Ausschreibung
Sternenlicht-Anthologie

Download-Tipp
Band 6

Heftroman der Woche

Archive
Folgt uns auch auf

Der Schwur – Zweiter Teil – Kapitel 8

Der-SchwurDer Schwur
Historischer Roman aus dem mexikanischen Unabhängigkeitskrieg

Zweiter Teil
Ein moderner Odysseus

Kapitel 8
Sieg der Liebe über die Pflicht

Außer der von Hauptmann Tres-Villas vorausgesehenen notwendigen Folge seines Entschlusses gab es eine, an die er nicht hatte denken können.

Ein in die Hazienda geworfener Blick wird dies klarmachen.

In dem Saal, den der Leser schon kennt, fanden sich Don Mariano und seine beiden Töchter vereinigt. Ihre Lage war ganz dazu angetan, das Schweigen, das der Aufforderung des königlichen Offiziers gefolgt war, zu rechtfertigen. Arroyo und Bocadro standen mit gezückten Dolchen vor der Tür und zeichneten dem Eigentümer der Hazienda genau die Schritte vor, die er einschlagen sollte.

»Hört, Señor Don Mariano«, sagte der Bandit mit der ihm eigenen brutalen Ausdrucksweise. »Ich glaube gern, dass Eure Rechtschaffenheit es von der Hand weisen wird, die Gäste des Hauses auszuliefern.«

»Das ist richtig«, erwiderte Don Mariano, »und Ihr könnt überzeugt sein …«

»Ich weiß es, Ihr werdet diese Auslieferung ablehnen, aber dieser Teufelskerl, der Hauptmann, wird das Tor sprengen und uns gefangen nehmen, ohne sich an Eurem Geschrei zu kehren. Und dem will ich entgehen.«

»Wisst Ihr ein Mittel, dies zu hindern?«

»Ohne Zweifel, es gibt ein sehr einfaches. Dieser Teufelskerl ist früher Euer Freund gewesen. Wenn ich in meiner Eigenschaft als Diener – ehemaliger nämlich – Eures Hauses über das, was hier vorgegangen war, gut unterrichtet bin, so hat er unter anderen auch noch eine Schwäche für die wunderschöne Donna Gertrudis und deshalb wird er auf die schreckliche Gefahr Rücksicht nehmen, in die Euch sein Ungestüm bringen kann.«

»Eine Gefahr? Ich verstehe dich nicht.«

»Ihr sollt mich sogleich verstehen. Ihr müsst dem Hauptmann sagen, dass, wenn er das Tor sprengt, er uns zwar lebendig erwischen, zugleich aber Euch und Eure Töchter als Leichen wiedersehen wird. Versteht Ihr mich jetzt?«

Die Worte Arroyos hätten weniger bestimmt sein können, denn der Ausdruck der Wildheit, der über seinem Gesicht ausgebreitet lag, verriet seine Gedanken hinreichend. Die beiden Töchter Don Marianos warfen sich, von Schrecken übermannt, in ihres Vaters Arme.

In diesem Augenblick ließ sich der Ton der Trompete zum zweiten Mal vernehmen und die drohende Stimme des Soldaten drang bis zu den Bewohnern der Hazienda.

Don Mariano, der vor dem Schicksal erzitterte, das seinen Töchtern von den beiden ehemaligen Verqueres, deren Gefährten den Korridor besetzt hielten, drohte, ließ auch diese zweite Aufforderung ohne Antwort vorübergehen, obgleich sie schon in einem gebieterischen Ton gehalten war als die erste.

»Alle Teufel!«, brüllte der Bandit. »Da sind nicht viel Ausflüchte zu machen! Zeigt Euch am Fenster, wenn Ihr Furcht habt, dem wütenden Hauptmann unter die Nase zu treten, und sagt ihm die Geschichte rund heraus, wenn nicht …«

Die Trompete, die jetzt zum dritten Mal ihre herausfordernden Töne erschallen ließ, unterbrach den Banditen.

