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Der Schwur – Erster Teil – Kapitel 6

Der-SchwurDer Schwur
Historischer Roman aus dem mexikanischen Unabhängigkeitskrieg

Erster Teil
Der Dragoner der Königin

Kapitel 6
Der fahrende Ritter und sein Knappe

Ungefähr eine Viertelstunde von dem Wasserfall entfernt, erhebt sich, wie man das oft in Mexiko antrifft, ein kleiner Hügel, dessen Gipfel, sei es durch ein Spiel der Natur, sei es, was viel wahrscheinlicher ist, durch Menschenhand, abgeplattet und eben ist.

Die Altertumsforscher der Provinz behaupteten, dass der Tafelberg einst das Fundament gebildet habe, auf dem vor langen Jahren irgendeiner Gottheit der Zapoteken ein Tempel errichtet gewesen war.

Aus diesem Grund hatte auch ohne Zweifel Costal, der treu an den Überlieferungen und Kults seiner Väter hing, ein so guter Christ er auch sonst sein mochte, vorzugsweise sich diesen Ort auserlesen, von wo er seine Jagdzüge begann.

Hier hatte er sich eine Hütte errichtet, wie sie im Land üblich waren. Die Mauer bildete ein Doppelgeflecht aus Bambus, dessen innere Seite mit Lehm beworfen war. Das Dach war ziemlich steil geneigt, um dem Regenwasser schnelleren Abfluss zu verschaffen.

Bei seinen Jagdzügen gegen die Jaguare, die in der Provinz Oajaca so häufig sind, dass jeder Hazienda-Besitzer sich genötigt sieht, zwei oder drei Tigerjäger zum Schutz ihrer Herden, die fast unbeaufsichtigt in der Savanne herumstreifen, zu halten, verbrachte der Tigerjäger oft lange Stunden in dieser Einsamkeit.

Costal stammte in gerade Linie, wie er es Clara gesagt hatte, von den alten Kaziken von Tehuantepec ab, und immer bildete der untergegangene Glanz seiner alten und mächtigen Familie den Gegenstand seiner Betrachtungen. Obwohl vollkommen gleichgültig gegen die politischen Streitigkeiten der Weißen hatte er dagegen mit Verzückung die Nachricht vom Aufstand Hidalgos aufgenommen. Aus dieser Erhebung ließ sich für ihn persönlich etwas gewinnen, und er wollte mit dem Gold, zu dessen Erlangung er so vage Mittel angewandt hatte, versuchen, in seiner Person den Titel Kazike wieder aufleben zu lassen und von Neuem die Herrschaft seiner Voreltern in Besitz zu nehmen. Die heidnischen Vorurteile, mit denen er ausgewachsen war, die Einsamkeit, in der er beständig der Ausübung seines Geschäfts wegen leben musste, der Anblick des unermesslichen Ozeans, dessen Tiefen er als Taucher erforscht hatte, trugen dazu bei, seinem schon so seltsamen Charakter eine abergläubische Überspanntheit, die fast an Orakel grenzte, zu geben.

Nach diesen notwendigen Vorbemerkungen kehren wir zu dem Tafelberg zurück, wo wir unsere beiden Abenteurer ungefähr eine Stunde nach dem Davoneilen Don Rafael Tres-Villas wiederfinden.

Sie waren eben damit fertig, den Einbaum Costals ohne große Mühe auf die Plattform des Hügels zu schaffen, die sie längs der Hütte, von der zuvor die Rede gewesen war, den Kiel nach oben, hingestellt hatten.

»Uf!«, machte der Schwarze, sich auf das Fahrzeug niedersetzend. »Nun, glaube ich, haben wir wohl einen Augenblick Ruhe gewonnen, nicht wahr, Costal?«

»Seid Ihr lange in der Provinz Valladolid gewesen?«, fragte statt einer Antwort der Indianer den ehemaligen Sklaven.

