Archive

Mit den Konquistadoren ins Goldland Teil 16

Gustav Dittmar
Mit den Konquistadoren ins Goldland
Eine Erzählung aus der Zeit der Welserzüge
Teil 16

Hans, Fabricius und Kressel ritten den Fluss ein gutes Stück aufwärts. Überall umgab sie die grüne Wildnis, aus der prachtvolle Blütentrauben und -dolden hervorleuchteten. Doch nirgends auch nur ein Indianerpueblo, geschweige denn ein Tempel, ein Schloss.

Die enttäuschten Landsknechte schimpften und fluchten. Was sollte geschehen? Es blieb nichts übrig, als den Fluss zu überschreiten und in der Einöde weiter nach der Stadt des Goldenen zu suchen.

So beging die Expedition jenseits des Meta in einem von einigen Bewohnern fast verlassenen Indianerdorf das Christfest des Jahres 1537. Die Freunde aßen gemeinsam den Festbraten, den ein Leguan, eine jener riesigen grünen Eidechsen, geliefert hatte. Zischende Viper hatte ihn mit einer Schlinge gefangen. Dass man am Meta den Sonnentempel nicht gefunden hatte, kümmerte die drei jungen Deutschen herzlich wenig. Besonders Kressel schien vom Goldfieber völlig geheilt. Er spottete nur noch über die Träumer, die meinten, sie würden plötzlich vor einer goldenen Stadt stehen, wie einst Cortez’ Soldaten auf der Hochebene von Mexiko vor Tenochtitlan, der gewaltigen Aztekenhauptstadt.

Da – am zweiten Weihnachtsfeiertag – geschah etwas Seltsames. Kressel handelte von einem Indianerweib ein merkwürdiges Schmuckstück ein. Er nahm Fabricius und Hans Hauser beiseite und zeigte es ihnen. Es war ein Stück Goldblech – das Gold schien sehr rein zu sein – etwa so groß wie ein Handteller. Auf der Scheibe waren die Umrisse einer menschlichen Figur erkennbar, aus Golddraht gebildet, der mit großer Kunstfertigkeit auf die Unterlage gelötet war.

Es war das erste goldene Gerät, auf das man stieß, seit des unglücklichen Velasco verhängnisvollem Goldfund. Die Freunde beschlossen, die Entdeckung vorläufig geheim zu halten, aber Hans Hauser fragte die Indianerin nach der Herkunft des Goldes aus. Die Verständigung war sehr schwierig. Schließlich glaubte Hans Hauser, dass die Indianerin etwa Folgendes habe sagen wollen: Manchmal kämen Händler von der anderen Seite des Gebirges zu den Indianern in die Llanos und brächten ihnen Salz und solche Dinge, wie sie die weißen Männer auf dem Leib trügen. (Waren Wollstoffe oder Baumwollstoffe gemeint?) Es käme auch vor, dass sie »Glänzendes« mitbrächten, so wie jene Scheibe. Doch zögen die Indianer Salz und Maniokmehl dem unnützen Stoff bei Weitem vor. Aber in der Heimat der Händler gebe es sehr viel davon, auch lebten dort bekleidete Menschen in großen Pueblos.

Wie weit es dorthin sei, fragte Hans Hauser. »Zweimal geht der Vollmond auf«, antwortete die Indianerin. Männer ihres Stammes seien schon drüben gewesen. Die Freunde berechneten dreißig Tage.

Sie unterrichteten den Führer von dem Fund und dem Bericht der Indianerin. Hohermut wog das Stückchen Gold gedankenvoll in der Hand. Dann berief er einen Rat seiner engsten Vertrauten: Philipp von Hutten, Estéban Martin, Fabricius, Hans Hauser, Pater Severinus. Auch Martin Kressel, der glückliche Finder des Goldes, wurde zugezogen.

Hohermut wäre am liebsten sofort mit der ganzen Truppe zum Marsch über das Gebirge aufgebrochen, aber Estéban Martin riet dringend ab. Man dürfe an das ungeheure Wagnis nicht die ganze Expedition setzen. So wurde beschlossen, dass Estéban Martin noch einmal mit zwanzig Reitern aufbrechen solle, um einen Pass zu suchen.

