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Die Macht der Drei – Teil 4

Die-Macht-der-Drei

Aus dem blauen Mittagshimmel schoss ein silbern schimmernder Punkt auf das Weiße Haus in Washington zu, wurde größer, zeigte die schnittigen Formen eines Regierungsfliegers und landete sanft auf dem Dach des Gebäudes.

Als einziger Passagier verließ Dr. Edward F. Glossin die Maschine. Den linken Fuß beim Gehen leicht nachziehend, schritt er an den martialischen Gestalten der Leibgarde vorbei. Auf den Treppenabsätzen und in den Korridoren standen die baumlangen blonden Kerle aus den westlichen Weizenstaaten in ihren malerischen Uniformen. Sie hielten die Wache um den Präsident-Diktator wie früher die Grenadiere der Potsdamer Garde um die preußischen Könige oder die Eisenseiten um Oliver Cromwell.

Im Vorzimmer traf der Doktor den Adjutanten des Diktators und ließ sich melden. Nur eine knappe Minute, und der Diktator trat aus dem Sitzungssaal und stand vor ihm. Nach flüchtigem Gruß hieß er ihn in sein Arbeitszimmer mitkommen. »Wer ist Logg Sar?«

Dr. Glossin fühlte die unbestimmte Drohung, die in der Frage lag, und trat einen Schritt zurück.

»Logg Sar ist … Silvester Bursfeld.«

Tiefes Erstaunen malte sich auf den Zügen Stonards. »Bursfeld … der im englischen Tower gefangen saß?«

»Nein, sein Sohn. Der Vater hieß Gerhard.«

»Mein Gedächtnis ist gut. Sie haben mir von einem Sohn Gerhard Bursfelds nie gesprochen. Warum nicht?«

»Ich weiß es selbst erst seit drei Monaten.«

»Und ich erfahre es erst heute?«

Cyrus Stonard trat dicht an den Doktor heran. Ein Blick traf ihn, der sein Gesicht noch eine Nuance blasser werden ließ.

»Erklären Sie!«

»Es war vor ungefähr drei Monaten … Ich hielt mich einige Zeit in Trenton auf, um in meinem Laboratorium im Haus einer Mrs. Harte an einem Versuch zu arbeiten. Eines Tages kommt ein junger Ingenieur, der in den Staatswerken von Trenton beschäftigt ist, zu Mrs. Harte und erkundigt sich nach ihren Familienverhältnissen. Dabei stellt sich heraus, dass der verstorbene Mann der Mrs. Harte ein Stiefbruder von Gerhard Bursfeld war.«

»Ihre Erzählung scheint darauf hinauszuwollen, dass der junge Ingenieur der Sohn von Gerhard Bursfeld ist. Warum nannte er sich Logg Sar?«

»Auf Logg Sar lauten seine Papiere. Für die Welt und für ihn beruht alles andere auf Vermutungen. Für mich ist der Beweis erbracht.«

»Liefern Sie ihn mir!«

»Sie erinnern sich an meinen früheren Bericht über die Sache, Herr Präsident. Heute kenne ich seine Fortsetzung. Nachdem Gerhard Bursfeld die unfreiwillige Reise nach England gemacht hat, verschwindet er für immer im Tower. Seine Frau flieht mit ihrem kleinen Knaben in die kurdischen Berge. Unterwegs schließt sie sich einer Karawane an: Kaufleute, Priester und was sonst in Karawanen nach Mittelasien zieht. Die junge Frau ist den Strapazen des langen Weges nicht gewachsen. Irgendwo auf der Strecke zwischen Bagdad und Kabul wurde sie bestattet. Ein tibetanischer Lama, der in sein Kloster zurückkehrt, nimmt sich der Sterbenden an. Ihm übergibt sie ihren Knaben, macht ihm zur Not dessen Namen verständlich …«

»Etwas schneller, wenn’s beliebt, Herr Doktor!«

»Der Lama nimmt den Knaben mit in sein Kloster Pankong Tzo und erzieht ihn in den Lehren Buddhas. Als der Knabe vierzehn Jahre alt ist, besucht eine Expedition schwedischer Gelehrter das Kloster. Der junge Europäer fällt auf. Von einem der Mitglieder der Expedition, dem Ethnologen Olaf Truwor, wird er mit nach Schweden genommen, wird mit dessen Sohn zusammen erzogen, wird wie dieser Ingenieur …«

Cyrus Stonard hatte während des Berichtes mechanisch allerlei Arabesken gemalt, wie es seine Gewohnheit war. Jetzt warf er den Bleistift unwillig auf das vor ihm liegende Papier.

