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Der Freibeuter – Ein Raubmordnest

Der-Freibeuter-Zweiter-TeilDer Freibeuter
Zweiter Teil
Kapitel 7

An einem der letzten Tage des Hornung 1717 – einige Monate später als die zuletzt erzählten Begebenheiten – wurde gegen Abend ein Boot von nicht sonderlicher Größe und Beschaffenheit vom Sturm an die einsame Westküste von Jütland in der Gegend von Barde geworfen. Es hätte jedem Zuschauer unbegreiflich scheinen müssen, wie man an einem solchen stürmischen Wintertag, wo die Tauwinde mit furchtbarer Heftigkeit wehten, sich in solch gebrechlichem Fahrzeug auf das wild empörte Meer hinauswagen können. Aber es waren keine Zuschauer da. Regungslos lag weit und breit das unfreundliche Gestade, hier und da ragte eine Uferklippe mäßig hervor, dann breitete sich landeinwärts die öde schneebedeckte Ebene, über die der Seewind unablässig hinstrich.

Aus dem von der Gewalt des Windes und der Wellen an das steinige Ufer geworfenen Boot krochen allmählich einige in dürftige Kleidung gehüllte Männer und wateten durch das seichte Wasser bis zum trockenen Land. Halb erstarrt vor Frost und Nässe kamen sie dort an Zwei von ihnen wiesen sich durch die Sorge, welche sie um das Fahrzeug trugen, als Schiffer aus, indem sie sich Mühe gaben, dasselbe mit Stricken näher ans Land zu ziehen und zu befestigen.

Auch blieben sie bei dem Schifflein zurück und machten Anstalten, darin zu übernachten, während die anderen drei ihren unerfreulichen Weg landeinwärts fortsetzten. Graue, feuchte Nebel zogen über das Land und verkümmerten den betrübten Wanderern auch noch das Wenige von der Aussicht, das ihnen die Dämmerung gelassen hatte. Der kalte Wind fand an ihnen den einzigen Widerstand und pfiff ihnen durch die Kleider, dass ihnen das Herz im Leibe zitterte, da die grobe Linnen ihrer Beinkleider und die abgetragenen, hier und da gar zerfetzten Tuchjacken, woraus ihre Bekleidung bestand, ohnedies nicht geeignet waren, einen Menschen im Winter und Sturm zu wärmen.

Der Jüngste und, wie es schien, Schwächste dieser drei Nachtwanderer war von den Mühseligkeiten einer stürmischen Meerfahrt auch am meisten angegriffen und vermochte kaum den Schritt der beiden anderen mitzuhalten.

Schmerzhaft rief er: »So wahr mir Gott helfe! Ich glaube, dass ich diese Nacht umkomme. Das Fieber setzt mir immer heftiger zu und erhitzt mich so sehr, dass ich ins Meer springen möchte, um mir die qualvolle Glut zu kühlen, bald schmerzt mir das Mark in den Knochen vor entsetzlichem Frost. Ich fürchte, dass mich bald alle Kräfte verlassen werden und ich auf dieser traurigen Schneefläche liegen bleiben muss, um zu sterben. Courtin, dann verlasse mich nicht eher, als bis ich tot bin. Ich beschwöre dich um Gottes und aller Heiligen willen! Hab’ ich geendet, dann löse mir das Etui von der Brust und bring’ es dem König von Schweden mit der Meldung meines Todes. Hörst du! Schwöre mir das erst aufs Kruzifix zu!«

»Tète-bleu!«, rief der Franzose halb unmutig, halb wehmütig, »sprecht mir doch nicht von Sterben. Solange ich Euch noch auf den Beinen sehe, wird’s keine Not haben. Tretet wacker auf, Mylord, dass Euch warm wird. Gebt mir Euren Arm. Nun wird’s gehen. Auch müssen wir doch in ein verdammtes Nest kommen, wo wir uns betten können, und wenn’s noch so schlecht ist. Nicht wahr, Bruder Ankarfield?«

»A parole d’honneur!«, versetzte der dritte Mann. »Ich wollte gleich meine Ehre zum Pfand setzen, wir kommen bald in einen Ort, wo wir uns erquicken und ausruhen können bis zum Morgen. Wenn das Volk nur nichts von der freiherrlichen Kasse wittert. Ich denke doch nicht. Ich habe die Katze eng um den Leib gegürtet, und unter solchen Lumpen vermutet man keine zehntausend Taler.«

»Aber, mon dieu! Wie seid Ihr nur dazu gekommen, das Geld mitzunehmen? Selbst wenn es die Holländer genommen hätten, so hätten sie es dem König von Schweden bei Heller und Pfennig wieder herauszahlen müssen«, sagte Courtin.

