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Der Schwur – Erster Teil – Kapitel 7

Der-SchwurDer Schwur
Historischer Roman aus dem mexikanischen Unabhängigkeitskrieg

Erster Teil
Der Dragoner der Königin

Kapitel 7
Eine Liebe in den Tropen

Don Louis Tres-Villas, der Vater Don Rafaels, war, obgleich selbst Spanier, einer der Ersten gewesen, der die Notwendigkeit der den mexikanischen Kreolen gemachten politischen Folgen, die der Vizekönig Don José Iturrigaray im Interesse Spaniens selbst gegeben, begriffen und gewürdigt hatte. Er gab den vom Vizekönig, welchem er ganz ergeben war, getroffenen liberalen Maßregeln seine volle Zustimmung. Nachdem die Ausführung derselben den Sturz des Vizekönigs herbeigeführt hatte, reichte Don Louis, der mit politischem Scharfblick folgerte, dass dieser Unfall für immer die Bande, welche die Kreolen an die Spanier fesselten, zerreißen würde, seine Entlassung als Hauptmann der Garde Iturrigarays ein und zog sich auf seine Hazienda del Valle zurück.

Diese Hazienda lag auf der entgegengesetzten Seite der Berge, an deren Fuß sich die Hazienda Don Mariano Silvas erhob. Beide Männer hatten sich in Mexiko kennengelernt, und die nunmehrige Nachbarschaft hatte das Band einer vorübergehenden Bekanntschaft enger geknüpft.

Sobald die Insurrektion Hidalgos ausgebrochen war, schickte Don Louis einen Eilboten an seinen Sohn, um ihn zu sich zu rufen. Don Rafael hatte einen Urlaub erhalten und war auf dem Heimweg, als er dem Studenten begegnete, wie wir im ersten Kapitel gelesen haben. Er glaubte indessen dem kindlichen Gehorsam keinen Eintrag zu tun, wenn er einen oder zwei Tage in der Hazienda las Palmas verlebte, wohin er dann seinen Weg einschlug.

Während eines fast dreimonatlichen Aufenthaltes, den Don Mariano im vorhergehenden Jahr in Mexiko genommen hatte, entspann sich zwischen dem jungen Offizier und Doña Gertrudis – Marianita war in Oajaca bei einem nahen Verwandten zurückgeblieben – eine jener Liebesromanzen, dem bei der Angemessenheit des Alters, der Gleichheit der sozialen Stellung und des Vermögens, mit einem Wort die Vereinbarungen, die gewisse Aussicht auf die prosaische Wirklichkeit, Heirat genannt, nicht fehlte. Eine notwendige Abreise, durch die eiserne Strenge der militärischen Disziplin geboten, während welcher Don Mariano Mexiko plötzlich verlassen hatte, verhinderte damals allein nur eine Entwicklung der Romanze, die ihr Ende gleich sah.

Don Rafael hatte zwar nie seine Leidenschaft der, welche der Gegenstand derselben war, förmlich erklärt, er hatte aber zu hoffen gewagt, dass das junge Mädchen ihn genugsam verstanden habe, um sein offenes Geständnis ohne Zorn aufzunehmen. Ebenso wenig hatte er sich ihrem Vater entdeckt, indem er annahm, dies nicht vor der Einwilligung Doña Gertrudis’ tun zu können. Nach und nach trat, durch die Entfernung genährt, die Erinnerung an die günstigen Anzeichen, die er bei Gertrudis bemerkt zu haben glaubte, in den Hintergrund, und zwar um so stärker, je mehr sich die Erinnerung an ihre Schönheit ihm aufdrängte. Bald gelangte er von einem grausamen Zweifel zu einer noch grausameren Gewissheit, nicht geliebt zu sein. Don Rafael wollte die Erinnerung an Doña Gertrudis aus seiner Seele verbannen, indem er sich selbst einzureden suchte, dass er sie niemals geliebt habe. Zuletzt verfiel er in tiefe Melancholie.