»Gewiss, und auch in der Provinz Acapulco, ich kenne sie alle beide und andere auch noch, vom unscheinbaren Fußsteig bis zur gut besuchten königlichen Heerstraße. Ich habe sie oft genug mit meinem Herrn Valerio Trujano durchzogen, den ich nur verlassen habe, um Eigentümer in der Provinz Oajaca zu werden.«

Clara machte eine Anspielung auf seine Bambushütte, die er auf einigen ihm von dem Eigentümer der Hazienda las Palmas abgetretenen Fuß Boden erbaut hatte. Bei diesem trat er auch während der Cochenille-Ernte in Dienst, worauf der Umstand, dass er einen Teil des Jahres hindurch ein unabhängiges, mäßiges Leben führte, zu erklären ist.

»Warum richtet Ihr diese Frage an mich?«, setzte er hinzu.

»Weil es mir ebenso wenig wie Euch gefällt, als Soldat in die Armee des Priesters Hidalgo zu treten. Der Nachkomme der Kaziken von Tehuantepec kann wohl als Tigerjäger in den Dienst eines anderen treten, er kann aber nie einwilligen, eine Uniform zu tragen.«

»Das macht sich auch prächtig, rote Mütze, grüner Rock und gelbe Hosen, wie der schönste Papagei unserer Waldungen. Übrigens zweifle ich auch, dass der Señor Pfarrer, Generalissimus und Capitano von Amerika, Hidalgo, genug Uniformen zur Verfügung hat, um mit Euch Streit über diesen Gegenstand zu suchen. Aber falls er uns als Hauptmann …«

»Was wir tun wollen«, unterbrach ihn Costal, »wir wollen unsere Dienste als Führer anbieten, da Ihr ja in vielen Teilen des Königreichs jeden Schleichweg kennt. Auf diese Weise können wir gehen und kommen, wie es uns gefällt, und wir haben zugleich auch Gelegenheit, den Wassergeist zu suchen, von dem ich Euch erzählte.«

»Ist denn der Wassergeist überall?«

»Ohne Zweifel; er kann seinem treuen Diener überall erscheinen, wo dieser nur eine Lache Wasser findet, um sich zu spiegeln, einen Fluss oder einen Wasserfall, um sich zu baden, oder das Meer, um darin Perlen zu suchen, die seinen langen Haaren zum Schmuck dienen.«

»Habt Ihr ihn nie gesehen, wenn Ihr an den Küsten des Golfs von Tehuantepec nach Perlen getaucht seid?«, fragte Carla, einen Seitenblick auf die vom Mond erleuchtete Ebene werfend, deren feierliche Schweigsamkeit das ferne, dumpfe Brausen der Fluten durchdrang.

Der lauschende Schwarze dämpfte unwillkürlich seine Stimme. »Gewiss«, erwiderte Costal, »mehr als einmal. In einer Nacht habe ich die Sirene am Strand der Perlenbänke gesehen, im Mondschein ihre langen Haare unter Gesang flechtend und ihren Hals mit den Perlen schmückend, die wir vergebens suchten. Mehr als einmal habe ich sie auch angerufen, ohne dass meine Beine bebten und meine Stimme zitterte, sie möge mir die Lager der reichen Perlenbänke entdecken. Man darf aber sein Herz bei ihrem Anblick auch nicht erzittern fühlen, darum müssen es ihrer zwei sein, wenn sich der Geist zeigen soll.«

»Das ist leicht zu begreifen«, entgegnete Clara. »Ihr Mann ist eifersüchtig und gestattet kein Zusammensein unter vier Augen.«

»Nun, aufrichtig zu sprechen, Freund Clara«, fuhr Costal fort, ohne dem Schwarzen ein Kompliment über seinen Scharfsinn zu machen. »Ich hoffe so recht eigentlich nicht darauf, sie zu sehen, bevor ich fünfzig volle Jahre hinter mir habe. Wenn ich die von meinen Vätern mir überlieferten etwas dunklen Traditionen durchgehe, so finde ich, dass sich keine Gottheit je einem Menschen gezeigt hat, um ihm ihre Geheimnisse zu entschleiern, der nicht schon ein halbes Jahrhundert durchlebt hatte. Der Himmel hat es so beschlossen, dass keiner meiner Voreltern von den Kaziken bis auf mich, ein höheres Alter als neunundvierzig Jahre erreichte. Ich allein habe auch dieses überschritten und an mir allein von allen Gliedern meiner Familie kann sich die bei uns von Vater auf Sohn vererbte Tradition bewahrheiten. Der Tag, an dem ich mein fünfzigstes Jahr erreicht haben werde, ist der des Vollmondes, der auf die Sommersonnenwende des Jahres folgt. Indessen will ich schon immer das Glück im Voraus versuchen und auch den Spaniern einen erbitterten Krieg bereiten, indem ich mir meine Unabhängigkeit auf den großen Tag der Sommersonnenwende vorbehalte.«