»Ei, das steht noch sehr zu bezweifeln. Das Geld war im Haag, der Baron Görz und ich in Arnheim, als er arretiert und ins Gefängnis gesetzt wurde. Als ich nun Hals über Kopf zu Euch nach dem Haag kam, hatten die Herren Generalstaaten noch nicht daran gedacht, die Effekten des Barons in Beschlag zu nehmen und die Dienerschaft anzuhalten.

Aber wir erhielten abends einen Wink von dem, was am folgenden Tag geschehen sollte. Nun muss man eher alles fahren lassen wie die Ehre. Als des Barons Kammerdiener und Chatoullier wär’ ich geblieben und hätte den Herrn Generalstaaten mein Geld bis zum Pfennig zugezählt, und so hätten sie’s auch zurückzahlen müssen. Doch der Lord trieb ja so gewaltig zur Flucht, dass ich nicht widerstehen konnte. Was hätt’ es mir verschlagen, ich wäre geblieben, wo das Geld blieb, und sie hätten mich wieder freigeben müssen, wie das Geld. Wenn ich aber ging, musste das Geld auch mitgehen. So verlangt es meine Ehre. Gott wüsste, wer das Sümmchen an sich genommen hätte, war ich fort. Niemand hätte etwas davon wissen wollen, und unser König, der das Geld nötiger braucht als wir alle, wäre drum gewesen. So aber übergebe ich die Katze mit meinem Beleg Sr. schwedischen Majestät, meinem großmächtigsten Herrn selbst, und habe große Ehre davon. Auf meine Ehre zu halten, hat mich meine selige Mutter gelehrt. Nun, Ihr habt sie ja gekannt, wie Ihr mir gesagt habt, und seid zur Zeit ihres Todes in Stockholm gewesen. Gott habe sie selig mit ihrer Ehre!«

»Ehrenfester Spross eines ehrenreichen Baumes«, perorierte der Franzose. »Ihr habt in Eurer hohen Weisheit nicht daran gedacht, was nun wirklich eingetreten ist, dass uns der Sturm an die feindliche Küste verschlagen könnte. Ihr hättet doch weit besser getan, das Geld den Generalstaaten zu übergeben, die es ehrenhalber wieder zurückzahlen mussten. Die Fälle mochten lauten, wie sie wollten, als dass Ihr es wahrscheinlich nun dem König von Dänemark übergeben müsst, der nichts zurückzahlt, ja Euch nicht einmal Dank dafür sagen wird.«

»Sacre dieu!«, rief der Kammerdiener ärgerlich. »Bin ich etwa daran schuld, dass wir uns in Ermangelung eines anderen Schiffes in den morschen Schachteldeckel setzten und davonfuhren, als wäre der leibhaftige Teufel hinter uns? Hat nicht der Lord, obgleich er selbigen Tag schon krank war – ich habe es ihm angesehen – das alles betrieben und uns animiert hat, dass wir uns in diese Lumpen steckten und heimlich wie Diebe davonschlichen? Was es nun auch mit der Gefangennahme des Barons für ein Bewandtnis haben mag, wir konnten immerhin ruhig bleiben. Freilich, wenn die Herren einen Lord in Euch entdeckt hätten, so möchte es wohl nicht so ganz ohne Gefahr für Euch abgelaufen sein.«

»Wenn man des Lords Schreibtafel genommen und geöffnet hätte«, versetzte Courtin, »so wär’ er in sehr große Verlegenheit gekommen.«

Palmerston seufzte tief auf und griff mit fiebrig zitternder Hand nach dem Etui, gleichsam um sich zu versichern, dass er noch im Besitz demselben sei.