In dieser Gemütsstimmung gelangte der erste Schrei der mexikanischen Unabhängigkeitsbestrebungen, der von Hidalgo ausging, zu seinen Ohren. Ohnehin schon von den liberalen Ideen, die sein Vater ihm eingeflößt hatte und die er in einem noch erhöhten Maße mit sich herumtrug, eingenommen, andererseits aber auch bewogen durch die leidenschaftliche Glut, mit der Don Mariano Silva und seine Tochter schon die Hoffnung auf eine, wenn auch noch so ferne Befreiung begrüßten. Der Billigung aller drei sicher, beschloss er in seinem finsteren Unmut, sich kühn unter das Banner der Insurrektion zu stellen und beim ersten Zusammenstoß zwischen den königlichen Truppen und den Insurgenten seine Brust den feindlichen Geschossen darzubieten, um sich von einem Dasein zu befreien, das ihm eine Last war.

Zum Glück für Don Rafael traf ihn der von seinem Vater gesandte Bote in dem Augenblick, wo er bereit war, dieses ganz verkehrte Mittel, in den Besitz der Geliebten zu gelangen, zur Ausführung zu bringen.

Im Vorübergehen sei hier bemerkt, dass der Bote es dem Offizier ganz einfach an das Herz legte, zu seinem Vater zurückzukehren, um von ihm Dinge zu erfahren, die viel zu wichtig waren, um dem Papier oder dem Mund eines Boten anvertraut zu werden.

Don Rafael, der seinen Vater nach seinem politischen Vorleben beurteilte, zweifelte keinen Augenblick, dass er ihn zu sich riefe, um ihn aufzufordern, seinen Arm der Sache der mexikanischen Unabhängigkeit zu leihen.

Don Rafael sah in dieser Reise, die er gewissermaßen gezwungen unternahm, ein ganz natürliches Mittel, die Gefühle des Herzens der Doña Getrudis zu sondieren und ihr die Verfassung des Seinigen zu entdecken. Dann verwarf er diese ritterliche Idee wieder, in Folge deren er sich selbst es versagt hatte, sich in Mexiko ihrem Vater Don Mariano ohne die Zustimmung seiner Tochter zu erklären. Er beschloss, sich ihm jetzt zu entdecken, denn seine glühende Leidenschaft wollte lieber den Besitz eines Weibes, ohne welches er nicht leben konnte, dem kindlichen Gehorsam verdanken, als auf diesen so glühend begehrten Besitz ganz und gar verzichten.

Wir begreifen nun wohl, mit welcher fieberhaften Ungeduld Don Rafael die hundert Meilen, die Mexiko von Oajaca trennen, durchflog und wie er aus Furcht, einen Tag später anzukommen, es verzog, sich einer Gefahr auszusetzen, damit er nur noch an demselben Abend die Hazienda las Palmas erreiche.

Hierbei ist kaum nötig zu erwähnen, dass er im Voraus den Aufenthalt der Reise berechnet hatte und dass er dem Boten, den er an seinen Vater abfertigte, auftrug, an der Hazienda las Palmas einzukehren, hier Tag und Stunde anzusagen, in welcher er rechnete, die Gastfreundschaft Don Marianos auf einen Tag und eine Nacht in Anspruch zu nehmen. Ohne die Angelegenheit zu kennen, die Don Rafael mit seinem Besuch verbannt, nahm Don Mariano denselben wie eine Höflichkeit auf, in der er dem Sohn seines Nachbarn und Freundes zu Willen sein durfte.

Was die Gefühle Doña Gertrudis’ anbetrifft, so ist es nicht mehr nötig, davon zu sprechen. Was hätte der verliebte Don Rafael darum gegeben, wenn er die geheime Freude gekannt hätte, mit der seine Ankunft erwartet wurde, und die glühenden Gelübde, die die schreckliche Gefahr, der er soeben entgegen trat, der Geliebten entrissen hatte, an sein Ohr gedrungen wären?

In derselben Zeit, in welcher er im Staat Oajaca ankam, brach sich dort auch die Revolution Bahn. Als Hidalgo es für die Zeit hielt, die Maske fallen zu lassen, hatte er in alle Provinzen Abgesandte platziert, um eine gleichzeitige Erhebung mit der in Valladolid zu ermöglichen. Die beiden nach Oajaca gesandten Emissäre waren zwei Landbewohner. Sie wurden von den spanischen Behörden ergriffen und hingerichtet, ihre Köpfe aber als abschreckendes Beispiel für die Insurgenten in der Hauptstraße von Oajaca aufgesteckt.

Trotz dieser Gewaltmaßregeln brach die Revolution aus. Ein anderer Landmann, Antonio Valdes, stellte sich an die Spitze der Bewegung und rief die Landleute zu der Fahne der Unabhängigkeit. Schon war das Blut mehrerer Spanier, die den Insurgenten in die Hände gefallen waren, geflossen. Valdes hatte sie ohne Mitleid geopfert.