»Diesmal finde ich ihn«, verschwor sich der Pfadfinder.

Auf Hohermuts Befehl wurde der Zweck der Unternehmung selbst vor den Teilnehmern geheim gehalten. Sie galt als ein Streifzug zur Erdeutung von Lebensmitteln und Trägern, wie Estéban Martin schon viele ausgeführt hatte. Am 5. Januar brach der Pfadfinder auf. Es war verabredet worden, dass er in vier, spätestens sechs Wochen wieder im Lager eintreffen solle, um die ganze Expedition über den glücklich entdeckten Pass zu führen. Zum Aufbruch, der in der ersten Morgenfrühe erfolgte, erschienen Hohermut und Philipp von Hutten. Der Führer winkte Hans Hauser zum Abschied freundlich zu. Der junge Konstanzer dachte nicht anders, als dass er den vergötterten Feldhauptmann in wenigen Wochen wiedersehen werde. Es sollte anders kommen.

Estéban Martins Schar ritt den Humadea aufwärts. Gerade vor den Reitern lag wolkenbedeckt der riesige Gebirgsstock, der auf den heutigen Karten Paramo de la Suma Paz heißt. Man kam rasch vorwärts. Hohermut hatte der Schar die besten Pferde und die gesündesten Träger mitgegeben. Selbstverständlich befand sich Zischende Viper, der Xidehara, unter ihnen.

Die Unternehmung schien vom Glück begünstigt. Der Weg führte durch ein reiches Land, wo friedfertige Indianerstämme hausten, die den Weißen freundlich entgegenkamen und sie bereitwillig mit Lebensmitteln versahen. Mehr und mehr wurde der geruhsam strömende Llanosfluss zum wilden Gebirgsstrom, der brausend zu Tal schoss. Schon lagen die Llanos tief zu Füßen der Reiter. Man kam aus der Tropenglut allmählich in eine Zone sommerlicher Wärme und schließlich in eine Höhe, wo es frisch und kühl war, wie daheim in Deutschland. Die Lungen sogen die herrliche Gebirgsluft begierig ein und das Auge schweifte entzückt über die Felder von purpurroten Alpenrosen, mit denen der Boden bedeckt war.

Dann wurde der Weg plötzlich schlecht. Man erreichte eine Stelle, wo in der letzten Regenzeit ein gewaltiger Bergrutsch zu Tal gegangen war. Über den steilen, mit Steinen übersäten Hang kamen die Pferde nicht vorwärts. Polternd rollten die Steine unter ihren Hufen in den Abgrund, und schließlich rutschte gar ein Reiter mitsamt seinem Ross ein gutes Stück in die Tiefe, wo Mensch und Tier übel zugerichtet liegen blieben.

Es gab einen ärgerlichen Aufenthalt. Es blieb nichts übrig, als umzukehren und an anderer Stelle den Aufstieg zu versuchen. Doch auch hier war es nicht besser. Es war, als käme man nicht von der Stelle, als wiche der Kamm des Gebirges vor den Wanderern zurück, wenn die ermüdeten Augen ihn suchten, und verliere sich unübersteiglich im Blau des Himmels.

Finster starrte der Pfadfinder hinauf. Hier mit der ganzen Expedition, ja auch nur mit seiner kleinen Schar durchzukommen, schien unmöglich. Doch Estéban Martin versuchte das Unmögliche. Überall war er der Erste, unermüdlich feuerte er die Ermatteten an, bedrohte die Träger, reizte die Gierigen, indem er Märchen von dem unerhörten Reichtum des Landes hinter den Bergen erzählte. Es war kein Reiten mehr. Die Reiter zerrten und schoben mit unsäglicher Mühe die Gäule die steilen Hänge hinauf. Dann wieder musste eine tief eingerissene Schlucht, in deren Grund ein Gießbach rauschte, passiert werden. Man baute aus ein paar nebeneinandergelegten Baumstämmen eine Brücke über die schwindelnde Tiefe, die man vorsichtig überschritt, das Gepäck Stück für Stück hinüberschleppend.