»Es wäre sicherlich mein Tod gewesen, wenn man mir das Büchlein entrissen hätte«, sagte er mehr für sich, als für die anderen mit bebender Lippe. »Gott!«, rief er gleich darauf, »ich bin nicht mehr imstande, noch drei Schritte zu tun. Es ist wahr, die Gefangennahme des Grafen hat mir einen fast tödlichen Schrecken bereitet. Wer hätte das auch nur denken sollen, an der Schwelle des Tempels, wo die Erfüllung aller Wünsche, die Gewährung aller Hoffnungen bereitet war, da noch vom neidischen Geschick erfasst zu werden! Ich bin krank, todkrank! Ich werde sterben, ach, und so ruhmlos und unbekannt meine unselige Laufbahn beschließen.«

»Peines de dieu! Ihr sollt nicht sterben!«, fluchte Courtin. »Wohlauf! noch hab’ ich gute Kräfte und meinen tüchtigen Körperbau, der etwas vertragen kann. Könnt Ihr nicht mehr gehen, Mylord, so will ich Euch tragen, und wär’s die ganze Nacht hindurch.«

Der treue Franzose kauerte auf den Boden nieder und lud den kranken Mann auf seinen breiten Rücken, sodass seine Arme auf der Brust und sein krankheitschwerer Kopf an dem Kopf des Bootsmanns ruhten.

»Ich habe aus lauter Liebe zu Euch«, sagte er dann, »mein geringes Los einmal an das Eurige gebunden, und es soll beim Himmel nicht eher davon abkommen, als bis der Tod mit seiner unerbittlichen Schere selbst durchschneidet.«

»Braver Bursche! Gott wird dir vergelten, wenn ich es nicht kann, und ich fürchte, ich werde es nicht können«, lispelte der Kranke.

Der Marsch ging wieder vorwärts in der Richtung, welche der gewesene Kammerdiener des Barons Görtz angab.

Dieser fluchte zuweilen und versicherte auf seine Ehre, dass er das alberne Jütland genau kenne, indem er in Hadersleben als Barbiergeselle gestanden, dass er sich aber wegen der Nacht und des Nebels durchaus nicht finden könne.

So mochten sie eine Stunde über das unwirtliche Schneefeld gegangen sein, als Ankarfield, der etwas vorausgeeilt war, jubelnd einen betretenen Pfad verkündete. Der Schluss, dass er zu einer von Menschen bewohnten Stätte führen müsse, war leicht und erfreulich. Die Gewissheit, bald ein Ziel zu erreichen, gab neue Kräfte, und so schritten sie rüstig auf dem Pfad hin. Sie waren auch nicht lange gewandert, als sie Hundegebell vernahmen und sie in der Dämmerung die Umrisse eines Hauses erkennen konnten. Der Kammerdiener war flink an der Tür und rief nach Menschen. Es wurde auch sofort Licht gemacht. Ein keckes junges Weib trat aus der Stube und fragte nach dem Begehr der späten Ankömmlinge.

»Dieu soir bénisse!«, sagte Ankarfield, »dass wir nur ein menschliches Angesicht erblicken. Wir haben uns verirrt und suchen ein Obdach. Wir bitten Euch um Gotteswillen, gebt uns ein solches. Mehr noch als wir bedarf es der kranke Mann auf dem Rücken meines Begleiters.«

Courtin trat mit seiner Last eben in die Tür.

»Ihr seid hier in einem Gasthof«, versetzte die Frau hart und herzlos, »und wenn ihr Geld habt, könnt Ihr alles verlangen, was zur Bequemlichkeit eines Reisenden gehört, er mag gesund sein oder krank.«

»Gottlob!«, seufzte der Kammerdiener mit einem inneren Wohlbehagen auf und setzte dann unvorsichtig hinzu: »Am Geld fehlt’s uns nicht.« Dabei griff er unwillkürlich nach der Geldkatze, welche Bewegung den lauernden Blicken des Weibes keineswegs entging.

»Nun, so tretet in die Gaststube«, sagte sie. »Ihr werdet noch mehr Gäste und angenehme Unterhaltung finden. Befehlt, was Ihr zu speisen wünscht.«

»Dafür wollen wir Euch sorgen lassen«, sagte der Kammerdiener und trat höflich grüßend in die Stube. Palmerston half sich von Courtins Rücken und wurde von ihm in die Stube geführt. Eine Anzahl von ungefähr zwölf Männern saß an Tischen um den ungeheuren Ofen herum und vertrieb sich die Zeit mit Karten und Würfeln.