 

***

 

In einem Saal des Erdgeschosses, der mit einigen Möbeln spanischer Fabrikation höchst einfach ausgestattet war und von dem aus zwei Türen zu einem ziemlich großen, mit Granatbäumen und anderen tropischen Gewächsen bepflanzten Garten führten, befanden sich die Gäste und fast alle Bewohner der Hazienda vereinigt, mit Ausnahme des Studenten und Marianitas.

Der Erstere, der sich nun, da er in Sicherheit war, an die schreckliche Nacht, die er unter einer Girlande von Tigern und Klapperschlangen zugebracht hatte, und an die nicht geringeren Gefahren, die er während der Zeit, wo Costal für seine Befreiung tätig war, zu bestehen hatte, mit Grauen erinnerte, wurde von einem Fieberanfall in seinem Bett zurückgehalten.

Die Letztere, Marianita, die sich unter dem Vorwand, einen Blick auf das in einen weiten See umgewandelte Tal werfen zu wollen, in Wahrheit aber, um sich zu versichern, ob die Barke Don Fernandos noch nicht sichtbar wurde, entfernt hatte, stand ungeduldig auf der Terrasse, die unendliche Wassermasse, die sich vor ihr ausdehnte, mit den Blicken überfliegend.

Don Mariano, in der doppelten Gemütsruhe eines Landbesitzers, dessen Zukunft der Reichtum sicherte, nach dem gewöhnlichen Verlauf der Dinge wenigstens, und eines Mannes, den sein Alter vom Joch jugendlich Leidenschaften befreit hatte, rauchte eine Zigarre, während er sich auf seinem Lehnstuhl behaglich streckte. Vor ihm stand ein kleiner Tisch, der mit prachtvollem Kaffeegeschirr gedeckt war.

Am Eingang in den Garten stand Don Rafael, äußerlich zwar ruhig, im Innern aber von dem Gedanken an die Unterhaltung, die er mit Doña Gertrudis führen wollte, bewegt. Zwischen Furcht und Hoffnung schwebend, schien er mit der Beharrlichkeit eines Naturforschers die Bewegungen der Vögel in den Gipfeln der Bäume zu beobachten.

Gertrudis war beschäftigt, eine große weiße Schärpe, wie sie die mexikanischen Kavaliere tragen, zu sticken. Ihr Gesicht drückte Ruhe aus. In Wahrheit aber war sie nichts weniger als ruhig, denn eine geheime Stimme sagte ihr, dass Don Rafael sich endlich erklären würde.

Nur eine Person zeigte in ihrer Haltung eine Übereinstimmung mit ihren Gedanken. Es war dies der Maultiertreiber Valerio Trujano.

Den Hut in der Hand stand er vor dem Besitzer der Hazienda. Er kam Abschied zu nehmen und sich für die unter seinem Dach genossene Gastfreundschaft zu bedanken.

»Ich komme, meinen Dank abzustatten und Euch Lebewohl zu sagen«, sprach Valerio, indem er sich vor Don Mariano verbeugte.

»Was, so schnell wollt Ihr uns verlassen?«, riefen Don Mariano, Gertrudis und Rafael wie aus einem Mund.

»Der Mensch, der von seiner Hände Arbeit lebt, gehört nicht sich selbst, Señor Mariano, wenn ihn sein Herz nach rechts zieht, treibt ihn die gebieterische Notwendigkeit des Lebens nach links. Der Verschuldete gehört sich noch weniger.«

»Ihr schuldet wohl eine bedeutende Summe?«, fragte Don Rafael lebhaft und mit ausgestreckter Hand auf Valerio zugehend. »Wollt Ihr sie mir nicht nennen? Sagt mir es, und wie groß auch die Summe sein möge …«

»Das wäre ein schlechtes Mittel, von dem einen Geld zu leihen, um den andern zu bezahlen«, erwiderte der Maultiertreiber lachend. »Ich würde nur ein Darlehen annehmen. Es geschieht keineswegs aus Stolz, sondern aus Pflicht, wenn ich Euer Anerbieten ablehne. Ich hoffe, Ihr seid mir darüber nicht böse. Nein, offen gestanden, die Summe ist ganz unbeachtlich – einige Hundert Piaster. Und da es Gott gefallen hat, dass meine Maultiere ein Asyl bei Don Mariano gegen die Überschwemmung fanden, so werde ich mich durch die Berge wieder auf den Weg nach Oajaca begeben und hoffe dort durch den Verkauf des Überflüssigen so viel einzunehmen, als ich bedarf, um mich von meinen Verbindlichkeiten zu befreien.«