»Ach«, rief der Halbsklave, »nun kann ich mir erklären, warum wir an diesem Abend vergebliche Anstrengungen gemacht haben, die Göttin zu sehen. Wann werdet Ihr also Euer fünfzigstes Jahr erreicht haben?«

»Von heute ab noch zwanzig Mondwechsel«, erwiderte der Indianer. »Wie dem auch sein möge, das steht fest, dass wir morgen nach Valladolid gehen. Wir werden mithilfe der Piroge zur Hazienda zurückkehren, um Abschied von Don Mariano zu nehmen, wie es sich für zwei ehrerbietige Diener schickt.

»Topp! Wir vergessen aber die Hauptsache.«

»Welche?«

»Den armen Teufel von Studenten, den die furchtbare Überschwemmung überrascht hat und den der Offizier bei den Tamarinden verlassen hat.«

»Ich habe ihn nicht vergessen. Wir werden ihn zur Hazienda bringen, wenn er noch lebt, was der Fall sein wird, wenn er die Geistesgegenwart gehabt hat, auf einen Baum zu steigen und sich so einen Zufluchtsort vor der Überschwemmung zu verschaffen.«

»Ja, wir wollen ihn zur Hazienda bringen, wenn er noch lebt. Hört Ihr, mit welcher Wut die Wasser da unten toben? Wer weiß, ob der Offizier selbst noch Zeit gehabt haben wird, ihnen zu entgehen.«

»Die Sache ist die, dass er besser getan hätte, die Nacht mit uns hier zuzubringen, aber er schien es sehr eilig zu haben, zur Hazienda las Palmas zu kommen. Vielleicht hatte er seine Gründe dafür. Auch habe ich ihm nicht vorgeschlagen, hierzubleiben.«

»Es ist gut, dass wir hier in Sicherheit sind«, sagte der Schwarze, »und wenn Ihr nun noch zum Überfluss etwas zum Abendessen in irgendeinem Winkel Eurer Hütte vergessen hättet, würde ich damit nebst einem Glas Wasser fürlieb nehmen.«

»Schweigt, ich werde Euch zufriedenstellen«

Diese Antwort des Indianers machte der Unterhaltung ein Ende. Er trat, gefolgt von Clara, in seine Hütte.

Nicht lange darauf flackerte ein helles Reisigfeuer im Herd. Nachdem es niedergebrannt war, legte Costal über die zurückgebliebene Glut einige Stücke Fleisch, das vorher an der Sonne getrocknet worden war, und in Kurzem verspeisten die beiden Gefährten im behaglichen Gefühl ihrer Sicherheit, die sie auf dem Gipfel des Hügels genossen, ihre einfache Mahlzeit.

Dann legten sie sich zum Schlaf auf den Boden nieder und schliefen bald so fest, dass selbst das Rauschen der Flut, wenn sie in wildem Strudel über die Hütte hinweggestürzt wäre, sie nicht hätte aus ihrem Schlummer erwecken können. Clara bewegte sich nur anfangs noch manchmal unruhig hin und her, indem er das Brüllen der Jaguare, die ihn so arg erschreckt hatten, sich mit dem Gischten des Wassers vermischen zu hören glaubte.

Wenn er erwacht wäre, so hätte er wirklich die wilde Tigerfamilie in gewaltigen Sätzen am Fuß des Tafelbergs vorüberfliehen sehen können. Die vier Bestien heulten, als sie es bemerkten, dass zwei Männer in tiefem Schlaf dalagen. Aber von tödlichem Schrecken vor den Gewässern getrieben, die ihnen auf den Fersen waren und denen sie nur durch ihre Geschwindigkeit entgehen konnten, stürzten sie vorüber und verschwanden bald, der flüssigen Masse voranjagend, die ihnen fast an Schnelligkeit gleichkam.