Die Wirtin – als solche gab sich die junge Frau kund – machte für den Kranken einen Platz hinter dem Ofen, weil ihm die Kälte die Glieder furchtbar schüttelte, sodass er kaum seiner Sinne mächtig war und jeden Augenblick zu sterben glaubte. Dann ging sie, um eine warme Suppe zu besorgen. Die spielenden Männer bekümmerten sich wenig um die neuangekommenen Gäste. Ihr Gespräch bezog sich nur auf das Spiel. Dazu tranken sie Branntwein aus hölzernen Krügen. Aus ihren wüsten Gesichtern war nicht viel Erfreuliches zu lesen, ebenso wenig konnte man aus ihrer geringen Kleidung oder aus sonst etwas abnehmen, was ihr Gewerbe sei und weshalb sie in solcher Anzahl hierhergekommen waren. Ankarfield vermutete, dass in der Nähe ein Dorf liege, und dass diese Gäste, obgleich sie nicht wie Bauern aussahen, von dorther hier zusammengekommen seien. Er rückte daher, während Courtin mit seinem Herrn beschäftigt war, näher und redete den ihm zunächst Sitzenden an.

»Permission, Monsieur! Ihr seid wohl vom nächsten Dorf?«

Der Kerl sah ihn mit großen Augen an und sagte dann mit einem widrig schlauen Gesicht: »Woher kommt Ihr denn, dass Ihr nicht wisst, wo Ihr seid? Eure Frage und Eure Sprache, die mehr schwedisch klingt als dänisch, verraten zur Genüge, dass Ihr mit diesem Land unbekannt seid. Auch stehen Eure französischen Wörter im Widerspruch mit Euren Kleidern.«

»Wollt mir zuvor gefälligst auf meine Fragen antworten. In welcher Gegend von Jütland befinden wir uns eigentlich?«

»Auf der jütländischen Heide. In einem Umkreis von mehreren Meilen ist an kein Dorf zu denken. Drum sagt, Schwede, woher kommt Ihr, wohin wollt Ihr?«

Der Kammerdiener erzählte ein Gemisch von Wahrheit und Lüge. Die Männer warfen sich bedenkliche Blicke zu. An dem Tisch, an welchen sich Ankarfield gesetzt hatte, hatten sie die Karten weggelegt und fingen damit an, den Kammerdiener auszufragen und in seinen Antworten zu verwirren. Unterdessen war einer hinausgegangen. Dieser redete, wiederkommend, mit einer den anderen wohlverständigen Augensprache. Ankarfield sah sich in ein Gespräch verwickelt und ganz von den Männern umgeben. Er hatte sich und seine Kameraden für Schiffer ausgegeben.

»Wir sind Schiffer, Patron«, rief einer. »Lasst doch sehen, ob die anderen auch solche Lügenhunde sind.«

Und damit wandten sie sich zu Courtin, der sich aber so seiner kauderwelschen Sprache weit besser als Seemann auswies. Mit dem kranken Palmerston war nicht zu sprechen. Man ließ den Franzosen also ferner ungeschoren und wandte sich zu dem Schweden.

»Wisst Ihr, Mann, wie wir Euch tun würden, wenn wir auf dem Wasser wären?«, sagte der eine, welcher draußen bei der Frau gewesen war. »Wir würden Euch beim Hosenbund fassen und von Bord hinab ins Wasser tauchen, dass die Flut über Euch zusammenschlüge, um Euch den Lügengeist auszuwaschen. Seht so!«

Und damit ergriff er ihn mit starker Faust hinten bei der Geldkatze und hob ihn in die Höhe, dass der erschrockene Kammerdiener aufschrie. »Lasst mich los! Ich bin ein Barbier.«

Die anderen lachten und setzten sich wieder zum Spiel.