»Plündert das Haus der Feinde Spaniens!«, rief eine männliche Stimme, deren Klang in der Seele Gertrudis’ zugleich ein Beben des Schreckens und der Freude erregte.

Es war die Stimme Don Rafaels.

»Halt, noch einen Augenblick!«, rief Don Mariano, der in einem Säulengang erschien, welcher die Freitreppe überragte und von wo aus sein Blick die Ebene beherrschte. »Ich habe zwei Worte mit Eurem Hauptmann zu sprechen. Wo ist er?«

»Hier bin ich. Seht Ihr mich nicht?«

»Ah, Verzeihung!«, sagte Don Mariano mit bitterem Lächeln. »Ich habe bisher in dem Capitano Tres-Villas nur einen Freund gekannt und erkenne ihn daher in dem Mann, der mir mit Zerstörung des Hauses drohte, in dem er selbst einst Gastfreundschaft genossen hat, nicht wieder.«

Diese unklugen Worte, bei welchen Don Mariano eine gewisse Ironie nicht hatte unterdrücken können, lockten eine lebhafte Röte auf die vorhin totenbleiche Stirn des Offiziers.

»Und ich«, entgegnete er, »ich sehe heute in Euch nur noch einen Beschützer der gottlosen Insurrektion, die ich zu ersticken geschworen habe, und den Herrn eines Hauses, das Banditen beherbergt. Habt Ihr nicht gehört, dass Ihr sie mir ausliefern sollt?«

»In keinem Fall würde ich die verraten, die ich zu verteidigen versprochen habe«, antwortete Don Mariano, gegen seinen Willen über die Grenze hinausgerissen, die er sich gesteckt hatte. »Aber in diesem Fall bin ich nicht einmal Herr meines Willens. Ich bin beauftragt, Euch zu sagen, dass die, welche Ihr verfolgt, meine beiden Kinder und mich erdolchen werden, ehe sie in Eure Hände fallen. Unser Leben bürgt jetzt für das Ihre, Hauptmann. Es liegt nun an Euch, ob Ihr ferner noch darauf beharrt, dass sie Euch ausgeliefert werden.«

Die frühere Bitterkeit war aus der Sprache Don Marianos verschwunden und namentlich waren die letzten Worte mit einem würdevollen, aber traurigen Ernst ausgesprochen worden.

Eine Wolke verdunkelte die Augen Don Rafaels bei dem Gedanken, dass Gertrudis unter den Dolchen der Guerilleros verbluten sollte, die er für fähig hielt, eine solche Drohung auszuführen. Er fühlte sich fast glücklich, dass sich ihm hier eine nicht weniger gebieterische Pflicht der Menschlichkeit zu erfüllen darbot, als die, welcher er bisher gehorcht hatte.

»Gut«, sagte er nach kurzem Schweigen, denn diesmal war seine Festigkeit im Voraus besiegt. »Bringt dem Banditen, den man Arroyo nennt, das feierliche Versprechen, dass er nichts zu befürchten hat, wenn er sich zeigt. Ich stelle ihm diese Bedingung nicht etwa als Verzeihung, sondern für den Aufschub, den zu bewilligen mir die Menschlichkeit zur Pflicht macht.«

»O, ich bedarf Eures Wortes nicht!«, rief der Bandit unverschämt, sich an der Seite Don Marianos zeigend. »Habe ich da drin nicht Geiseln, welche besser für mein Leben bürgen? Nun, was wollt Ihr von Arroyo, Señor Capitano?«

Der Capitano, mit geschwollenen Stirnadern, vor Wut zuckenden Lippen und blitzenden Augen beim Anblick eines der Mörder seines Vaters dastand, eines Mannes, den er so lange vergeblich verfolgt hatte, des Banditen endlich, dessen er sich nun lebend bemächtigen konnte und den er sich entwischen lassen sollte, hatte einen Augenblick nötig, um die ungestümen Leidenschaften ein wenig austoben zu lassen, die im Grunde seines Herzens wüteten.