 

***

 

Noch lag der Student Cornelio Lantejas in der Hängematte, die ihn sein guter Stern hatte finden lassen. Plötzlich fuhr er erschreckt aus dem Schlaf auf. Eine merkliche Kühle war nach der ermattenden Hitze eingetreten. Er sah sich in seiner Hängematte über einem entfesselten Meer schweben, das seine Wogen nur einen halben Fuß entfernt unter ihm hintrieb. Der Student stieß einen entsetzlichen Schrei aus, dem auf dem Gipfel zweier Tamarinden ein dumpfes Knurren und ein helles, scharfes Zischeln antworteten.

Cornelio blickte sich erschreckt um, aber so weit sein Auge reichte, sah er nur einen unermesslichen See mit schäumenden Wogen. Nun war ihm mit einem Mal alles klar – die Flucht der Landbewohner und die an den Zweigen der Bäume befestigten Kanus. Das Geräusch, das er beim Einschlafen vernommen hatte, rührte von der Annäherung der jährlichen Überschwemmung her, die fast auf den Tag in der Provinz Oajaca, wo er sich befand, eintrifft und der er im Haus seines Oheims entgangen wäre, wenn nicht die verzweifelte Langsamkeit seines Pferdes ihn aufgehalten hätte.

Was sollte nun aber aus dem Reisenden werden? Er konnte kaum schwimmen und hätte er sich wirklich mit einem der Perlenfischer von Tehuantepec messen können, wozu hätte ihm alle seine Geschicklichkeit in diesem unabsehbaren See dienen können, aus dem nur allein die Gipfel der Tamarinden, zwischen denen seine Matte hing, hervorragten.

Seine schon so entsetzliche Lage sollte aber noch größer werden.

Feurige Augen, die der Student wie glühende Kohlen in dem Laubwerk der Bäume leuchten sah, machten ihm nun die Natur des Knurrens klar, das er eben gehört hatte. Einige wilde Tiere, Jaguare ohne Zweifel, hatten sich vor der Überschwemmung auf die Tamarinden gerettet. Nur ihnen war es möglich, von der Erde hinaufzuklettern.

Endlich brach der Tag an, und der Student erblickte deutlich das ganze Jaguargezücht, aus zwei alten und zwei jungen Tieren bestehend, in deren Mitte er sich befand, und nicht weit von ihnen große, hässliche Schlangen, die sich um die Zweige schlängelten. Unter ihm breitete sich ein gluckerndes Meer aus, auf dem entwurzelte Bäume blitzschnell hintrieben, zugleich mit ihnen Dammhirsche, über welchen Raubvögel schwebten, die ein durchdringendes Geschrei ausstießen.

Überall ein wildes Schauspiel von Verwüstung und Tod. Häufig kämpfte der wilde Instinkt der hungrigen Jaguare mit ihrem Schrecken beim Anblick einer in ihr Bereich kommenden Beute. Der Schrecken aber siegte, und Lantejas sah die Tiere ihre Augen schließen, wie um der Versuchung, die Beute zu verschlingen, zu entgehen.

Dann wanden die Schlangen ihrerseits ihre schmiegsamen Körper über ihm bald um diesen, bald um jenen Zweig, sie schienen von der Gegenwart des Menschen und der Jaguare erschreckt.

So verrannen langsam einige Stunden, währenddessen die Gewässer zwar immer noch anschwollen, doch schon weniger brandend geworden waren.

Plötzlich glaubte der Student auf der Oberfläche des Wassers einen Lärm zu vernehmen, den er sich nicht erklären konnte. Bald schien es ihm wie das Schmettern einer Trompete, bald wieder wie das Knurren, das seine furchtbaren Nachbarn ab und zu hören ließen.

Costal hatte sich auf den Weg gemacht und suchte, den Erfolg dem Zufall überlassend, die Erscheinung der Wassergöttin, die zu beschwören er sich vorgenommen, zu erhaschen.