Und dann – den ganzen Tag hatte die Schar vergeblich nach einem Weg gesucht und war endlich am Abend zu Tode ermattet an die Stelle zurückgekehrt, von wo man am Morgen ausgegangen war – dann endlich musste sich auch der Pfadfinder zähneknirschend eingestehen: Es ging nicht.

Er teilte den Entschluss, umzukehren, Joachim Fabricius mit. Fabricius nahm die Ankündigung des Spaniers schweigend auf. Dann besprach er sich lange und eingehend mit seinen Freunden. In der Nacht noch suchte er den Pfadfinder auf und machte ihm den Vorschlag, dass er mit Hans Hauser und Martin Kressel, von Zischender Viper begleitet, versuchen wollt, zu Fuß den Kamm des Gebirges zu überschreiten. So würde man wenigstens erfahren, was von den Gerüchten über ein reiches Land jenseits der Berge wahr sei. Auch fanden sie vielleicht doch noch einen für Pferde gangbaren Pass. Ein paar rüstige Bergsteiger würden ihn eher entdecken als die schwerfälligen Reiter. Höchstens zwei Wochen wollten sie ausbleiben, und Estéban Martin solle sie in dem Pueblo der friedlichen Indianer am Osthang des Gebirges erwarten.

Estéban Martin zögerte. Er wusste, dass die Freunde ihr Leben aufs Spiel setzten. Bedächtig stellte er ihnen alle Gefahren vor. Drei weiße Männer und ein Indio in der Einöde der Kordilleren, fern von jeder menschlichen Niederlassung, ganz auf sich allein gestellt – es war ein tollkühnes Unternehmen. Doch Fabricius erwiderte ruhig, dass er und seine Freunde sich alles überlegt hatten und entschlossen seien, den Marsch zu wagen, wenn er – Estéban Martin – damit einverstanden sei. Da willigte der Spanier endlich ein. Er ließ die Freunde reichlich mit Lebensmitteln versehen. Am nächsten Morgen, kurz vor dem Aufbruch, trat Hans Hauser noch einmal zu Lutz, seinem Pferd. Er klopfte dem treuen Gefährten den Hals, und der Braune rieb leise schnaubend seine Nüstern am Arm seines Herrn. So nahm Hans Abschied von seinem Pferd. Es war ein Abschied für immer.

Die rüstig emporklimmenden Freunde sahen eine Zeitlang noch Estébans Schar unter sich. Sie sahen den Alten, der gespannt zu ihnen heraufblickte. Auch ihn würden sie niemals wiedersehen. Dann entzogen die Wände einer schmalen Schlucht, in die sie eintraten, das Bild ihren Blicken. Sie waren allein, ganz allein in der Steinwüste der Kordilleren.

Fünf Tage waren die Freunde unterwegs seit der Trennung von Estéban Martin. Längst lag die Baumgrenze unter ihnen. Über schlüpfrige Grashänge und riesige Geröllhalden klommen sie mühsam aufwärts. Ein wilder Gebirgsbach floss viele hundert Klafter unter ihnen schäumend zu Tal. Hans Hauser sah nicht hinunter, um nicht schwindlig zu werden, doch der Blick in die Höhe erfüllte ihn kaum minder mit Schrecken. Reichte denn dieses furchtbare Gebirge bis in den Himmel? Seine Füße waren wund und schmerzten bei jedem Schritt. Hätte er sich nicht geschämt, er hätte vorgeschlagen, umzukehren. Auch Kressel kämpfte mit Erschöpfung. Sein Gesicht war verzerrt, tief lagen seine Augen in den Höhlen. An manchen Stellen musste er sich mit den Händen an die Felsen krallen, um nicht zu stürzen. Nur der Xidehara schien nichts zu empfinden. Sicher setzte er die nackten Füße und schritt über Felsbänder, die kaum dem Fuß Halt gewährten, mit der unbekümmerten Sicherheit eines Tieres.