Der handgreifliche Kerl sagte trocken: »Eh’ Ihr morgen abreist, guter Freund, sollt Ihr mir den Bart abnehmen.«

Durch die wohltätige Wärme des Ofens neu belebt und durch den Angstruf des Kammerdieners ermuntert, schlug Palmerston die Augen auf und richtete sie auf die Gesellschaft. Da war’s ihm nicht anders, als seien seine Sinne von einem wunderbaren Spiel wirrer Phantasie befangen, denn er glaubte einige Augenblicke lang in Hamburg im Kaffeehaus unter den dänischen Werbern und ihren Spionen zu sein. Dann wollte es ihm wieder bedünken, als sei er in Stockholm in der Schenkstube der Frau Ankarfield, denn all diese wüsten Gesichter an den Tischen kamen ihm bekannt vor. Indem er sich anstrengte, mit sich selbst ins Klare zu kommen, brachte die Wirtin die Suppe und rief hinter den Ofen: »Kommt hervor und erquickt Euch.« Kaum aber hatte er sich auf den für ihn bestimmten Platz geschleppt, als er in dem ihm gegenüber am anderen Tisch sitzenden Mann den Spion erkannte, den er in Hamburg als dienstbaren Geist des Werbelieutenants Kreuz und in Stockholm als Seemann getroffen, den er das Schermesser aus der Kapsel der Frau Ankarfield hatte nehmen sehen, welches man nachher neben dem damit ermordeten Diener seiner Schwester gefunden hatte. Diese Entdeckung jagte ihm einen Schauder nach dem anderen durch die Seele und über den Körper. Er konnte kaum den hölzernen Löffel halten, womit er die Suppe verzehren wollte. Auch war ihm die Kehle wie zugeschnürt. Er fischte deshalb, um sich den Anschein der Unbefangenheit zu geben und um Zeit zu gewinnen, sich zu fassen, mit dem Löffel in der Suppe herum und tat so, als speise er davon. Da bemerkte er zu seinem neuen Schrecken, dass eine fettige grüne Materie auf der Suppe schwimme, welche nicht zu den wesentlichen Bestandteilen derselben gehöre. Seine medizinischen Kenntnisse bestätigten gar bald den Verdacht, dass ein gemeines Gift in der Suppe sei.

»Courtin«, sagte er, »rücke mir doch den Stuhl etwas näher an den Tisch. Ich sitze nicht bequem.«

Der dienstfertige Franzose tat es. In demselben Augenblick flüsterte ihm Palmerston in das nah an dessen Mund gekommene Ohr: »Gift!« Und deutete mit den Augen auf die Suppe.

Der schlaue Bootsmann verstand, und als gleich darauf auch für ihn und Ankarfield das Essen kam, ließen sie die Suppe aus ihren Löffeln unbemerkt in das unter dem Tisch liegende Stroh laufen.

Der von Palmerston erkannte Spion fand es nicht für nötig, sich zu verbergen. Vielmehr rief er mit einer gewissen Freundlichkeit, gleichsam als fände er einen alten Bekannten: »Ei, da treffen wir uns ja schon wieder, guter Freund. Heißt Ihr nicht Flaxmann? Ihr wollt wohl nach Kopenhagen, um dem dänischen König Eure Schuld abzutragen? Das ist redlich von Euch gedacht und gehandelt.«

»Was habt Ihr hier zu tun?«, fragte der Lord.

»Wie Ihr doch verdammt neugierig seid!«, höhnte der Kerl. »Ich liege hier und warte das Wetter ab, um auf Heringsfang zu gehen. Wisst Ihr’s nun? Ich hab’ Euch noch nicht um Euer Gewerbe gefragt, obgleich ich wohl weiß, dass Ihr ein einträgliches habt. Wir sahen uns in Stockholm nicht wieder, weil Ihr, wie ich hörte, dem Kammerdiener der reichen Engländerin ein blutiges Halsband mit blankem Stahl gemacht und der Dame selber eine bleierne Pille eingegeben habt, um ihre Goldfüchse zu fangen. Freilich, ein Fuchsjäger hat einen besseren Lohn als ein Heringsfänger.«

Die Gesellschaft belachte den rohen Witz. Dem Engländer wurde aber nur schlimmer zumute. Der Gedanke, vom Mörder des englischen Kammerdieners selbst auf dessen Mord angeklagt zu werden, hatte für Palmerston so viel Schreckliches, dass ihm die Sinne vergingen und er ohnmächtig in die Arme des herbeigesprungenen Courtins sank. Dieser verlangte von der Wirtin ein eigenes Zimmer mit drei Betten, wohin er den Kranken bringen wollte.