Bald darauf konnte der Student deutlich in der Ferne ein kleines auf den Wellen tanzendes Fahrzeug erkennen, in welchem sich zwei Männer befanden.

Es waren der Indianer und der Schwarze.

Von Zeit zu Zeit ließ der Indianer seine Ruder fallen, um das uns bereits bekannte Instrument an die Lippen zu führen, dessen unerklärliche Harmonie Lantejas gehört hatte.

In ihr Vorhaben ganz vertieft, hatten weder Costal noch Clara den Studenten Don Cornelio bemerkt, der in seiner Hängematte kauerte und keine Bewegung zu machen wagte.

Dann erreichte der unterdrückte Schrei einer menschlichen Stimme das Ohr der beiden Männer.

»Habt Ihr gehört, Costal?«, fragte der Schwarze.

»Ja, es kam mir vor wie ein Schrei. Ohne Zweifel ist es der arme Teufel, der Student, der ihn ausstieß. Aber wo steckt er denn? Ich sehe nur eine Hängematte, die zwischen jenen beiden Tamarindenbäumen befestigt ist. Vielleicht steckt er gar dort.«

Costal brach in ein unmäßiges Gelächter aus, das dem Studenten wie Sphärenmusik klang. Man hatte ihn ohne Zweifel bemerkt. Er schickte ein heißes Dankgebet zum Himmel empor.…

Clara stimmte in die ausgelassene Fröhlichkeit Costals ein, als eine Musik ganz anderer Art das Lachen auf seinen Lippen ersterben ließ.

»Horcht«, rief er voller Schrecken, indem er über dem Wasser ein mehrstimmiges Brummen vernahm, das von den vier Jaguaren, die sich über dem Kopf des Studenten postiert hatten, gebildet wurde.

Der von Don Cornelio ausgestoßene Schrei hatte das Knurren der Tiger veranlasst, mit dem sich zur Erhöhung des feierlichen Eindrucks auch noch das Zischen der um die Zweige geringelten Schlangen vereinigte.

»Das ist sonderbar!«, sagte der Indianer. »Das Knurren kommt von derselben Stelle her, von wo die Stimme zu uns drang.«

»He, Herr Student!«, rief er Lantejas zu, »haltet Ihr Eure Siesta nicht allein im Schatten dieser Tamarinden ab?«

Der Student beantwortete die Frage Costals nur durch einen unverständlichen Schrei. Er war unfähig, auch nur ein einziges Wort auszusprechen, so vollständig hatte der Schrecken ihm den Gebrauch der Zunge geraubt.

Zitternd erhob er den Arm über seine Hängematte, um dem Indianer die schrecklichen Gäste der beiden Tamarindenbäume zu zeigen. Da aber die Dichte des Blätterdaches es Costal unmöglich machte, die Jaguare zu sehen, so blieb demselben diese Zeichensprache des Studenten ebenso unverständlich, wie der Schrei, den dieser zuvor ausstieß.

»Behutsam, um die Liebe Gottes!«, rief Clara, den die Furcht das erraten ließ, was er nicht sehen konnte. »Die Tiger haben sich vielleicht ebenfalls auf diese Tamarinden geflüchtet.«

»Das ist ein Grund mehr, uns ihnen zu nähern. Sollen wir denn den jungen Mann in der Hängematte so lange zappeln lassen, bis die Überschwemmung vorüber ist?«

Mit kräftiger Hand ergriff nun Costal die Ruder und steuerte gerade auf den Studenten zu, während Clara mit kläglichem Ton wiederholte:

»Wenn die Tiger unsere Bekannten von gestern sind, wie ich dem Miauen der Jungen nach annehmen zu dürfen glaube, so denkt Euch, wie sehr diese Bestien gegen uns eingenommen sein müssen.«

»Glaubt Ihr denn, dass ich nicht auch gegen sie bin?«, entgegnete Costal, ohne im Rudern innezuhalten.

Noch einige Ruderschläge und er befand sich dem Studenten wenigstens so nahe, dass er die kritische Lage desselben deutlich erkennen konnte.