Es war kalt, bitter kalt. Regen fiel, mit Schnee gemischt. Frierend drückten sich die vier Menschen aneinander, wenn sie in der Nacht unter einem überhängenden Felsen kümmerlichen Schutz suchten. Der Hunger wühlte in den Eingeweiden, aber es war unmöglich, Feuer anzuzünden. Ein paar Bissen harten Kassavebrotes, das war seit drei Tagen die einzige Nahrung der einsamen Wanderer. Und immer noch war kein Ende des furchtbaren Aufstiegs abzusehen.

Aber Fabricius’, des Führers, Augen glühten wie immer, wenn er letzte Willenskraft an ein Ziel setzte. Die schmalen Lippen presste er fest aufeinander. Aus dem hageren Gesicht sprang kühn die schön geschwungene Nase hervor. Er gab das Zeichen zur Rast, zum Aufbruch. »Wollen weitergehen!«, sagte er. Die Freunde wagten nicht zu widersprechen. Mit dem Aufgebot der letzten Kraft schleppten sie sich weiter. Und endlich, endlich standen sie auf dem Kamm des Gebirges.

Es war ein breiter, beraster Rücken. Der Nebel war so dicht, dass man keine drei Schritte weit sah. Aus dem milchigen Gewölk ragten da und dort gespenstig, wie betende Mönche anzusehen, einzelne Säulenkakteen auf. Der Weg war nicht mehr steil, fast eben. Doch die Männer, die durch den Nebel schlichen, taumelten wie Sterbende. Sie fühlten sich krank, zu Tode erschöpft, aber sie wussten nicht, was ihnen fehlte. Woher sollten sie die Bergkrankheit kennen, die so häufig den Wanderer auf der eisigen Höhe der Kordilleren überfällt? Alle Körper- und Willenskräfte lähmte sie und oft genug hörte das Herz zu schlagen auf, ehe Hilfe kam.

Kressel stürzte zuerst, sein Atem ging pfeifend. »Lasst mich liegen!«, röchelte er. »Ich kann nicht mehr.«

Bleierne Müdigkeit lähmte auch die anderen. Das Blut dröhnte in den Ohren, das Herz schlug rasend.

»Wollen ein wenig rasten«, sagte Fabricius und warf sich neben Kressel in das nasse Gras.

»Nein, nein!«, widersprach Hans Hauser in plötzlicher Angst. »Lasst uns weitergehen, nur noch ein kleines Stück!«

»Ein wenig rasten!«, lallte Fabricius.

Hans Hauser stolperte planlos ein paar Schritt weiter. Der Xidehara folgte ihm. Da hob sich plötzlich der Nebel. Hans griff sich an die Stirn. Das musste ein Blendwerk sein. Es war nicht möglich, dass hier zweihundert Schritt vor ihm ein Haus stand. Es musste eine Felsbildung sein, die ihn narrte. Ein Haus? Menschen hier in der Einöde? Es war unmöglich.

Doch als er näher kam, erkannte er deutlich einen Erdwall, der eine dichte Agavenhecke trug. Mehr als mannshoch war die Umzäunung, über die eine Art Plattform hervorragte. Er erkannte auf ihr einen Menschen, der, als er seiner ansichtig wurde, in ein Horn stieß. Dumpf hallte der Ton über die kahle Fläche. Einige Indianer erschienen auf der Plattform und schauten in die Richtung, die der Wächter wies. Sie trugen kurze, geschnittene Haare, nicht lange, wie die Indianer der Llanos, und keine Federkronen. In ihren Händen sah Hans Wurfspieße und reich verzierte Schilde, aber keine Bogen. Das Haupt eines der Indianer – es musste wohl der Anführer sein – bedeckte eine Kappe aus Metall. Als sie ein Sonnenstrahl traf, glänzte es hell wie Gold.