Unwillkürlich riss seine krampfhaft geballte Faust ungestüm den Zügel seines Pferdes zurück, die Sporen bearbeiteten die Flanken und das gequälte Tier richtete sich auf seinen Hinterfüßen hoch auf und stürzte mit einem Satz fast gegen das Tor der Hazienda.

Man hätte glauben können, dass sein Reiter das Hindernis, welches ihn von dem wilden Guerillero trennte, übersteigen wollte. Der Bandit konnte eine Gebärde des Schreckens kaum unterdrücken.

»Was ich von Arroyo will?«, rief der Hauptmann endlich. »Nichts weiter, als mir seine Züge ins Gedächtnis prägen, damit ich ihn nicht verkenne, wenn ich ihn einst verfolgen werde, um ihn lebend an den Schweif meines Pferdes zu binden.«

»Wenn Ihr mich darum gerufen habt, um mir diese Artigkeiten zu sagen, so …«

Der Bandit machte Miene, in die Hazienda zurückzukehren.

»Höre«, schrie Don Rafael. »Dein Leben ist dir verbürgt, ich habe es versprochen. Die Menschlichkeit gebietet mir, es zu schonen.«

»Auch weiß ich Euch dafür keinen Dank, Hauptmann!«

»Dein Dank wäre eine Beleidigung. Wenn aber in dem Stück blutigen Kots, das dir als Herz dient, irgendeine Spur von Mut und Tapferkeit wohnt, so steig aufs Pferd, wähle eine Waffe, die dir gefällt, und komm allein aus der Umfriedung. Ich fordere dich zu einem Kampf auf Leben und Tod heraus!«

Indem der Hauptmann so sprach, richtete er sich hoch in den Steigbügeln auf, und der Adel seiner Haltung bildete einen schneidenden Gegensatz zu der gemeinen und tierischen Haltung des Mannes, den er herausforderte. Arroyo aber fühlte nur Mut, ihn mit den Augen zu verschlingen.

»Bah! Wahrhaftig!«, sagte er, indem er affig scherzte. »Eine schöne Herausforderung, fünfzig gegen einen!«

»Ich verpfände hier feierlich vor meinen Soldaten und vor Gott mein Wort als Edelmann, dass, was auch der Ausgang unseres Kampfes sein wird – wenn ich nämlich unterliege, dir nichts geschehen soll.«

Einen Augenblick lang blieb der Bandit unentschlossen und stumm. Man hätte glauben können, dass er die Chancen dieses Kampfes abwog. Er hatte zu oft die persönliche Tapferkeit des Hauptmanns kennengelernt, um zu finden, dass sie zu seinen Gunsten ausschlugen. Er wagte nicht, den Zweikampf anzunehmen.

»Ich schlage es aus«, sagte er.

»Behalte noch dein Pferd, ich will dich zu Fuß bekämpfen.«

»Teufel, ich schlage es aus«, sage ich Euch!

»Ich vermutete es, aber höre noch einen Vorschlag. Ich lasse dir mein Wort verpfändet, dass dir nichts geschehen soll, wenn du den Bewohnern dieses Hauses, die ich dir nennen werde, gestatten willst, es verlassen zu dürfen, um sich mit mir unter die Obhut eines rechtschaffenen Feindes zu stellen.«

»Auch dieses schlage ich aus«, erwiderte Arroyo.

