlucht rauschte das Waldwasser mit stärkerem Schall, und aus der Ferne zogen Krähen ihrem Nest im Tannendickicht zu. Nur auf den erhabensten Punkten weilte noch der Sonnenstrahl, ehe er sich unter den weichen Wolkenhüllen verlor, die, purpurn umsäumt am westlichen Himmel emporschossen.

Wie ein sanft eingebogener Sattel streckte der Kamm des Gebirges sich hin, und mitten in der Senkung erhob sich ein starker Turm mit dürftig angesetztem Mauerwerk, das dem schwarzen Ignaz nun schon seit Jahrzehnten zum sicheren Aufenthalt diente.

Wer nach innen das Tor verließ, an welchem der große zottige Hund mit wachsamen Augen hinabschaute, den Pfad entlang, auf dem die Wanderer zu nahen pflegten, der betrat den mäßig großen, kiesbestreuten Hof, um den sich von drei Seiten noch die feste Mauer zog, während an der vierten dichtes Gebüsch den jähen Absturz verhüllte, der weder für den Fuß des Menschen noch für den Huf eines Tieres zugänglich war.

Wilde Blumen rankten an dem Strauchwerk empor. Hier und da nickten aus den Spalten des Gemäuers zartgrüne Birken und blühender Ginster, die sich wohl in der Umschlingung des tiefbraunen Gesteins zu gefallen schienen. An die Mauer schloss sich eine zweistöckige, bedeckte Galerie, welche mit dem Turm in genauester Verbindung stand. In ihrem oberen Teil deckten schlechtgemalte Ahnenbilder eines längst vergangenen Geschlechts die kahlen Wände. Der alte Ignaz hatte sie einst vor Zerstörung gerettet, um gleichsam die Mannen der Abgeschiedenen als befreundete Geister in diese Räume zu bannen. Im Erdgeschoss befand sich ein geheimnisvolles Zimmer mit seltsamem Gerät auf dem Rand des weiten Kamins. Mehr als die halbe Höhe der Fenster war mit Mauerwerk verschlossen und kein spähender Blick von außen vermochte in dieses Heiligtum zu dringen.

Kein Feuer glühte auf dem Herd. Schmelztiegel und Glaskolben lagen müßig unter einer dünnen Staubschicht. Neben der kleinen Pforte des Turms lehnte der schwarze Ignaz und sprach mit einem anderen in modischer Tracht, der, ausgestreckt auf der hölzernen Bank, träumerisch in die hellen Augen der Nacht schaute, dem alten Lied lauschte, das der Wind in den Baumwipfeln sang, und jene wundersame Schwingung des Herzens empfand, die es für die Laute der Natur empfänglich macht.

Wie ein graues Steinbild stand der Alte da und lächelte des sinnigen Gefährten. Doch dieses Lächeln blieb den wettererfahrenen starren Zügen fremd, und es floh schüchtern vor dem Klang der tiefen, rauen Stimme, welche zu dem nachdenklichen Menschenkind an seiner Seite sprach: »Haltet Ihr’s für gewiss, Herr, dass Euer Freund entkam?«

Der andere erschrak, als habe er vergessen, dass einer neben ihm stehe, der reden könne. Hastig sammelte er die zerstreuten Sinne und entgegnete: »Guter Ignaz, der ist nicht mein Freund, den ich erwarte.«

»Nicht?«, sprach der Alte gedehnt und fuhr sich mit der flachen Hand über die runzlige Stirn und über den grauen struppigen Bart. »Mit Verlaub, weshalb bringt Ihr ihn dann hierher?«

Ernst und mit gehobener Stimme erwiderte jener: »Es ist ein eigen Ding um meine Freunde! Sie sind es und sind es nicht. Wenn mir die Pflanze die verborgenen Quellen öffnet, der Stein seine ungeahnte Kraft erschließt, bin ich der Gefährten Herr und Meister, und demütig erkennen sie es an, welch ein gewaltiges Los der Himmel auf meine Schultern legte. Dann tragen sie das Wunder hinaus auf den lauten Markt der Welt, an die Stufen der Throne. Begierig strecken ihre Hände sich nach dem Füllhorn der Menschengunst, der Fürstengnade aus und nur Mittel ist ihnen, was ich als Zweck betrachte. Muss ich nicht, wenn ihr Ungeschick sie in Gefahren stürzt, die rettende Hand ihnen reichen, die Bande lösen, welche Eitelkeit so fest um sie geschürzt, als sollten sie ersticken? Muss ich nicht, selbst ihrem Undank zum Trotz? Doch horch, dein Wächter ruft, sie kommen.«

Der Fremde erhob sich schnell und schüttelte die schlanken, kräftigen Glieder. An der Pforte heulte der zottige Hund und versuchte, sich von der Kette loszureißen. Die Wanderer traten in den Hof, hinter ihnen schwankte der gewaltige Flügel des Tores und schloss sich knarrend. Das Gebell des Tieres schwieg, denn es witterte die Freunde. »So seid Ihr für diesmal noch entronnen, Don Caëtano?«, rief den nahenden Männern eine wohlbekannte Stimme entgegen.