Hans Hauser hatte nicht mehr die Kraft, darüber nachzudenken, ob ihn die Indianer freundlich aufnehmen oder erschlagen werden. Er streckte die Arme aus mit einer stehenden Gebärde. Nur ein wenig schlafen wollte er, mochte dann kommen, was wollte. Die Indianer erschienen an der Hecke und schoben ein paar Balken zur Seite, die den Eingang versperrten. Der Mann im Goldhelm kam ihm entgegen. Als er den weißen Mann erblickte, ging ein tiefes Erschrecken über seine Züge. Zögernd machte er das Zeichen des Friedens, indem er mit der Hand den Boden berührte. Hans Hauser tat das gleiche. Er sah in ein schönes Gesicht, das auch die blaue Tätowierung um den Mund nicht viel entstellte. Der Indianer war mit baumwollenen Tüchern bekleidet, die mit Ornamenten in roten und blauen Farben bemalt waren. Baumwollbinden umschnürten Oberarme und Knöchel so fest, dass die Muskeln stark hervortraten. Kleine Goldplättchen hingen an ihnen, die bei jeder Bewegung ihres Trägers wie Glöckchen klangen.

Die Indianer – es schienen einige zwanzig zu sein, ähnlich gekleidet wie der Anführer – umringten Hans und Zischende Viper. Man führte sie in eine große, rechte eckige Hütte. Wohn- und Vorratsraum, wo Kartoffeln, Saubohnen und Hirse lagerten, waren sauber geschieden. Der Boden war mit Matten aus Bast bedeckt. Hans sah mit Staunen geschnitzte Sitzbänke und Bettstellen, die mit Fellen bedeckt waren. Ja sogar -Hans glaubte sich auf die »Trinidad« versetzt – drei Hängematten, aus Agavenfasern geknüpft, waren zwischen den Pfählen aufgehängt, die das Dach trugen.

Einen Augenblick sank Hans erschöpft auf einen Schemel. Doch dann riss er sich empor. Die Kameraden – die Freunde! Mit Worten und Zeichen machte er sich verständlich. Es war nicht einfach, denn die Indianer sprachen eine vom Aruak stark abweichende Sprache. Doch einer der Indianer schien ihn leidlich zu verstehen. Hans führte die Farbigen, die ihm bereitwillig folgten, zu dem Platz, wo er die Freunde zurückgelassen hatte. Sie lagen in einem totenähnlichen Schlaf. Die Gesichter hatten ein starres, maskenhaftes Aussehen. Kressels Lippen waren schon ganz blau.

Die Indianer griffen ohne Weiteres zu. Sie trugen die Erschöpften zur Hütte und legten sie auf die Betten. Auch Hans gab der Anführer zu verstehen, dass er es sich bequem machen sollte. Einen Augenblick schwankte er. Wurde er wohl wieder erwachen aus diesem Schlaf? Werden ihn die Indianer im Schlaf ermorden? Doch die Müdigkeit siegte, er streckte sich auf eine der Lagerstätten. Der Xidehara kauerte sich zu seinen Füßen auf eine Matte wie ein treuer Hund. Hans schlief alsbald ein. Er schlief wie ein Toter.

Als Hans Hauser nach einigen Stunden erquickenden Schlafs endlich erwachte, schloss er noch einen Augenblick die Augen. Nur noch ein wenig fortträumen möchte er diesen herrlichen Traum von Wärme und Geborgenheit! Doch dann riss er gewaltsam die Augen auf. Es war ja kein Traum, er war wirklich unter einem Dach, in einer Hütte, wo auf einem aus Feldsteinen erbauten Herd ein Feuer flackerte und angenehme Wärme verbreitete. Über dem Feuer hing ein Tongefäß, schwarz angeraucht, doch waren Spuren einer Bemalung zu erkennen. Es roch – eine Erinnerung überkam Hans an seine Knabenzeit und das Elternhaus in Konstanz -es roch nach Bohnensuppe.

Im nächsten Augenblick aber rann ihm eisiger Schrecken durch die Glieder. Wo war seine Armbrust, die er auf dem Rücken trug? Wo war seine Machete, sein Buschmesser? Wo waren um Gottes und aller Heiligen willen seine Waffen?