»Geh, du bist kein Mann. Und wenn dich diese Hand einst ergreift, so will ich, anstatt mit dir wie mit einem Menschen zu verfahren, dich wie einen Hund behandeln und unter der Peitsche sterben lassen.«

Nach diesem schrecklichen Lebewohl ließ der Hauptmann sein Pferd eine Wendung machen und wandte dem Banditen den Rücken mit einer Miene, welche die tiefste Verachtung ausdrückte. Die Trompete schmetterte von Neuem und der Trupp schlug den Weg in die Berge wieder ein. Zwei Gefühle bestürmten nach diesem Zusammentreffen, dessen Erfolg ein so schmerzlicher für den Hauptmann sein sollte, die Seele Don Rafaels, einmal die Erinnerung an die fast zu aufrichtigen Worte Don Marianos und dann die tödliche Unruhe, die er bei dem Gedanken empfand, die beiden Mädchen in der Gewalt eines solchen Scheusals wie Arroyo zurücklassen zu müssen.

Zum Glück ging in Betreff dieses Gegenstandes nur ein Teil seiner Befürchtungen in Erfüllung, denn er vernahm durch einen seiner Kundschafter, dass dieses Mal Arroyo und Bocadro nach Plünderung der Hazienda die Provinz verlassen und dass die Bewohner von Las Palmas nicht das Unglück gehabt hatten, auch noch einem anderen Geschick zu erliegen.

Jetzt traf Don Rafael ohne Versäumnis Anstalten, dem Befehl seiner Vorgesetzten zu gehorchen und zu seinem Korps abzugehen. Caldelas erhielt ein Kommando, und beide überließen bei ihrer Abreise die Garnison der Hazienda del Valle einem katalanischen Leutnant Namens Veraegui.

Don Rafael hatte tätigen Anteil an der Schlacht bei Calderon genommen, in welcher der General Calleja mit sechstausend Mann die hunderttausend Mann Insurgenten Hidalgos zerstreute. Dann hatte er fortwährend auf verschiedenen Punkten des Königreichs die Waffen gegen die Insurgenten getragen und kehrte von San Blas nach Oajaca auf dem Schiff zurück, auf dem wir ihn in einem Moment vorüberhuschen sahen, als bei seiner Ankunft neue Befehle ihn zur Belagerung von Huajapam gerufen hatten.

Sein alter Waffenbruder Caldelas befand sich beim Belagerungsheer als Brigadegeneral, während Don Rafael, weniger glücklich als er, nur den Grad eines Obersten führte.

 

***

 

Nach dieser Abschweifung wollen wir zu Julian zurückkehren, der den Oberst in eine so lebhafte Aufregung versetzt hatte, als er vorgab, eine dringende Botschaft zu überbringen.

Die Trennung lässt eine flüchtige Neigung fast spurlos vorüberziehen, während sie eine tief gewurzelte Leidenschaft umso glühender aufstachelt, ähnlich wie der Wind ein Licht verlöscht, eine Feuersbrunst aber vermehrt. Auf Rafael hatte die Trennung wie der Wind auf die Feuersbrunst gewirkt. Er hoffte immer noch, dass Gertrudis ihm eine Botschaft der Verzeihung und Liebe zukommen lassen würde.

Daraus ist nun wohl die Aufregung zu erklären, die Don Rafael ergriff, als er die Nachricht von der Ankunft eines Boten vernahm.

»Nun, Julian, was habt Ihr mir zu melden?«, fragte der Oberst, indem er nach Möglichkeit die Bewegung zu verheimlichen suchte, die ihn beherrschte. »Haben sich die Insurgenten unserer Zitadelle bemächtigt?«

»Ach nein!«, erwiderte Julian. »Die Leute unserer Garnison beklagen sich nur darüber, dass man ihnen zu viel Ruhe lässt. Einige Streifzüge ins Land, bei denen die Plünderung irgendeiner reichen Hazienda mit unterliefe, würden ihnen gerade recht sein. Übrigens sind auch die Nachrichten, die ich bringe, der Art, ihnen diese kleine Genugtuung zu verschaffen.«

»Ihr bringt mir also eine kriegerische Nachricht?«, fragte der Oberst mit einer Miene trüber Enttäuschung, die Julian auffiel.