»Ich kann Euch nur eine Kammer mit zwei Betten geben«, sagte sie. »Der dort«, setzte sie auf Ankarfield deutend hinzu, »muss in einer Bodenkammer schlafen.«

»Wir schlafen alle drei zusammen«, versetzte dieser, »und haben unser zwei für diese Nacht auch in einem Bett Platz.«

»Es geht nicht an!«, belferte die Wirtin heftig. »Doch wie Ihr wollt«, fuhr sie sanfter fort, als befürchte sie, sich zu verraten.

Sie ging mit der Leuchte voran. Ankarfield und Courtin fassten ihren Begleiter, um ihn zu tragen. Sie mussten durch einen hohen und geräumigen Hausflur, in welcher allerlei Wirtschaftsgerät, leere Fässer und dergleichen umher stand, dann eine steile Stiege hinauf und auf einem offenen Gang hin bis zur Kammertür. Der Gang lief im inneren Raum des Hofes hin, und Courtin besah sich die Höhe, die nicht beträchtlich war. Soviel er in einigen Augenblicken unterscheiden konnte, war der Hof hinten zugebaut. Die Wirtin öffnete die Kammer, der Kranke wurde in ein Bett gelegt. Die Frau wich nicht von der Stelle.

»Stellt das Licht auf den Tisch«, sagte Ankarfield zu ihr. »Wir bedürfen Eurer Hilfe nicht mehr.«

»Nein!«, versetzte sie trotzig. »Das Licht kann ich Euch nicht lassen. Die Hütte ist von Balken und Brettern zusammengezimmert, die ganze Kammer liegt voll brennbaren Zeugs, und wenn ein einziger Funken abfiele und das kleinste Fädchen finge Feuer, so brannte in ein paar Minuten das ganze Nest wie eine Fackel.«

»Wir wollen uns mit dem Licht vorsehen. Ihr könnt Euch auf die Gewissenhaftigkeit zweier Männer verlassen.«

»Ihr gebt mir kein neues Haus, wenn mir das abbrennt. Ihr hättet mir eben das Aussehen dazu. Das Licht kann ich Euch auf keinen Fall lassen. Legt Euch zu Bett oder ich gehe fort und lass Euch im Dunkeln stehen.«

»So habt doch Vernunft, Frau. Ihr seht da den todkranken Mann. Er kann uns ja in dieser Stunde noch sterben und schwerlich wird er das Tageslicht wiedersehen. Sollen wir ihn im Dunkeln dahinfahren lassen.«

»Das Licht wird ihn auch nicht halten«, sagte die Wirtin kurz und schlug die Tür zu.

Nun hatten die drei Reisegefährten Gelegenheit, sich über ihre schwierige Lage zu beraten. Auch Palmerston war wieder zur Besinnung und wie durch eine wunderbare Fügung zu einigen Kräften gekommen.

»Dass wir in eine Mörderhöhle geraten sind, leidet keinen Zweifel«, sagte er. »Es kommt darauf an, uns wieder herauszufinden. Bleiben wir diese Nacht, so erlebt keiner von uns den Morgen.«

Das sahen die beiden anderen auch ein.

»Aber wie kommen wir hinaus?«, fragte Ankarfield. »Wenn Ihr gesund wäret, Mylord, und könntet Euch eine Strecke forthelfen, so wäre Flucht möglich. Wir sprängen in den Hof hinab und suchten einen Ausgang aus demselben.«

»Dies bin ich nicht imstande. Nicht drei Schritte vermag ich zu gehen«, versetzte der Engländer mit schwacher Stimme. »Rettet Euer Leben, Freunde, mich lasst im Stich. Mein Leben wäre wahrscheinlich ohnedies bald abgelaufen. Was liegt an einer Stunde mehr oder weniger meines elenden, kummervollen Daseins? Ihr vermögt mich nicht zu retten, wohlan, so rettet Euch selbst!«

»Nimmermehr!«, sagte Courtin entschieden. »Lieber will ich mit Euch sterben. Monsieur Ankarfield, geht Ihr allein.«