»Was?«, rief Don Mariano. »Ihr wollt Euer sauer Erworbenes veräußern, um Euch von Euren Verbindlichkeiten loszumachen«

»Ja, um ganz und gar mir anzugehören und dahin zu gehen, wohin mein Beruf mich treibt. Ich würde dies schon längst ausgeführt haben, wenn mein Leben nicht bis jetzt meinen Gläubigern gehört hätte und nicht mir. Ich hatte nicht das Recht, es aufs Spiel zu setzen.«

»Ihr wollt Euer Leben aufs Spiel setzen?«, fragte Gertrudis nicht ohne ein gewisses Interesse.

»Ich habe die Köpfe der Revolutionsgesandten aufgesteckt gesehen. Wer weiß, ob nicht auch der meine bald ein gleiches Schicksal haben wird. Ich spreche hier ohne Rückhalt, wie vor Gott, denn ein Wirt verrät die Geheimnisse, die man ihm anvertraut, ebenso wenig wie Gott.«

»Ohne Zweifel«, erwiderte Don Mariano mit der gastfreundlichen Einfachheit des ersten Zeitalters. Wir aber sind alle hier der Freiheit des Landes zugetan und senden unsere Gebete für die zum Himmel empor, die es befreien wollen.«

»Wir werden noch weitergehen, wir werden ihnen unseren Arm leihen, um sie zu unterfischen«, sagte Don Rafael seinerseits; »das ist die Pflicht jedes Mannes, der ein Kriegsross besteigen und einen Degen führen kann.«

»Mögen alle diejenigen, die ihr Schwert zugunsten Spaniens erheben, der Schmach und Schande verfallen sein!«, rief Gertrudis mit leuchtenden Augen. »Mögen Sie weder ein Dach finden, das sie aufnimmt, noch ein Weib, das sie anlächelt! Die Verachtung aller derer, die sie lieben, möge das Erbteil der Vaterlandsverräter sein!«

»Gott und die Freiheit! Das ist meine Devise«, sagte Valerio. »Wäre ich eher frei gewesen, um mich der Sache meines Landes widmen zu können, so würde ich es getan haben und wäre es auch nur gewesen, die Exzesse zu verhindern, die schon manchmal ihre Heiligkeit besudelt haben. Sie verstehen mich doch, Señor Don Mariano?«

»Schon ist das Blut harmloser Spanier geflossen«, fuhr der Maultiertreiber fort, »und die einzige Stütze der heiligen Sache der Freiheit Neu-Spaniens, dieser so erbärmliche Antonio Valdes …«

»Antonio Valdes!«, rief Don Rafael aus, Trujano unterbrechend. »Was? Der Viehhirte des Don Louis Tres-Villas, meines Vaters?«

»Derselbe«, erwiderte Don Mariano mit besorgter Miene. »Gebe Gott, dass er sich daran erinnere, dass Don Louis gegen ihn immer voll leutselig gewesen ist.«

»Glaubt Ihr, dass mein Vater, dessen freisinnige Ideen jedermann bekannt sind, irgendwelche Gefahr zu fürchten habe?«, rief der Offizier erschreckt.

»Nein.«

»Don Valerio«, fragte Don Rafael, »wie viele Streiter hat dieser Mensch, dieser Valdes, unter seinem Befehl?«

»Ungefähr fünfzig, so hat man mir wenigstens gesagt. Seine Schar soll sich aber durch Landleute, die am meisten von den Bedrückungen der Spanier zu leiden hatten, bedeutend verstärkt haben.«

»Wenn ein Vater bedroht ist«, sagte Don Rafael, »ja, selbst wenn nur eine leise Ahnung einer entfernten Gefahr auftaucht, so ist der Platz eines Sohnes neben ihm. Nicht wahr, Doña Gertrudis?«

»Ja«, erwiderte das junge Mädchen mit leiser, fester Stimme.

Trujano unterbrach das Stillschweigen, das auf einige Augenblicke eingetreten war. Sein Auge leuchtete im Feuer der Begeisterung, wie das der ehemaligen Propheten, welche der Geist Gottes erleuchtete.