»Eine Rachebotschaft. Um aber mit dem minder Wichtigen anzufangen, so glaube ich, dass es Eurer Herrlichkeit angenehm sein wird, zu hören, dass ich das brave Tier, den Roncador, mitbringe.«

»Roncador?«

»Ja, dasselbe Pferd, das bei dem Angriff der Insurgenten bei Las Palmas verloren ging. Irgendjemand hat es gewiss herrlich gepflegt und uns zur Hazienda zurückgeschickt.«

»Wer hat es zurückgeschickt?«, fragte Don Rafael lebhaft.

»Wer würde es anders sein können, wenn nicht Don Mariano Silva? Einer seiner Leute führte uns den Roncador vor drei Tagen mit den Worten zu, dass der Herr, dem dieses Pferd gehört, es vielleicht mit Vergnügen wiedersehen würde. Wie Ihr es mit Sattel und Zaum eingebüßt hattet, wurde es auch mit Sattel und Zaum zurückgeschickt, mit der einzigen Ausnahme, dass der Roncador an der Stirn eine allerliebste Schleife aus rotem Band trug, meiner Treu!«

»Wo ist die Schleife?«, fragte Don Rafael mit umso größerem Interesse, als er zu erraten glaubte, wessen Hand sie dort angeheftet hatte.

»Einer unserer Leute, Felipo El Galan, hat sich davon eine Kokarde gemacht.«

»Felipo ist ein Schurke, den ich für seine Indiskretion zu züchtigen wissen werde!«, rief Don Rafael zornig.

»Ich habe ihn gewarnt, mag er es nun ausbaden. Ich muss Euch auch noch sagen, dass der Bote einen Brief für Euch mitbrachte.«

»Warum habt Ihr mich nicht gleich davon benachrichtigt?«

»Ich fing mit dem Anfang an«, entgegnete Julian phlegmatisch. »Hier ist der Brief.«

Bei diesen Worten zog der Bote ein kleines Paket Maisblätter aus seiner Tasche, in das er vorsichtshalber den Brief eingeschlagen hatte, und gab ihn Don Rafael, der ihn mit zitternder Hand, deren Beben er vergeblich zu beherrschen suchte, ergriff.

»Gut«, sagte er mit erzwungener Ruhe. »Was habt Ihr mir jetzt noch zu sagen?«

Dieser Brief konnte von Gertrudis sein, und der Oberst hatte bei dieser Miene erkünstelter Kälte keinen anderen Zweck, als sich die Wonne vorzubehalten, ihn zu lesen, wenn er allein sei.

»Arroyo und Bocadro sind mit ihren Banditen wieder in der Provinz erschienen«, fügte Julian hinzu, »und der Leutnant Veraegui schickt mich …«

»Arroyo und Bocadro!«, unterbrach ihn Don Rafael, plötzlich aus dem Traum süßer Schwärmerei gerüttelt und seinen Rachegedanken wieder hingegeben. »Sagt meinerseits dem Leutnant Veraegui, er möge den Pferden die doppelte Ration geben lassen, um sie tüchtig zu machen, ins Feld zu ziehen, und dass ich in einigen Tagen bei ihm sein werde, den Streifzug zu beginnen. Denn nach dem letzten Angriff, den wir versuchen werden, muss Huajapam entweder fallen, oder wir heben die Belagerung auf. Ich werde dann einen Urlaub vom kommandierenden General erlangen, um uns endlich dieser beiden Banditen zu bemächtigen, und sollten wir Feuer an allen vier Ecken der Provinz anlegen müssen, so werden wir es tun. Jetzt geh, Julian.«

Der Bote schickte sich an, das Zelt zu verlassen, als Don Rafael, der den Brief, von dem er sich einen Augenblick des Glückes versprach, auf dem Tisch liegen sah, sich von Neuem an Julian wandte und sagte: »Nehmt! Ihr habt gute Nachrichten gebracht und ich will Euch dafür belohnen.«

Er drückte ihm ein Quadrupel (spanische Goldmünze, 21 Taler preußisch) in die Hand, den Julian hurtig einsteckte, aber nicht ohne höchstmöglich erstaunt zu sein, sich so freigebig für die Überbringung der Nachricht, dass Arroyo und seine Bande wieder aufgetaucht seien, belohnt zu sehen. Indessen war seine Zufriedenheit größer als sein Erstaunen.