»Ach Gott! Mit Freuden! Wenn ich doch nur wüsste, wohin?«, meinte der verzagte Barbier weinend. »Ich muss meine Ehre retten und mein Geld. Wenn das nicht wäre, so würde ich auch bei Euch bleiben und mit Euch sterben. Am Leben liegt mir nichts, an der Ehre alles. Hilf Himmel, wenn ich hier todgeschlagen würde und kein Hahn danach krähte, so würde man sagen: Er ist damit durch die Lappen gegangen. Der Name Ankarfield wäre mit Schande überdeckt. Meine Ehre wäre für ewig mit mir begraben. Und was würde der Herr Baron sagen? Und vollends des Königs Majestät? Meine Mutter würde sich im Grabe umdrehen.«

»Ja, so geht nur, Herr, und macht, dass Ihr fortkommt!«, sagte der Franzose barsch.

»Wohin denn? Wohin denn? Ich weiß bei meiner Ehre nicht wohin?«

»Tête bleu! Der Nase nach. Geht vor die Kammertür, springt in Gottes Namen in den Hof hinab und sucht Euch dann weiter fortzuhelfen. Aber damit ist uns noch nicht geholfen, Mylord«, wandte sich der Bootsmann zum Kranken. »Sollen wir uns ruhig hier totschlagen lassen, wie in der Falle gefangene Mäuse? Nimmermehr!«

»An meine Flucht denke nur nicht«, versetze Palmerston. »Was helfe sie? Ich würde draußen sterben. Auch liegt mir, bei Gott, nichts mehr am Leben, seit meine Pläne von Neuem so gänzlich gescheitert sind. Nur einen Wunsch habe ich noch, und dessen Erfüllung verlange ich von dir. Schwöre mir zu, zu tun, was ich dir befehle, um was ich dich flehentlich bitte.«

»So war mir Gott helfe, die reine Jungfrau und ihr benedeiter Sohn!«, sagte Courtin feierlich, »ich will tun, was Ihr von mir begehrt, Mylord.«

»Wohlan so nimm dieses Etui. Es ist mein einziger Wunsch, dass es nicht in profane Hände komme, dass man nach meinem Tod keinen Missbrauch damit treibe. Es enthält das Heiligtum meines Lebens.« Mit diesen Worten zog er die rote Schreibtafel hervor, überreichte sie dem treuen Bootsmann und fuhr fort: »Nun gehe wieder in die Wirtsstube hinab und sage, ich sei eben im Sterben begriffen. Dadurch gewinnst du jedenfalls Gelegenheit, aus dem Haus zu entwischen. Ich aber will mich tot stellen, und das wird den Mördern nicht auffallen, da sie uns Gift gegeben haben. Suche so schnell wie möglich einen Ort zu erlangen, mache eine Anzeige und komme mit Hilfe hierher. Ist es Gottes Wille, so lebe ich noch, und du kannst dann weiter für mich sorgen. Findest du mich tot, so begrabe mich und bringe das Etui dem Fräulein Christine von Ove, Hofdame der Königin von Dänemark. Sag ihr, dass ich sie bis zum Tod heiß geliebt habe und das sie dies Büchlein zum Andenken an den Unglücklichsten aller Menschen aufbewahren, aber nie einen Menschen sagen möge, welches sein Inhalt sei. Sag ihr das! Und nun geh! Doch nein, das Kruzifix gib mir daraus. Ich will es auf meine Brust legen und beten.«

 

Er öffnete das Büchlein zitternd beim Dämmerschein, den das schwache Schneelicht durch das einzige alte Fenster der Kammer warf, und nahm das Kreuzheilandbild heraus, drückte es an seine bebenden Lippen und übergab dem weichgewordenen Bootsmann die Schreibtafel.

In diesem Augenblick ging die Tür wieder leise auf und der furchtsame ehrliebende Kammerdiener, welcher während des Gesprächs der beiden von Angst hinausgetrieben worden war, kam wieder hereingeschlichen. Die Totenblässe seines Gesichts und sein zu Berge gesträubtes Haar vermochten die beiden anderen nicht zu erkennen, wohl aber hörten sie das Klappern seiner Zähne. Kaum war es ihm möglich, einige abgerissene Worte zu flüstern.