»Glauben Sie im Ernst, Herr Doktor, dass irgendein Anwalt in den Staaten auf Ihre Erzählung hin einen Erbschaftsprozess übernehmen würde?«

»Nur noch einen kurzen Augenblick Geduld, Herr Präsident. Die Kette schließt sich Glied an Glied. Auf einer Rheinreise, die er nach dem Abschluss seiner Studien macht, wird Logg Sar von einem alten Ehepaar angesprochen, dem seine überraschende Ähnlichkeit mit Gerhard Bursfeld auffällt. Die alten Leute sind mit Gerhard Bursfeld verwandt, haben ihn genau gekannt und sind von dieser Ähnlichkeit ebenso frappiert … wie ich es war, als Logg Sar mir das erste Mal vor die Augen trat. Ich glaubte damals, Gerhard Bursfeld so vor mir zu sehen, wie er dreißig Jahre früher in Mesopotamien vor mir gestanden hat. Die alten Leute machen Logg Sar darauf aufmerksam, dass ein Stiefbruder Gerhard Bursfelds in Trenton lebt. Logg Sar findet im weiteren Laufe seiner Ingenieurskarriere eine Stellung in den Trentonwerken. Er erinnert sich der Mitteilungen der alten Leute und spricht bei Mrs. Harte vor. Ihr Mann ist tot. Ein Bild von Gerhard Bursfeld findet sich im Haus. Die Ähnlichkeit ist überzeugend.«

Cyrus Stonard blickte den Erzähler durchdringend an.

»Sie tischen mir da eine sehr romantische, aber wenig beglaubigte Geschichte auf. Es fehlt nur noch das berühmte Muttermal, und die Sache könnte in Harpers Weekly stehen. Herr Doktor, ich wünsche von Ihnen schlüssige Beweise und keine Phantastereien. Haben Sie irgendeinen wirklichen Beweis, dass Logg Sar und Silvester Bursfeld identisch sind?«

Dr. Glossin spielte seinen Trumpf aus.

»Ein Wort schließt die Kette: Logg Sar.«

»Was soll das heißen?«

»Logg Sar bedeutet im Tibetanischen das Jahresende . Den letzten Tag des Jahres. Den Tag, den die christliche Kirche dem Silvester geweiht hat. Die sterbende Mutter hat dem fremden Priester verständlich zu machen versucht, was der Name ihres Kindes bedeutet. Das Jahresende. Der christliche Name wurde vergessen. Seine tibetanische Übersetzung ergab den neuen Namen, unter welchem der Knabe in Pankong Tzo verblieb.«

»Das ist kein Beweis für mich, Herr Doktor. Und ich glaube … für Sie auch nicht.«

Dr. Gloffin trat einen Schritt näher an den Diktator heran.

»Mein letzter Beweis, ein zwingender Beweis! Er kennt das Geheimnis seines Vaters. Es ist ihm überkommen, er hat es ausgebaut in einem Maße, dass …«

Die feinen Flügel der Adlernase des Diktators zitterten. Zwei lotrechte Falten zogen sich zwischen seinen Augenbrauen zusammen, als er den Satz des Doktors vollendete: »… dass er unser werden oder verschwinden muss, wie seinen Vater die Engländer verschwinden ließen.«

»Das Erstere ist wohl nicht mehr möglich.«

»Nach dem Experiment in Sing-Sing … ich glaube, dass Gründe vorhanden sind, die mir gestatten, Ihr Konto damit zu belasten, Herr Doktor! Finden Sie einen Weg, auf dem sich die andere Möglichkeit bewerkstelligen lässt!«

Cyrus Stonard warf dem Doktor einen Blick zu, der diesen erschauern ließ. Ein Wink des Diktators, und er war selbst aus der Liste der Lebenden gestrichen, fand vielleicht schon in wenigen Stunden selbst sein Ende auf dem Stuhl in Sing-Sing.

Cyrus Stonard ließ die Lider sinken und fuhr ruhig fort: »Wie sind Sie hinter sein Geheimnis gekommen?«

Der Doktor schöpfte tief Atem und begann stockend zu erzählen: »Sein Gesicht war mir vom ersten Tage an verhasst.