»Mit Madonnas und Eurer Hilfe, Herr!«, entgegnete Don Caëtano und atmete tief, denn der Burgberg war steil und schwer zu ersteigen. »Aber es war voll Mühe und Kampf, und ich entkam nicht ohne den üblichen Musketengruß, der mir zur Erinnerung um die Ohren sauste. Doch wackere Burschen, wie Ihr sie sandtet, Laskaris, vermögen viel und durch sie bin ich hier.«

»Dir gebührt der Dank, Ignaz«, sagte Laskaris, und seine Hand berührte vertraulich des Alten Schulter, »denn du schafftest sie herbei. Doch tretet näher, Ihr werdet der Labung bedürfen und müde sein. Es ist lange her, seit ich Euch nicht sah, und Ihr müsst viel zu erzählen wissen.«

Er wollte voranschreiten, allein Don Caëtano hielt ihn am Ärmel zurück und flüsterte: »Ein Wort, Laskaris! Dem Wirt ist doch zu trauen? Oder wie? Kennt Ihr ihn genau?«

»Wie mich selber«, entgegnete der Grieche mit leisem Spott, »kommt nur!«

Don Caëtano zögerte noch einen Augenblick und seine Hand fuhr unwillkürlich nach dem Wams, worin der Griff eines spanischen Dolches blinkte, doch er ließ sie wieder sinken und trat ein. Im unteren Turmgemach stand das Mahl bereit auf dem schwärzlichen Eichentisch inmitten des Raumes, zinnerne Krüge, mit Ungarwein gefüllt, winkten, und in irdener Schüssel dampfte des Hirsches saftige Keule. Weißes und schwarzes Brot lag daneben. Freilich, das dürftige Tafelzeug bot nichts Anziehendes. Messer und Gabeln waren eisern, vom langen Gebrauch abgenutzt, die Teller vielfach beschädigt und gebrochen. Dessen nicht achtend, ließen die Gäste sich zum fröhlichen Mahl nieder. Nach aufgehobener Tafel zog sich Ignaz mit den Begleitern Don Caëtanos aus dem Gemach zurück, und dieser sah sich mit Laskaris allein.

Eine Weile schwiegen beide und Laskaris schien in tiefes Nachsinnen verloren, bis der andere, vom Wein erhitzt, die Stille unterbrach, indem er sich im Sessel zurücklehnte und mit hoher Selbstgefälligkeit von seinen Abenteuern also zu reden begann: »Wer hätte vermeint, dass solche Ehren meiner warteten, als ich vor acht Jahren zu Neapel Euch verließ! Durch Italien und Frankreich bin ich gezogen, dem Wunderland zu, in welchem einst kluge Mauren über reiche Schätze geboten und in unterirdischen Zauberschulen das große Magisterium lehrten. Dort gelang es auch mir, das Geheimnis der Tinktur zu entschleiern, und ich verwandelte zu Madrid vor den Augen der Granden und vornehmer Fremden schlechtes Metall in schweres Gold.«

»Wahrhaftig?«, unterbrach Laskaris die prahlerische Rede, »tatet Ihr das?«

Vor dem durchdringenden Blick des Griechen vermochten die unruhig funkelnden Augen des Italieners nicht Stand zu halten.

Dieser aber schlug auf den Tisch und rief: »Wollt Ihr mich Lügen strafen? Ich sage Euch, Hunderte sind meine Zeugen. Kurfürst Max Emanuel berief mich nach Brüssel, weil der Ruhm meines Wissens bis zu ihm gedrungen war. Ich ging und wurde wie ein Fürst empfangen.«

»Er machte Euch«, unterbrach Laskaris ihn trocken, »unverzüglich zum Kommandeur eines Regiments sowie seiner Hauptstadt, ja zum Feldmarschall. Aber es bekam Euch schlecht. Man muss gestehen, Ihr seid ein wunderlicher Heiliger! Als Ihr noch zu Neapel den Hirtenstab führtet …«

Der Italiener tat, als verstehe er den Hohn nicht, der in diesen Worten lag.