»Diesen Morgen«, sprach er, »hat ein niedriger Diener des Allerhöchsten, ein unbekannter Priester eines armen Dörfchens, Euer gastfreundliches Dach verlassen, um den Insurgenten die Hilfe seiner Gebete anzubieten. Jetzt nimmt ein nicht weniger niedriges Werkzeug in den Händen des Ewigen Abschied von Euch, um jenen seinen Arm und sein Blut anzubieten.«

»Betet für sie, schöne und heilige Madonna«, fügte er hinzu, indem er sich mit der poetischen und religiösen Begeisterung, die den Grundzug seines Charakters bildete, an Gertrudis wandte. »Vielleicht gefällt es dem Herrn der Heerscharen, Euch zu offenbaren, dass es ihm beliebt hat, aus dem Schoß des Staubes den Arm zu erwecken, der die Mächtigen von ihrem Thron stößt.«

Bei diesen Worten drückte Valerio Trujano ehrfurchtsvoll die ihm dargebotenen Hände und ging, von Don Mariano Silva begleitet, zum Saal hinaus.

Vielleicht hatte Letzterer eine Absicht dabei, seine Tochter mit Don Rafael, dessen Abreise auch bald stattfinden sollte, auf einige Augenblicke allein zu lassen.

Nach einigen Minuten des Schweigens, die Don Rafael dazu verwandt hatte, die ungestümen Schläge seines Herzens zu besänftigen, begann er, indem er Gertrudis näher trat: »Gertrudis, ich habe mit Ihrem Vater gesprochen. Ich flehe Sie an, widmen wir die letzten Augenblicke, die mir noch vergönnt sind, hierzubleiben, einem Gefühlsaustausch ohne Rückhalt und ohne Umschweifen«

»Ich verspreche es, Don Rafael«, erwiderte das junge Mädchen mit einem Anflug von Schalkhaftigkeit. »Aber welches seltsame Geheimnis haben Sie meinem Vater mitgeteilt?«

»Ich habe ihm gesagt, dass ich hierher ein Herz brächte, welches voll von Ihnen ist, dass der Befehl meines Vaters, der mich zu ihm rief, mir wie eine Botschaft erschien, die mich dem höchsten Glück entgegeneilen hieß, denn er brachte mich Ihnen wieder nahe. Ich sagte ihm, dass ich den ungeheuren Raum, der uns trennte, mit fieberhafter Ungeduld durchflogen habe und dass ich, um Sie eine Stunde früher zu sehen, dem Geheul der Jaguare an meiner Seite und dem Donner der Gewässer vor mir mutig getrotzt habe.«

»Als Sie ihm sagten, dass Sie mich liebten«, erwiderte Gertrudis nach einem kurzen Stocken, »zeigte er sich da über die unerwartete Entdeckung erstaunt?«

»Nein«, antwortete der Offizier.

»Ich hatte es ihm schon entdeckt, Don Rafael«, sagte das junge Mädchen lächelnd. »Und was hat Ihnen mein Vater geantwortet?«

»Mein lieber Don Rafael«, sagte er zu mir, »ich sehe mit inniger Zufriedenheit die Vereinigung unserer beiden Familien. Ich werde nun auch zwei Söhne haben, Ihr werdet mir davon der teuerste sein. Aber, es kann dies nur mit Zustimmung Gertrudis’ geschehen, mit der Einwilligung ihres Herzens, und ich habe gesehen, dass dieses Herz bis jetzt für Euch noch nicht erschlossen war. Das ist das schreckliche Urteil, das ich aus dem Mund Ihres Vaters vernommen habe, Gertrudis. Wie werden Sie nun über mich entscheiden?«

Don Rafaels Stimme zitterte, und dieses Zittern des energischen Mannes, der selbst dem Tod kühn die Stirn geboten hatte, war dem Herzen Getrudis’ zu köstlich, um es so bald zu unterbrechen.