Als er hinausgegangen war, ergriff Don Rafael den Brief und hielt ihn einen Augenblick in seiner Hand, ohne ihn zu öffnen. Sein Herz schlug mit aller Macht, denn er zweifelte nicht mehr daran, dass dieser Brief von Gertrudis sei. Auch war dies das erste Zeichen der Erinnerung, das er von ihr seit den zwei Jahren, in denen er sich der spanischen Sache in die Arme geworfen, empfing.

Endlich brach er das Siegel. Der Brief, der von Frauenhand, die aber ebenso gut die Marianitas sein konnte, geschrieben war, bestand nur aus wenigen Worten, die nichts Bestimmtes enthielten:

Die Bewohner von Las Palmas haben nicht vergessen, dass sie Don Rafael in einer sehr kritischen Lage verpflichtet gewesen sind. Sie haben geglaubt, dem Obersten eine Freude zu bereiten, indem sie ihn wieder zu dem Beisitz seines Pferdes verhelfen, eines Pferdes, welches der Hauptmann Tres-Villas einigen Grund hat zu lieben.

»Mir verpflichtet!«, rief Don Rafael mit Bitterkeit. »Welcher Undank! Könnte man nicht glauben, dass ich ihnen, indem ich dem Eid, den ich bei dem Haupt meines Vaters geschworen hatte, ihretwegen untreu wurde, nur einen Dienst reiner Galanterie geleistet hätte? Versuchen wir, nicht mehr an die zu denken, die uns vergessen haben.«

Dennoch steckte der Oberst mit einem tiefen Seufzer ein Papier, von dem er vermutete, dass es die Hände Gertrudis’ berührt hätten, in eine kleine Tasche seiner Uniform, die dem Herzen zunächst angebracht war.

Ein Hoffnungsstrahl leuchtete immer wieder während des Weges von seinem Zelt zu dem des kommandierenden Generals, wo der Kriegsrat sich versammeln sollte, in seinem wunden Herzen aus. Gertrudis wusste, wie wert ihm dies von ihrer Hand so oft liebkoste Pferd war. Ohne Zweifel sandte sie es ihm deshalb mit einer roten Bandschleife zurück, die dazu dienen sollte, ihn an die Blumen zu erinnern, die sie in einer glücklicheren Zeit an die Stirn des Tieres befestigt hatte.

Der Brigadier Bonavia, die Kommandanten Caldelas und Regules saßen um einen mit einem groben grünen Teppich behangenen Tisch, als der Oberst in das Zelt trat.

»Nun, Oberst«, sagte der Brigadier, »ich habe gehört, dass Ihr soeben eine Botschaft erhalten habt. Ist sie vertraulicher Natur oder hat ihr Inhalt Interesse für die königliche Sache?«

»Der Leutnant, der für den König die Hazienda del Valle befehligt, hat mich benachrichtigt, dass die beiden Guerilleros, Arroryo und Bocadro, die beide Parteien für vogelfrei erklären sollten, mit ihrer Bande wieder in der Provinz erschienen sind. Nach der Einnahme dieses Nestes werde ich mir erlauben, bei Eurer Exzellenz um den Auftrag anzuhalten, sie selbst wie wilde Bestien verfolgen zu dürfen.«

»Dieser Auftrag soll Euch erteilt werden. Ich könnte keinen Würdigeren für ihn finden.«

»Niemand würde sich wenigstens mit mehr Eifer demselben unterziehen«, fügte Don Rafael hinzu.