Es war ungefähr sieben Uhr morgens und der unglückliche Student hatte mehr als acht tödliche Stunden in dieser Hängematte zugebracht, wo er sorglos wie ein Statthalter unter einem Thronhimmel von Tigern und Klapperschlangen zu schlummern schien.

Der Student folgte den Manövern des Indianers mit unruhigem Blick. Er sah, wie dieser seinem Gefährten mit den Fingern das sonderbare Bild zeigte, das die Tamarinden darboten. Dann hörte Don Cornelio den Indianer, dem es unmöglich war, die Ausbrüche seiner Lustigkeit zu zügeln, sich einem unmäßigen Gelächter überlassen, wozu dem Studenten weder Ort noch Zeit gut gewählt schien, während ihn der Schwarze mit erschreckten Blicken betrachtete.

»Wenn wir uns entfernten, um Rat zu schlagen?«, stammelte Clara.

»Uns entfernen, um Rat zu schlagen?«, wiederholte der Indianer, während er seinen gewöhnlichen Ernst wieder annahm. »Wir haben hier keine Auswahl.«

Der Indianer legte die Ruder ins Boot, ergriff seinen Karabiner mit ebenso großer Ruhe, als er vorhin ausgelassen war, und schüttete von Neuem Pulver auf die Pfanne.

»Was wollt Ihr machen?«, rief der Clara.

»Einen aufs Korn nehmen, zum Teufel!«, erwiderte Costal. »Ihr werdet gleich sehen.«

Er ergriff nun wieder die Ruder und steuerte gerade unter den einen Jaguar hin.

»Verhaltet Euch ruhig, Señor Studiosus«, sagte er dann zu Lantejas, der ebenso unbeweglich wie stumm und erschreckt in seiner Hängematte lag.

Der eine Jaguar stieß ein Geheul aus, dessen Echo vielfältig zurückgeworfen wurde und das alle Muskeln des Schwarzen vor Schrecken erbeben ließ. Mit seinen scharfen Klauen die Rinde des Tamarindenbaumes zerreißend, heftete der Jaguar mit geöffnetem Rachen und über die Zähne zurückgezogenen Lefzen seine funkelnden Augen auf den kühnen Indianer. Ein schrecklicher Blick schoss aus den weit aufgerissenen Pupillen des Tieres, den Costal aber kaum beachten. Er zielte und gab Feuer. Die wilde Bestie fiel ins Wasser, wo sie sogleich von der Strömung fortgerissen wurde. Es war der männliche Jaguar.

»Schnell, Clara«, rief Costal, »einen Ruderschlag, um uns zu entfernen.«

Hierzu aber war es zu spät. Die Tigerin, wütend über den Tod ihres Gefährten und voller Sorge für ihre Jungen, stieß ein kurzes, schreckliches Fauchen aus, dann sprang sie, ihren Schrecken vergessend, über den Kopf des Studenten hinweg und fiel wie ein nasser Sack in das Kanu.

Das Fahrzeug kenterte, Jäger, Schwarzer und Jaguar verschwanden für einen Augenblick unter Wasser.

Nach einigen Sekunden erschienen alle drei wieder an der Oberfläche; Clara außer sich vor Schrecken und mit aller Energie, welche die Verzweiflung einflößte weg schwimmend.

Zum Glück für den Schwarzen durchschnitt der ehemalige Perlenfischer und Taucher das Wasser wie ein Hai, und warf sich einen Augenblick später zwischen ihn und den Tiger, den Dolch zwischen den Zähnen haltend.

Beide Feinde maßen sich mit den Blicken, der Mann ruhig und entschlossen, das Tier vor Wut heulend.

Plötzlich tauchte der Jäger unter und der Tiger schwamm nun, über das Verschwinden seines Feindes erstaunt, zu dem Baum zurück, auf dem er seine Jungen gelassen hatte. Mit einem Male machte er Anstrengungen, als ob irgendein Wirbel ihn umdrehe, tauchte bis zur Hälfte unter und erschien dann wieder, leblos, mit aufgeschlitztem Bauch auf der Strömung hintreibend Ein breiter blutiger Streifen bezeichnete seine Bahn.