Der Anführer nahte und lud Hans mit einer höflichen Gebärde zum Mahl. Die Indianer lagerten auf den Matten. Einige Bevorzugte saßen auf den Bänken. Hans Hauser nahm mit Kressel und Fabricius neben dem Anführer auf einer Bank Platz. In Kalebassen wurde die Suppe gebracht. Sie schmeckte vorzüglich. Die Freunde bemerkten mit Genuss, dass sie gut gesalzen war. Sie aßen mit Andacht. Allmählich erholten sie sich und ihre Herzen schlugen ruhiger. Dunkel fühlten sie, dass sie dem Tod um Haaresbreite entronnen waren. Sie ahnten es: Wären nicht die Indianer gewesen, sie lägen tot auf der eisigen Höhe des Paramo.

Hans Hauser wandte sich zu Fabricius. »Wo sind wir, Joachim?«

Fabricius zuckte die Achseln. »Ich weiß es nicht. Es ist wie im Märchen.«

»Joachim, hast du gesehen? Sie haben uns die Waffen fortgenommen, wir sind wehrlos.«

»Ich weiß es. Frag jetzt nicht danach! Mach sie nicht misstrauisch!«

»Ach, Joachim, wo mag jetzt Estéban Martin sein, wo Hohermut? Glaubst du, dass wir sie je wiedersehen?«

Fabricius schwieg bedrückt.

Die Indianer behandelten ihre weißen Gäste mit ernster Höflichkeit. Hans Hauser aber begegnete der Anführer fast mit Ehrerbietung. Es war wohl Hansens Blondheit, die wieder einmal das bewundernde Erstaunen der Indios erregte. Kressel und Fabricius, dunkelhaarig, von Wind und Wetter gebräunt, sahen fast aus wie Indianer. Den Xidehara endlich behandelten die Indios mit unverhüllter Geringschätzung, so wie Angehörige eines Kulturvolkes mit Wilden umzugehen pflegen.

Am Nachmittag gab der Anführer den Freunden ein Zeichen, ihm zu folgen. Sie sahen einander erschrocken an. »Wo wollen die Kerle hin mit uns?«, rief Kressel voll Misstrauen.

Hans, als der Sprachgewandteste, ergriff das Wort. Er und seine Gefährten seien dankbar für die gute Aufnahme, die sie gefunden hätten, doch brauchten sie nun keine Führer mehr. Sie würden den Weg allein finden. Nur ihre Waffen möge man ihnen wiedergeben.

Der Anführer verstand nicht oder er wollte nicht verstehen. Finster sah er, umringt von seinen schwerbewaffneten Stammesgenossen, auf die waffenlosen Männer. Seine Miene kündete nichts Gutes. Sie ließ keinen Zweifel, dass er Gewalt anwenden wird, wenn sich die Weißen widersetzen.

Was sollten sie machen? Kampf? Flucht? Das eine war so aussichtslos wie das andere. Es blieb ihnen fürs Erste nichts anderes übrig, als sich zu fügen. Mit gesenkten Köpfen folgten sie den Indios, die sie wie Gefangene in ihre Mitte nahmen und fortführten.

Eine neue Überraschung wartete ihrer. Hinter der Hütte begann ein ausgebauter Weg. Da und dort war er gepflastert und überall sorgten Rinnen für Wasserabfluss. Nach zwei Stunden wurde eine Schlucht erreicht, die mit einer kühnen Hängebrücke überspannt war. Sie war aus Lianen hergestellt, die stark wie Schiffstaue waren. Gewiss, man konnte den Steg nur im Gänsemarsch überschreiten und musste obendrein auch schwindelfrei sein, denn zwischen den Seilen sah man hundert Klafter hinunter in die grausige Tiefe. Doch die Brücke ersparte Stunden mühsamen Wegs.

Gegen Abend gelangte der Zug an ein Haus, das ähnlich gebaut war wie die Hütte auf dem Paramo. Es schien ein Unterkunftshaus oder eine Militärstation zu sein, denn Bewaffnete wurden sichtbar und betrachteten staunend die weißen Männer. Die Freunde wurden gut aufgenommen, Mahl und Lager bereitwillig mit ihnen geteilt.