Der Kriegsrat begann. Ohne einen mehr ins Einzelne gehenden Bericht vom gegenwärtigen Stand der Dinge mitzuteilen, werden wir uns auf das beschränken, was unumgänglich notwendig zur Kenntnisnahme der Lage der Belagerer und der Belagerten ist.

»Meine Herren«, begann der General, »morgen sind es 114 Tage, dass wir die Belagerung dieses Dinges, welches der Oberst Tres-Villas mit Fug und Recht ein Nest nannte, eröffnet haben. Ohne die Scharmützel zu zählen, haben wir 15 Angriffe unternommen und sind dennoch ebenso wenig vorgerückt wie am ersten Tag.«

»Sogar weniger vorgerückt«, sagte Regules, als der Brigadier sein kurzes Resümee beendigt hatte, »denn das Selbstvertrauen der Belagerten ist durch den Erfolg ihres Widerstandes gewachsen. Sie hatten nicht eine einzige Kanone und der Oberst Trujano besitzt heute drei Stück, die ihm die Kirchenglocken geliefert haben.«

»Somit könnte man aus der Rede folgern, dass der Kommandant Regules der Ansicht ist, die Belagerung aufzuheben!«, rief Caldelas mit einigem Spott.

Seit Langem herrschte schon eine geheime Erbitterung zwischen den beiden Brigade-Generalen Caldelas und Regules, von denen der eine einen seltenen Mut und eine seltene Redlichkeit besaß, während der andere dagegen oft grausam ohne Not und von einem mehr als zweifelhaften Mut war.

»Wir haben hier die Frage zu verhandeln, ob wir die Belagerung aufheben oder fortsetzen wollen«, unterbrach sie der General. »Es kommt dem Oberst Tres-Villas als dem Jüngsten und dem am wenigsten in der Rangordnung Hochstehenden zu, zuerst seine Meinung abzugeben. Sprecht, Oberst.«

»Wenn fünfzehnhundert Mann einen Ort wie Huajapam, der von kaum vierhundert verteidigt wird, belagern, so müssen sie entweder den Platz nehmen oder sich bis auf den letzten Mann unter seinen Wällen niederhauen lassen, denn jedes andere Verfahren hieße ihre eigene Ehre und den Erfolg der Sache, der sie ihre Kräfte gewidmet haben, gefährden. Das ist die Ansicht, die ich die Ehre habe, Eurer Exzellenz zu unterbreiten.«

»Was ist Eure Ansicht, Kommandant Caldelas?«

»Die des Obersten«, entgegnete Caldelas. »Die Belagerung aufheben, wäre das verderblichste Beispiel für die Royalisten und eine bedauernswerte Ermächtigung für die Insurrektion. Was würde dazu der ehrenwerte Oberkommandant der königlichen Truppen, Don Felix Calleja, sagen? Er belagerte auch volle hundert Tage in Cuautla einen viel gewandteren und furchtbareren General als Trujano ist, Don Morelos, und am Ende des hundertsten Tages war er Herr der Stadt.«

»Morelos war geflohen«, warf Regules ein.

»Was tut’s? Er räumte dadurch ein, dass er besiegt war, und das spanische Banner hat den Verdienst, ihn belagert und besiegt zu haben.«

Jetzt war die Reihe an Regules, seine Ansicht auszusprechen.

Er zählte in weitschweifiger Weise die Länge und die Schwierigkeiten der Belagerung auf, die unfruchtbaren und blutigen Angriffe, die geliefert worden waren, er suchte auseinanderzusetzen, wie verderbenbringend es ihrer Sache sei, einen leeren Ehrenpunkt der politisch gebotenen Notwendigkeit vorzuziehen, die gebieterisch fordere, nicht vor einem Dorf ohne alle Wichtigkeit das Leben von tausend braven Soldaten aufzuopfern, während der General Don Morelos gen Oajaca marschiere.