In nachlässiger Haltung, mit einer Miene voll Indifferenz und Selbstgefühl bemerkte er dann: »Nicht jedem ist es verliehen, seinen Pfad in vorsichtiger Mitte zu halten. Meine Bahn geht aufwärts, und wer dürfte ermessen wollen, wie hoch ich es noch bringen mag.«

»Freilich, freilich«, sagte der Grieche spottend. »Als die Tinktur erschöpft war, die ich Euch gegeben, saßet Ihr auf dem Trocknen, und der Kurfürst geriet in Wut, denn er musste nun säen, wo er zu ernten gedachte. Ihr wäret hoch genug gekommen, wenn meine Boten Euch nicht bei Zeiten aus der Schlinge geholt hätten. Bedenkt, es ist ein gefährliches Spiel mit dem eisernen Meilenzeigen.«

Mit kaum verhaltenem Grimm, und indem er sich bemühte, den Ausdruck seiner Züge, den Klang seiner Stimme zu bewältigen, hob Don Caëtano nach kurzer Weile von Neuem an: »Wohl weiß ich, was ich Euch zu danken habe, Laskaris, – und eben jetzt bedarf ich Eurer aufs Dringendste, denn Kaiser Leopold lud mich längst nach Wien ein, und ich hoffe, Ihr werdet mich nicht umsonst bitten lassen.«

»Ich verstehe Euch nicht«, sagte Laskaris kalt und streng, »ich erwarte, dass Ihr einige Tage in diesem stillen Zufluchtsort zu verweilen wünscht, und es wird mir ein Vergnügen gewähren, zwischen Euch und dem anderen alle Grade der Einbildungskraft spielen zu sehen.«

»Welchen anderen meint Ihr?«, rief Don Caëtano befremdet.

»Herrn von Bötticher aus Dresden«, erwiderte Laskaris, dessen Stirn unwillkürlich eine leise Röte überflog. »Auch er ist in dem Wahn befangen, das große heilige Werk vollbracht zu haben. Doch ihn entschuldigt das Feuer unbesonnener Jugend.«

Der Italiener fuhr mit der Rechten nach dem Dolch in seinem Routine, während seine Augen sprühten.

»Lasst stecken«, sagte Laskaris verächtlich, »und nun hört mein letztes Wort: Ihr ward vielleicht ein guter Ziegenhirt, Ihr seid mutmaßlich auch ein tüchtiger Bandit, besonders wenn Ihr den Rücken desjenigen seht, auf den Ihr’s angelegt habt. Aber gewiss seid Ihr ein jämmerlicher Alchemist. Don Dominico Manuel Caëtano, Conte de Ruggiero!«

Der Grieche lachte, und dieses Lachen versetzte Don Caëtano in fast wahnwitzigen Mut. Er knirschte mit den Zähnen und warf einen Blick auf den Spötter, der jeden anderen tödlich erschreckt haben würde.

Laskaris jedoch schaute ihn lächelnd an und fuhr mit Überlegenheit fort: »Eure Empfindung ist ganz von jenen unwürdigen und gefährlichen Verhältnissen übernommen. Legt diese unzeitige Wildheit ab und lasst mich Euch raten, sonst werdet Ihr es nimmer zu etwas bringen. Doch es ist spät und unser Schlafgemach durch des Wirtes Sorgfalt längst bereit. Kommt, Don Caëtano, solange Ihr hier verweilt, müsst Ihr den Raum mit mir teilen. Die Ruine bietet keinen anderen.«

Dies sagend ergriff er eine der Kerzen, welche auf dem Tisch brannten, und leuchtete seinem Gast die enge Treppe hinauf.

Das Zimmer, welches sie betraten, war achteckig und schien die ganze Weite des Turmes einzunehmen. Tief in der Mauer lag das Fenster, zu beiden Seiten prangte eines jener mächtigen Betten, deren Gestell aus Eichenholz gefertigt war und welche durch die schweren Vorhänge, die sich von oben her darüber wölbten, jedes ein Gemach für sich bildeten. An einem Haken schwebte in der Mitte des Raumes die silberne Ampel, deren Licht nun nur eine dämmernde Helle verbreitete.

