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Michael Knoke – Nacht über Rochester

Nacht-über-RochesterMichael Knoke
Nacht über Rochester

Horror, Mystik, Romantik, handgefertigtes Paperback mit Lesebändchen und Schutzumschlag, Privatdruck ohne ISBN, Goblin Press, Büdingen, April 2015, 102 Seiten, 12,00 Euro, Covergestaltung, Cover- und Innenillustrationen: Jörg Kleudgen
goblin-press.de

Sie sah wieder die Frau auf den Klippen stehen, alle Aufmerksamkeit dem tosenden Meer zugewandt. Langsam drehte sich die Gestalt zu ihr um. Eine schlanke Hand strich die Kapuze des langen Umhangs zurück und Lydia befürchtet schon, wieder in ihr eigenes Angesicht zu blicken, als ein bleiches, von langen, schwarzen Haaren umrahmtes Antlitz zum Vorschein kam. Die Haare flatterten wild im Wind, der vom Meer her über die Klippen brauste. Die Frau war wunderschön, und Lydia fragte sich, wer sie sein mochte. Wie konnte sie von einer Person träumen, der sie nie im Leben begegnet war? Ihre Lippen bewegten sich, als würde sie zu Lydia sprechen, doch diese konnte keinen einzigen Laut vernehmen.

In London lernt der Witwer Richard Whatley die lebenslustige Malerin Lydia kennen und lieben. Die Zeit bis zur Hochzeit ist kurz, und das Paar beschließt, sein Leben auf dem Familiensitz der Whatleys, einem Anwesen an der Küste Cornwalls, zu verbringen. Doch seit das Paar in Rochester-House wohnt, machen beide eine Veränderung durch. Richard wird zunehmend schweigsamer und zieht sich, seine Arbeit als Softwareentwickler vorschützend, immer mehr von seiner Frau zurück. Lydia leidet unter nächtlicher Unruhe und seltsamen Träumen, in denen jemand im Haus ihren Namen ruft. Ist es die Gestalt, die sie immer wieder nahe der Felsklippen zu sehen glaubt und die unbewusst auch den Weg in ihre Gemälde findet? Oder geht tatsächlich ein Fluch von der Grabstädte des alten Lord Rochester aus, wie es Richards erste Frau in ihren Tagebüchern aufgeschrieben hat?

Lydia schaute nachdenklich aus dem Fenster, betrachtete die vorbeischweifenden Hügel nur mit mäßigem Interesse. Hier und da tauchte ein alter Hof auf und einmal mussten sie Halt machen, weil eine Schafherde die Straße überquerte. Die Umrisse von Rochester-House waren längst hinter den Hügeln verschwunden und damit wich seltsamerweise auch der Druck von ihrer Seele

Ziemlich genau zum 5. Todestag von Michael Knoke veröffentlichte sein literarischer Nachlassverwalter Jörg Kleudgen in seiner Goblin Press einen weiteren Roman des 2010 überraschend verstorbenen Autors. Außergewöhnlich für die Goblin Press und auf den ersten Blick ebenso außergewöhnlich für Michael Knoke – hält man zum Beispiel den autobiografisch gefärbten Psycho-Road-Trip Im Wendekreis der Angst dagegen – erweist sich Nacht über Rochester als lupenreiner Romantic Thriller für ein typischerweise weibliches Publikum. Das Nachwort von Eric Hantsch klärt dann auch auf, dass Nacht über Rochester tatsächlich als Beitrag für die bekannte Romantic-Mystery-Reihe Gaslicht geplant war.

Und Knoke lässt bei seinem Ausflug in den Frauengrusel kein Klischee aus, was ja auch von einer gewissen Fingerfertigkeit und professioneller Souveränität zeugt. Die ebenso attraktive wie gebildete Künstlerin – die Projektionsfläche für alle Leserinnen – hat sich auf die Fahnen geschrieben, dem gutaussehenden und gutsituierten Witwer die Lust am Leben zurückzugeben. Die Operation »Neues Glück« erfolgt in einem geschichtsträchtigen Herrenhaus, in dessen Hintergrund sich unablässig die Wellen des Atlantiks an den Klippen brechen. Ebenso stark und aufgewühlt wie Lydias Gefühle ihrem Mann gegenüber, der sich mehr und mehr von ihr zurückzieht, ja, der sogar zeitweilig zu einem üblen Macho mutiert, der seine Frau zum seinem puren Vergnügen für sich strippen lässt. Und da der Roman aus der Prä-50 Shades-Epoche stammt, ist das für Lydia und den Leser natürlich absolut verwerflich.

Weiterhin tummeln sich in und um Rochester-House noch eine geheimnisvoll-verhüllte Gestalt, die immer wieder gefährlich nahe an den Klippen gesichtet wird, sowie das Dienstpersonal des Hausherren, das mehr über das ungewöhnliche Verschwinden von Roberts erster Frau weiß, als es zugibt. Ist der vermeintliche Mister Perfekt am Ende eine Art Blaubart?

Obwohl es sich stellenweise bemerkbar macht, dass Knoke im Rahmen der Romanreihe auf eine gewisse Länge kommen musste, gelingt es ihm vor allem durch die ausdrucksstarke Beschreibung des Schauplatzes eine dichte Atmosphäre der Bedrohung aufzubauen, die Lydia gefangen hält. Das ungezähmte Meer, die Wolken, die sich scheinbar von Tag zu Tag mehr verdüstern und die Isolierung, die immer stärker auf Lydias Gemüt schlägt, werden hervorragend eingefangen. Die Auflösung der Geschichte kommt dann wieder sehr genretypisch um die Ecke, und die Macht von Lydias bedingungsloser Liebe zu ihrem Mann kann das Böse, das auf Rochester-House lauert und immer stärker von Robert Beitz ergreift, in seine Schranken weißen. Die Sonne bricht durch die Wolken, die Wellen des Ozeans verflachen und das Paar sieht einer glücklichen Zeit entgegen.

Nahmen sich die ersten Arbeiten von Michael Knoke noch ungeschliffen und sperrig aus, ist hier bemerkbar, dass sich der Autor über die Jahre zu einem geübten Schreiber entwickelt hat, der auch gefälligere, serientaugliche Texte für ein breiteres Publikum in petto hat. Außer diesem Gaslicht-Auftrag (ein zweiter erschien posthum in der Sammlung Der Fluch der Hexe, Zaubermond Verlag, 2012) schrieb er für Basteis Romanreihe Dämonenland und die SF-Serie Titan (Blitz-Verlag).

Wie alle Veröffentlichungen der Goblin-Press ist auch Nacht über Rochester in Handarbeit gefertigt und nur im Direktvertrieb beim Herausgeber (über goblin-press.de) erhältlich.

Fazit:
Alles in allem stellt Nacht über Rochester im Kontext der Knoke’schen Texte eine interessante Ergänzung dar und muss nicht als Außenseiter gelten oder gar verschwiegen werden. Immerhin gelingen dem Autor nicht wenige Szenen voller düster-bedrohlicher Atmosphäre, sodass auch eingefleischte Horror-Leser den Ausflug in die »Romantics« nicht bereuen werden.

(eh)