Jetzt wurde auch der Jäger wieder sichtbar. Um sich blickend schwamm er zu seinem Kanu, das die Gewalt der Strömung schon weit mit sich fortgerissen hatte. Er erreichte es und befand sich nach wenigen Minuten in demselben auf dem Weg zu dem Studenten.

Lantejas hatte sich noch nicht von dem Erstaunen und der Bewunderung, worin ihn die Kühnheit und Kaltblütigkeit des Indianers versetzte, erholt, als dieser mit demselben Messer, mit welchem er den Leib des Tigers aufschlitzte, die Hängematte auseinanderschnitt, um so dem Studenten leichteren Zutritt in das Kanu zu verschaffen.

»Ihr habt Euch ja die Jaguarfelle entgehen lassen!«, schrie der Schwarze. »Das sind wenigstens zwanzig Piaster, die Ihr einbüßt.«

»Nun, lauft ihnen nach!«, sagte Costal, noch in voller Beschäftigung, den halbtoten Studenten aus der Hängematte zu ziehen.

»Bewahre mich Gott!«, rief der Schwarze. »Die Bestien könnten noch Leben haben. Mag die Häute der Teufel holen! Und, Freund Costal, habt die Güte und rudert zu mir herüber. Ich verspüre keine Lust, unter dem Festgesang von Klapperschlangen wieder in das Kanu zu steigen.«

Der Indianer steuerte auf seinen Gefährten zu, der nur ganz vorsichtig in das Kanu steigen konnte, da es umzuschlagen drohte.

»Jesses, Gottes Sohn!«, seufzte Don Cornelio, der endlich wieder Worte finden konnte, dessen Sinne indessen von dem ausgestandenen Schrecken noch immer ziemlich verwirrt waren und der sich jetzt nicht ohne einige Besorgnis in der Gesellschaft zweier Männer sah, von denen der eine rot, der andere schwarz war, die beide von Wasser trieften und deren Haare mit gelblichem Schlamm bedeckt waren.

»Nun, Señor Studiosus«, begann Clara in bester Laune, »ist denn das alles, was Ihr Costal als Dank für seine Euch geleisteten Dienste zu sagen habt?«

»Entschuldigt mich. Ich hatte so ungeheure Furcht«, erwiderte Lantejas, der nun, nachdem er die Angst von sich abgeschüttelt, mit aufrichtiger Wärme Costal für den geleisteten Beistand dankte und nicht damit aufhörte, ihm Komplimente über seine Geschicklichkeit, mit der er der Gefahr zu entgehen gewusst hatte, zu machen.

»Da habt Ihr recht«, antwortete der Indianer. »Ich war in Schweiß gebadet und dieses Bergwasser ist eiskalt. Ich hätte mir leicht einen Schnupfen oder dergleichen holen können.«

Der Student betrachtete mit unverkennbarem Erstaunen den so unerschrockenen Mann, der die einzige Gefahr, die ihm in seinem Kampf im Wasser mit einem wütenden und starken Tier gedroht hatte, in einem Schnupfen suchte.

»Wer seid Ihr denn«, rief er von Erstaunen überwältigt.

»Früher war ich der Tigerjäger des Señors Don Matias de la Zanca, heute bin ich der des Señors Don Mariano Silva.«

»Don Matias de la Zanca?«, sagte der Student. »Das ist ja mein Oheim.«

»Das freut mich. Wenn Ihr erlaubt, werde ich Euch nicht zu seiner Hazienda begleiten, die in den Bergen liegt. Man würde große Schwierigkeiten haben, sie mit einer Piroge zu erreichen. Wo habt Ihr denn Euer Pferd?«

»Die Strömung wird es mit fortgerissen haben. Ich habe aber guten Grund, das nicht zu bedauern.«

»Das kann ich von meinem Karabiner nicht sagen. Eine herrliche Waffe, die in fünf Fällen höchstens einmal versagte. Ihr begreift wohl, dass ich sie nicht auf dem Grund des Wassers liegen lassen kann, und mit Eurer Erlaubnis, Señor Studiosus, jetzt bin ich nicht mehr im Schweiß …«

Bei diesen Worten zog der Tigerjäger seine Kleidungsstücke aus, besichtigte genau den Ort, wo die Piroge umgeschlagen war, und bedeutete dann den Schwarzen, dahin zurückzurudern.