Don Caëtano warf unruhige und spähende Blicke um sich her, als sie schweigend ihre Mäntel abzulegen begannen. Endlich sagte er; »Herr, ich möchte lieber im freien Wald übernachten, als an einem Ort, dessen Ausgang ich nicht kenne! Wenn es Euch gefällig wäre …«

»O«, entgegnete der Grieche sorglos, »die Erde selbst ist eine terra incognita und man schläft dennoch auf derselben. Wenn es Euch aber zu beruhigen vermag, so lasst Euch gesagt sein, dass für Abenteurer das Fenster einen ganz bequemen Weg zum Entschlüpfen bietet. Zur Not könnte man hinabspringen in den Burghof, wo freilich die Mauer das Weiterkommen hindert.«

»Die Mauer!«, wiederholte Don Caëtano bedenklich. »Wenn ich nicht irre, sah ich beim Eintritt im Zwielicht des Abends nur von drei Seiten noch die Ringmauer. Wo das Gebüsch die Aussicht versperrt, scheint sie in das Tal abgestürzt zu sein?«

»Allerdings scheint es so«, entgegnete Laskaris trocken, nahm wie von ungefähr eine Phiole, mit einer seltsam leuchtenden Masse gefüllt, aus seiner Brusttasche und legte sie zu oberst auf die Kleidungsstücke, welche den Sessel bedeckten. Don Caëtano, dem diese Bewegung nicht entging, sah mit einem Tigerblick auf jenes verlockende Gefäß hin, dessen Form und Inhalt ihm nur zu bekannt war, und welches zu besitzen, ihn kein Frevel abschreckte. Mit angenommener Treuherzigkeit, die einen wunderlichen Kontrast bildete zu der ausgesprochenen Arglist seines olivenfarbenen Gesichtes, sagte er dann: »Wenn es nötig würde, – denn wer vermag zu wissen, wie seltsam das Geschick mit ihm zu spielen gedenkt! – Dass einer von uns Abenteurer, eben durch jenes Fenster seinen Ausweg nähme, wäre es nicht ein gewagter Sprung? Denn mich dünkt, der Hof sei mit scharfen Kieselsteinen gepflastert.«

»Zum Teufel, Herr!«, rief Laskaris fest, der bereits entkleidet im Bett lag, »seht Ihr nicht die schweren gedrehten Schnüre an den Vorhängen Eures Bettes? Sie sind stark genug, drei solcher Hasen zu tragen, wie Ihr einer seid. Und nun gehabt Euch wohl und stört mich nicht länger.« Damit warf er sich zurück und vergrub seine kräftige schlanke Gestalt in die weiche Flut der seidenen Kissen.

Mit tückischem Blick, doch schweigend, löschte der Italiener die Kerze und suchte sein Lager auf.

Wohl mehr als eine Stunde mochte verflossen sein, als er sich vorsichtig aufrichtete und flüsterte: »Vernahmt Ihr nichts, Herr?« Worauf er, da keine Antwort erfolgte, dieselbe Frage ein wenig lauter wiederholte. Doch der Grieche warf sich mit schlaftrunkenem Murmeln auf die andere Seite, und bald kehrte sein ruhiges Atmen zurück. Lautlos schlüpfte jener zum Fenster, öffnete es und prüfte den dunklen Hof mit aufmerksamen Blicken. Nichts regte sich, es schien sich in der Tat alles so zu verhalten, wie Laskaris gesagt. Caëtano lehnte den Fensterflügel leise an, ohne ihn wieder zu schließen, löste schnell mit geschickter Hand die feste Schnur, welche die Vorhänge seiner Lagerstätte zusammenhielt, und schlang das Ende derselben um das Fensterkreuz, dessen Stärke er zuvor versuchte. Hierauf schlich er, wie ein Raubtier mit eingezogenen Krallen, zu dem Bett des Griechen, maß die Lage des Schlummernden mit geübten Augen, löschte die Lampe und führte mit Blitzesschnelle einen – zwei – drei Stöße nach der Brust seines Opfers. Er wusste, dass seine Klinge niemals fehlte! Leises Stöhnen zog durch das Gemach, – ihm folgte Todesstille.

»Ha!«, rief der Italiener triumphierend aus, »der Bandit hat sich gerächt, und mein ist, was den Weg mir bahnt zu einer Zukunft voll glänzender Erfolge!« Damit griff seine blutbefleckte Hand nach der Phiole, die er inbrünstig an sein Herz und seine Lippen presste, warf den Dolch in die Scheide zurück und schwang sich mithilfe des Seils zum Fenster hinaus. Kaum aber berührten seine Füße den Boden, als auch schon der Hund ein wütendes Gebell erhob, und gerade gelang es dem Flüchtigen, über den Hof zu entschlüpfen und sich kopfüber in das Gebüsch zu stürzen, als auch schon Fackelglanz an den unteren Turmöffnungen leuchtete und der schwarze Ignaz mit seinen Gefährten herbeieilte.