Doch als sie nebeneinander auf der Bettstatt lagen, konnten sie trotz aller Müdigkeit nicht schlafen. Sie erwägten tausend Fluchtpläne, um sie immer wieder zu verwerfen. Qualvolle Ungewissheit peinigte sie. Was würden die Indianer mit ihnen beginnen? Würde man sie töten, schlachten, am Ende verzehren? War es ihr Los, unter Indianern zu Indianern zu werden? Alle Schilderungen der Altgedienten von der Wildheit und Grausamkeit der Eingeborenen fielen ihnen mit schrecklicher Deutlichkeit ein. Schon drang das Licht des anbrechenden Tages durch die Öffnung im Dach der Hütte, als sie endlich in einen unruhigen Schlummer sinken.

Am nächsten Tag wurde der Marsch fortgesetzt. Die Indianer behandelten ihre weißen Gefangenen nicht schlecht. Ja, der Anführer bemühte sich sichtlich um sie. Sie sahen, wie er getrocknete Blätter kaute, die er, bevor er sie mit Genuss in den Mund steckte, mit Kalk befeuchtete, den er einer kleinen Kürbisdose entnahm. Der Indio gab ihnen ein paar Blätter und ermunterte sie, seinem Beispiel zu folgen. So lernten sie das Kokakauen kennen. Sie verspürten eine angenehme, belebende Wirkung, mehr noch als beim Tabakrauchen, das die Indianer hier übrigens nicht zu kennen schienen.

Am Nachmittag lag in einer weiten Hochebene, umgeben von Mais, Hirse- und Kartoffelfeldern, eine große Indianerstadt vor den müden Wanderern. Mit Staunen erkannten sie Straßen und Plätze, die von zahlreichem Volk belebt waren, und saubere Holzhäuser, die sich um ein paar große Holzgebäude, Tempel vielleicht oder andere öffentliche Gebäude, scharten. Der Anführer stieß in ein mächtiges Kürbishorn. Ein Laut, dumpf wie das Brüllen eines Stieres, schallte über das Land.

So zogen die Freunde ein in Guatavita, die Stadt der Chibchas. Ihr Erscheinen erregte ungeheures Aussehen. Von allen Seiten strömte das Volk herbei, sodass sich ihre Begleiter nur mit Mühe einen Weg durch die Menge bahnen konnten. Aufgeregt schreiend und deutend, scheu, neugierig, furchtsam drängten sich Männer, Frauen und Kinder herbei, um die gefährlichen bleichgesichtigen Männer aus der Nähe zu sehen. Alle waren mit Baumwolltüchern bekleidet, die auf der Schulter bei den Männern geknotet, bei den Frauen mit großen Nadeln aus Knochen befestigt waren. Männer und Frauen trugen Schmuck: Ketten aus Jaguar- oder Wildschweinzähnen, aus durchbohrten Früchten oder den schillernden Flügeldecken großer Käfer, vor allem aber reichen Goldschmuck. Es gabt Frauen, die ganze Mieder aus Goldblech trugen. Andere hatten Manschetten aus Gold, oder sie tragen aus Goldplättchen hergestellte Hauben, Ketten aus Goldperlen, oft ein paar Reihen um den Hals.

Endlich gelangte der Zug zu einem riesigen Holzgebäude. Es schien eine Art Kaserne zu sein, denn die Weißen sahen sich von Indianern umringt, die ebenso wie ihre Begleiter bewaffnet waren und geschnittenes Haupthaar hatten, während das Volk auf der Straße langes Haar trug. Das Gebäude war von einem Palisadenzaun umgeben, aus dem in gleichen Abständen lange Bambusstangen hervorragten. An jeder dieser Stangen hing – schrecklich anzusehen – ein eingetrockneter, grell bemalter Menschenkopf. Todmüde sanken die Gefangenen auf das Lager aus Tierfellen, das man ihnen anwies. Bald schliefen sie tief, ohne die Blicke der schwarzen Indianeraugen zu fühlen, die unverwandt voll Spannung und Argwohn auf sie gerichtet waren.