Nach einigen Ruderschlägen, die das Fahrzeug in die angegebene Richtung trieben, stürzte sich der Indianer kopfüber in das Wasser und verschwand.

Ein Zeitraum, der den beiden Zuschauern mächtig lang erschien, verging, ehe der Indianer wieder zum Vorschein kam. Das Aufwellen des Wassers über ihm zeigte ihnen allein an, wie eifrig er nach seiner unvergleichlichen Waffe suchte. Endlich erschien sein Kopf über der Oberfläche des trüben Wasser, er hielt in der linken Hand seinen Karabiner, dem er eine so pompöse, jedoch auch wohlverdiente Lobrede gehalten hatte.

Nachdem die Piroge den Schwimmenden aufgenommen hatte, schlugen die drei Personen mit dem gebrechlichen Fahrzeug die Richtung zur Hazienda las Palmas ein.

Unterwegs fragte der Student seine beiden Befreier nach dem Beweggrund, der sie zu seiner Aufsuchung veranlasst habe.

»Ein Reiter, der große Eile zu haben, schien, die Hazienda las Palmas zu erreichen, hat uns zu Euch nach den Tamarinden geschickt«, antwortete Costal. »Ich möchte wohl wissen, ob er auch so glücklich wie Ihr gewesen und der Überschwemmung entronnen ist. Es wäre wirklich schade, wenn er nicht mehr Zeit gehabt hätte, die Hazienda zu erreichen. Es war ein herzensguter junger Mann, und tapfere Männer sind selten in unserer Zeit.«

Obgleich sich die erste Wut der empörten Gewässer gelegt hatte, war es nichtsdestoweniger schwierig genug, gegen die Strömung in einer so kleinen Piroge, die außerdem noch mit drei Personen belastet war, anzukämpfen. Der Wellengang war noch stark. Man musste sorgsam sowohl die stromabtreibenden Bäume vermeiden als auch diejenigen, deren Wurzeln unbeweglich aus dem Wasser hervor starrten.

Es war fast Mittag, als endlich durch die Gipfel der grünenden Palmen der Glockenturm der Hazienda sichtbar wurde. Nach und nach tauchten auch die Gebäude selbst auf. Don Cornelio ergötzte sich an diesem Anblick, denn der Hunger verzehrte ihn, während Überfluss hinter diesen Mauern herrschte.

Zu gleicher Zeit erschienen zwei höchst unterschiedlich beladene Barken auf dem ungeheuren See.

Die erste war mit zwei Ruderern bemannt, die einen Kavalier und ein gesatteltes und aufgezäumtes Maultier am Bord hatten. In der zweiten saßen Don Mariano Silva und seine beiden Töchter, die Haare mit dichten Nelkenkronen geschmückt, deren zarte Hände der Landessitte gemäß die Ruder führten. An der Seite Don Marianos befand sich noch Don Rafael Tres-Villas.

Die beiden Barken steuerten zu den Bergen, welche die überschwemmte Ebene im Norden begrenzten, und bald erreichte diejenige, die den Kavalier und sein Maultier trug, das Ufer. Das Tier folgte von selbst seinem Herrn, der mit der Hand zum Zeichen des Abschieds die Personen in der anderen Barke grüßte, welche ihn bis hierher begleitet hatten. Dann schwang er sich in den Sattel und entfernte sich, indem er sich wiederholt höflich gegen die Zurückgebliebenen verneigte.

Diese riefen ihm nach: »Auf Wiedersehen, auf Wiedersehen, Señor Morelos!«

Hierauf wandten sich die beiden Barken um und schlugen die Richtung zur Hazienda ein.

Costal steuerte ihnen nach und hatte sie bald erreicht.

»Señor Don Mariano«, sagte er, auf Lantejas deutend, »hier bringe ich Eurer Herrlichkeit einen Gast.«

»Er ist mir willkommen!«, antwortete Don Mariano.