»Don Rafael«, sagte sie endlich, »Sie haben an meine Offenherzigkeit appelliert, ich will offen mit Ihnen reden, wie ich zu meiner Mutter sprechen würde. Schwören Sie aber, mir nicht ein Verbrechen aus meiner Aufrichtigkeit zu machen, die Ihnen ohne Entschuldigung scheinen könnte.«

»Ich schwöre es, Gertrudis«, erwiderte Don Rafael, seinen glühenden Blick auf das junge Mädchen heftend. »Reden Sie ohne Rückhalt und sollte Ihre Freimütigkeit selbst dieses Herz brechen, das so voll von Ihnen ist.«

Gertrudis begann nun mit schüchterner und zitternder Stimme: »Eines Tages, es ist schon ziemlich lange her, machte ein junges Mädchen der Heiligen Jungfrau ein Gelübde, um einen Mann, der sich in Lebensgefahr befand und von dem sie sich geliebt glaubte, zu retten. Wurde nach Ihrer Meinung dieser Mann sehr geliebt?«

»Das kommt allein auf die Natur des Gelübdes an«, erwiderte der Offizier.

»Die sollen Sie sogleich kennenlernen. Dieses junge Mädchen gelobte der Heiligen Jungfrau, dass sie, wenn der Mann, den sie liebte, der dringenden Gefahr entginge, sie sich von ihm ihr Haar – oh, wenn Sie mich so anstarren, kann ich nicht fortfahren – dass sie sich von ihm ihre langen Haarflechten, die ihrem Geliebten so unermesslich teuer wären, abschneiden lassen würde. War dieser Mann sehr geliebt, Don Rafael?«

»Ja. Oh, der muss glücklich sein, der so geliebt wird!«, rief Don Rafael mit Inbrunst.

»Ich habe noch nicht geendet«, sagte Gertrudis zitternd. »Wenn nun das junge Mädchen, das nicht Anstand genommen hat, für diesen Mann ihr Haar, diesen Gegenstand ihrer steten Sorgfalt, zu opfern, diese langen Flechten, die ihr Haupt wie das Diadem einer Königin umstrahlen und die sie vielleicht allein schön in seinen Augen machten, wenn dieses arme Mädchen sie – abgeschnitten haben wird, glaubt Ihr, dass – dass ihr Geliebter sie dann noch immer lieben wird?«

»O, Gertrudis, die Liebe kann ein solches Opfer nicht bezahlen, und so schön auch das Mädchen gewesen sein mag, von dem Augenblick ab, wo sie sich ihres höchsten Schmuckes berauben lässt, ist sie in den Augen ihres Geliebten unendlich schöner, schöner, als ein Erzengel!«

Gertrudis legte die Hand auf die Brust, um den Ausbruch des süßen Entzückens, das ihr Herz durchströmte, zurückzuhalten.

»Gut«, sagte sie mit matter Stimme. »Lassen Sie uns jetzt unsere Augen zum Himmel erheben, wir haben ihm zu danken.«

Während Don Rafael gehorchte, nahm Gertrudis den Kamm aus der Krone, welche ihre schönen Flechten bildeten. Dann ergriff sie eine Schere, die auf dem Tisch lag, bedeckte mit der linken Hand ihre hoch geröteten Wangen und reichte mit der rechten dem Geliebten das scharfe Instrument dar, welches das Opfer vollziehen sollte.

»Rafael!«, sagte sie mit einer Stimme, die dem Ohr des jungen Mannes wie die Stimme eines Engels klang, »wollen Sie nun mein Gelübde erfüllen, indem Sie mir diese beiden Flechten abschneiden?«

»Ich?«, rief er bestürzt beim Anblick der herrlichen Hand, die ihm die Schere entgegen hielt, um die Flechten, die den Boden küssten, abzuschneiden. »Ich?«

»Ich habe es der Heiligen Jungfrau versprochen, um Sie gestern Abend zu retten«, erwiderte das junge Mädchen. »Verstehen Sie mich jetzt, Rafael, mein innig geliebter Rafael?«

»Gertrudis, Sie hätten bei der Barmherzigkeit Gottes mich schonender auf solch ein Übermaß von Glück vorbereiten sollen!«, rief Rafael mit einer fast schmerzlichen Bewegung, die beredter war, als alle Liebesbeteuerungen, die er hätte machen können. »Doch was tut’s, ich bin glücklich!«, fügte er hinzu, um das erschreckte junge Mädchen zu beruhigen.

Niederkniend ergriff er ihre Hand, die sie ihm nicht entzog, und presste bebend vor Erregung, seine Lippen darauf.

»Nun, Rafael«, sagte Gertrudis, »ich habe ein Gelübde abgelegt, an Ihnen ist es jetzt, es zu vollziehen.«

»Warum denn dieses Gelübde?«, fragte der Offizier.