Auch sonst hatte ich Grund … seine Anwesenheit im Hause Harte unangenehm zu empfinden …«

»Hm! Hm … so … weiter!«

»Er bat mich, mein Laboratorium in meiner Abwesenheit benutzen zu dürfen. Ich erlaubte es ihm. Beim Fortgehen sorgte ich dafür, dass zehntausend Volt an den Tischklemmen lagen, während der zugehörige Spannungsmesser nur hundert Volt anzeigte. Ich kam wieder, um eine Leiche zu finden, und sah ihn unversehrt aus dem Haus treten. Das Lächeln eines Siegers auf den Lippen, der soeben einen großen Erfolg errungen hat. Da wusste ich, dass Silvester Bursfeld der rechte Sohn seines Vaters ist. Er musste wissen, dass ich ihm die Falle gestellt hatte. Ich durfte mich nicht mehr vor seinen Augen zeigen. Drei Tage später verschwand er … Unauffällig, wie es üblich ist. Spezialgericht. Elektrokution. Ich glaubte, der Fall sei erledigt. Was weiter geschah, wissen Sie, Herr Präsident.«

»Haben Sie in seinen Papieren gründlich nachgesucht?«

»In jedem Winkelchen. Es sind keine Aufzeichnungen über die Erfindung vorhanden. Ich war dreimal in seinen Räumen. Jedes Stück Papier wurde umgedreht und studiert.«

»Sie haben selbst gesucht ? … Lassen Sie unsere Polizei suchen! Die versteht es vielleicht besser … Zum zweiten Punkt unserer Besprechung. Wer hat R.F.c.1 genommen?«

»Ich würde sagen, sicherlich englische Agenten, wenn ich nicht …«

»Wenn Sie nicht …«

»Wenn ich nicht nach den Vorgängen dieses Morgens fürchten müsste, dass Silvester Bursfeld allein oder mit Komplicen in unserem schnellsten Kreuzer nach … nach Schweden oder nach Tibet fährt.«

»Allein ist ausgeschlossen! Komplicen? Wer sind sie?«

»Ich weiß es nicht … Bis jetzt noch nicht. Einer dieser Komplicen ist bestimmt der Zeuge Williams. Von dem Dritten, der das Auto steuerte, wissen wir nur, dass er braunhäutig ist …«

»Es ist anzunehmen, dass die drei zusammenbleiben werden. Drei sind leichter in der Welt zu finden als einer. Nehmen Sie die politische Polizei zu Hilfe und suchen Sie. Das Finden liegt in eigenstem Interesse … Suchen Sie, Herr Doktor Gloffin!«

Dr. Gloffin stand in unsicherer Haltung vor dem Diktator. Zum ersten Mal hatte er die ihm anvertrauten, so ungeheuer weitreichenden Vollmachten für die Zwecke einer Privatrache angewendet. Die Blankette und Vollmachten, die er in den Händen hielt, machten es ihm leicht, den jungen Ingenieur aufheben zu lassen. Bis dahin war alles in Ordnung.

Aber dass er den Gefangenen sofort auf den elektrischen Stuhl brachte, entsprach nicht der Staatsräson. Solche Leute bewahrte Cyrus Stonard nach bewährter Methode an festen Orten auf und suchte hinter ihre Schliche zu kommen. Dr. Gloffin raffte sich zusammen.

»Ich bitte Sie, den Entschluss über Krieg oder Frieden um etwa fünf Stunden aufzuschieben. So lange, bis ich wieder hier bin.«

»Warum?«

»Weil ich dann sicher sagen kann, ob Logg Sar und seine Gefährten das Flugschiff genommen haben oder nicht.«

»Und wenn es mir aus anderen Gründen gefiele, dass englische Agenten das Schiff genommen haben? Die Zeit ist reif! Der Zwischenfall könnte mir gelegen kommen.«

»Ich beschwöre Eure Exzellenz. Keine bindenden Entschlüsse, bevor wir nicht klar sehen.«

»Was klar sehen?«

»Wohin die Erfindung gegangen ist. Logg Sar im Bunde mit England … dann können wir den Kampf nicht wagen.«

Der Diktator schüttelte abweisend das Haupt.

»Der Sohn wird sich hüten, sich mit den Mördern seines Vaters zu verbinden.«

»Ich hoffe es. Aber Sicherheit ist mehr wert als Vermutung. In wenigen Stunden kann ich Sicherheit haben. Hat er R.F.c.1 nicht genommen, so ist er noch in den Staaten, und wir haben die Möglichkeit, ihn zu fassen. Solange er frei ist, bleibt er eine Macht, die wir fürchten müssen.«

Ein Schweigen von zwei Minuten. Dann sagte Cyrus Stonard: »Ich erwarte Ihre Mitteilung im Laufe der nächsten drei Stunden. Unsere Presse soll ihre Invektiven gegen England bis auf Weiteres unterlassen. Versuchen Sie auf jede Weise, des Erfinders habhaft zu werden. Vermeiden Sie Differenzen mit anderen europäischen Staaten. Wir wollen dem Gegner keine Bundesgenossen werben.«

Eine Handbewegung des Präsident-Diktators, und Dr. Gloffin war entlassen.