»Und wenn ich tausend Soldaten sage, setzte er hinzu, so geschieht dies nicht ohne Grund, denn der Colonel, der von fünfzehnhundert sprach, hat die Toten mitgezählt … Bis jetzt«, fuhr er fort, »haben wir es auf allen Punkten des Königreichs, wo wir mit den Insurgenten zusammentrafen, mit Leuten zu tun gehabt, die von dem, was sie Vaterlandsliebe nennen, elektrisiert waren, während wir jetzt fanatisierten Leuten gegenüberstehen, die durch den schwärmerischen Geist Trujanos, den er auch den Bewohnern der kleinen Stadt einzuflößen gewusst hat, nicht mehr dreihundert Feinde, sondern tausend Fanatiker geworden sind, die verzweifelt kämpfen und singend sterben. Während wir hier vergebens unsere Kräfte verschwenden, breitet sich die Insurrektion in der Provinz aus, und wir verlieren nur kostbare Zeit, die nützlicher angewendet wäre, sie zu ersticken. Meine Ansicht geht dahin, die in jeder Weise verderbliche Belagerung aufzuheben.«

»Die Belagerten erinnern sich der Heldentaten von Yanguitla«, sagte Caldelas, »und das ist der Grund, warum sie sich so hartnäckig verteidigen.«

Bei dieser Anspielung, deren Sinn dem Leser später klar werden wird, biss sich Regules auf die Lippen und antwortete mit einem Blick voll Hass dem spöttischen Blick Caldelas.

Vom Gesichtspunkt eines kommandierenden Generals, der für das Leben seiner Soldaten verantwortlich ist, und der dem Ehrgefühl eines Offiziers von untergeordnetem Rang weniger zugänglich ist, ermangelten die Gründe die Regules angeführt hatte, nicht einer gewissen Haltbarkeit und der General teilte seine Ansicht.

Ohne indessen von dem Übergewicht, das ihm sein militärischer Rang und das Ansehen als Befehlshaber verlieh, Gebrauch zu machen, schlug er einen Mittelweg vor.

Es sollte am folgenden Tag noch ein letzter furchtbarer Sturm versucht, die Belagerung aber aufgehoben werden, wenn er fruchtlos wie die übrigen ausfiel.

Der General sprach noch, als sich ein unbestimmter und ferner Lärm vonseiten der Stadt her vernehmen ließ. Übrigens schien dieser Lärm nur durch einen von vielen Kehlen angestimmten feierlichen Lobgesang herzurühren. Stets verschwanden die Klänge vor den Tönen der Trompeten und dem Krachen zahlreicher als Freudenzeichen abgebrannter Raketen.

»Diese öffentlichen Freudenausbrüche sind für uns eine schlimme Vorbedeutung!«, rief Regules aus, als man sich nicht mehr länger über die Natur des freudigen Tumults täuschen konnte. »Nicht morgen, nein heute noch muss die Belagerung aufgehoben werden.«

»Das heißt mit anderen Worten, dass man vor Petarden fliehen muss!«, entgegnete Caldelas.

»Wie die Mauern von Jericho bei dem Schall der Posaunen zusammenstürzten!«, fügte der Colonel hinzu.

»Möchte ich doch unrecht haben!«, sagte Regules.

Trotz seiner Ansicht wurde der Entschluss, am folgenden Tag noch einen Angriff zu wagen, angenommen.

Dieser Sturm sollte jedoch nicht stattfinden.

Der Kriegsrat war aufgehoben, die Offiziere kehrten in ihre Zelte zurück. Don Rafael hatte große Eile, allein zu sein, um nach Wohlgefallen über die Botschaft, die er empfangen hatte, nachdenken zu können, und vorzüglich, um den Hoffnungsstrahl, der in sein bisher so trauriges Herz gedrungen war, zu hegen.

Er hörte nicht einmal auf das Freudengeschrei der Belagerten, obgleich sich jedermann im spanischen Lager damit wie mit einem unglücklichen Vorzeichen herumtrug.