»Ich wusste nichts Kostbareres, um es zum Austausch für Ihr Leben anzubieten. Nehmen Sie die Schere, Rafael.«

»Ich werde aber mit diesem schwachen Instrument nie zu Ende kommen«, erwiderte der junge Offizier, um Zeit zu gewinnen.

»Sollten Sie sich beklagen, dass die Mühe zu lange dauere?«, sagte Gertrudis sich über den Geliebten beugend, der noch immer vor ihr auf den Knien lag. »So, ich bitte!«

Rafael ergriff das Instrument mit zitternder Hand. Gertrudis versuchte zu lächeln, um ihm Mut einzuflößen, war aber bei dem Gedanken, jetzt diese reiche Fülle, die sie jeden Morgen mit so großer Sorgfalt pflegte, in die sie sich wie in einen Schleier hüllen konnte, unter der Schneide des Eisens fallen zu sehen, nicht imstande zu verhindern, dass auch eine Träne ihr mattes Lächeln begleitete.

»Einen Augenblick noch!«, sagte sie, während ihre Wangen sich mit einem lebhafteren Rot, als das der reifen Granate bedeckte. »Mein Rafael, ich habe lange wie vom höchsten Maß der Glückseligkeit geträumt, in diese arme Flechten den Mann einzuhüllen, den ich einst lieben würde, und …«

Noch bevor sie ausreden konnte, bedeckte Rafael die Flechten mit heißen Küssen, welche sie sanft um seinen Nacken wand.

»Nun bin ich bereit!«, sagte sie dann.

»Nie werde ich den jämmerlichen Mut haben!«, rief Rafael, mit aller Kraft die Schere von sich schleudernd, sodass sie zersprang.

»Es muss sein, Rafael. Gott würde mich strafen. Vielleicht würde er mich strafen, indem er mir Ihre Liebe entzöge.«

»Später wollen wir dieses schwere Gelübde erfüllen. Ich bitte nur, die Erfüllung auf einen anderen Tag zu verschieden. Bis zu meiner Rückkehr, Gertrudis!«

Gertrudis antwortete nicht. Sie erhob sich und schien zu lauschen.

»Ich höre Geräusch«, sagte sie dann. »Es ist mein Vater.«

In einem Augenblick hatte das junge Mädchen die Unordnung an ihrem Anzug beseitigt. Sie hatte aber von ihren Wangen und aus ihren Augen nicht die Flammen strahlenden Glücks verwischen können, die aus ihnen leuchteten.

Gleich darauf trat Don Mariano in Begleitung seiner Tochter Doña Marianita in den Saal.

»Ach!«, rief Marianita unbesonnen. »Meine arme Schwester hat ihre Haare noch auf dem Kopf.«

»Wie?«, fragte Don Mariano erstaunt. »Was sollte sie denn mit ihnen vorgenommen haben?«

»Es ist nichts, mein Vater!«, nahm Gertrudis das Wort, indem sie sich in seine Arme warf.

Dann presste sie einen zärtlichen Kuss auf seine Lippen und fügte hinzu: »Erratet Ihr oder wisst Ihr schon, mein Vater?«

»Mein Kind, ich habe schon vieles in meinem Leben erraten, denn ich rühme mich eines gewissen Scharfsinns.«

»Nun, was Marianita gesagt hat, ist wahr«, entgegnete Gertrudis schmeichelnd. »Bei dem Scharfsinn, mit dem Ihr erraten habt, dass ich – den Don Rafael nicht liebte …«

Bei diesen Worten verbarg Gertrudis ihr Gesicht an der Brust ihres Vaters, nicht aber ohne einen Blick unaussprechlicher Zärtlichkeit auf Don Rafael geworfen zu haben, der wachend zu träumen glaubte.

»Es ist also gewiss«, sagte Don Mariano, »dass Gertrudis …«

Er vollendete diesen Satz, nicht. Ein Zusammenfahren seiner ihm in den Armen liegenden Tochter und ein Schrei Marianitas unterbrachen ihn. Zugleich aber vernahm er heftiges Büchsenfeuer, das von den Gipfeln der Berge, die sich hinter der Hazienda erhoben, herüber donnerte.

Alle horchten auf, alle waren bestürzt, Rafael sogar noch mehr, als die beiden Frauen, denn zu viel Glück verweichlicht das Herz eines Mannes.

Das tiefste Stillschweigen folgte dem verhallenden Donner des Büchsenfeuers.