»Ich denke, Ihr seid mit Eurer Geldkatze schon lange im freien Feld?«, fragte Courtin.

»Ach Himmel!«, versetzte der andere. »Ich gehe auf den Gang hinaus und suche mir mit den Händen tappend eine bequeme Stelle zum Hinablassen, da gerate ich am Ende des Ganges an eine Tür und vermute, es möchte hier eine Treppe in den Hof hinabgehen. Die Tür ist nicht verschlossen, ich gehe hinein und fühle und fühle, bis ich mit dem Fuß an einen Gegenstand stoße. Ich bücke mich danach und greife in ein kaltes Gesicht. Es liegen noch mehr Leichen in der Kammer. Parole d’bonneur! Ich kann vor Schrecken kaum stehen.«

»Das sind Fremde, die heute oder in der vorigen Nacht erschlagen worden sind«, sagte Courtin. »Mir kommt ein guter Gedanke. Führt mich in die Kammer. Nehmt Ihr eine Leiche, ich nehme eine. Wir legen sie zusammen ins Bett. Ihr springt dann in den Hof hinab, und ich will Euch dazu behilflich sein. Ich gehe dann in die Wirtsstube und melde den Tod des Lord, und sehe zu, dass ich Euch nachkomme.«

Es geschah, wie der Franzose angegeben hatte. Mit der größten Vorsicht wurden aus der Mordkammer ein Paar Leichname herausgezogen, in die Schlafkammer gebracht und hier zusammen ins Bett gelegt. Nun ließ Courtin an einem zum Strang gedrehten Laken den Kammerdiener in den Hof hinab und ging noch einmal zu Palmerston.

»Mylord, ich gehe. Behüte Euch Gott!«

»Er begleite dich!«, stöhnte der Kranke.

Mit leisem Frösteln und Zittern tappte Courtin zur Treppe und rief dabei so laut wie möglich: »He! Holla! Licht her!«

Es dauerte auch nicht lange, als die Wirtin schimpfend aus der Stube kam.

»Was habt Ihr vor, Ihr unruhiger Nachtvogel?«, rief sie entrüstet.

»Ach, liebe Frau Wirtin«, flehte Courtin, »unser kranker Begleiter ist soeben gestorben. Ich bitte Euch sehr, gebt uns ein Licht. Uns graust bei dem toten Mann.«

»Was geht das mich an?«, erwiderte das Weib. »Das Licht kann ihn nicht wieder lebendig machen, und so Ihr ein Furchthase seid, so wird Euch das Licht keine Herzhaftigkeit einflößen. Packt Euch ins Bett oder ich lass den Hund los, der soll Euch hineintreiben.«

Damit ging sie wieder in die Stube und schlug die Tür zu. Courtin hatten während ihrer Worte nach einem Ausgang umhergespäht, aber nichts entdeckt. Doch hatte er nicht umsonst die leeren Fässer im Hausflur gesehen. Er horchte noch einmal in den Hof hinab. Da er aber dort nicht das leiseste Geräusch vernahm, so mutmaßte er, dass Ankarfield glücklich entkommen sei. Anfangs wollte er ihm nach, doch hielt ihn die Liebe zum Lord und eine gewisse französische Neugierde, zu erfahren, was aus der Sache werden möchte, zurück. Er zog es vor, auf den Zehen in den Hausflur hinabzuschleichen und in eins der großen Fässer zu schlüpfen. Hier verhielt er sich ruhig und wartete nicht ohne Herzklopfen über zwei Stunden. Da – in der Mitternachtsstunde – ging die Tür auf und zwei der Mordgesellen traten heraus, jeder ein Beil in der Hand. Das Weib leuchtete ihnen vor. Der Spion war dabei.

»Einen Schlag hat uns Trudes Suppe erspart«, sagte dieser, »und wahrlich, es ist gut, dass ihn Gevatter Hain ausgespannt hat. Er hätte mich gedauert, wenn er das Beil hätte kosten müssen. Den beiden anderen Schlingeln ist’s eher zu gönnen.«

»Zumal dem mit der Geldkatze«, sagte der andere. »Schlagt nur beide zugleich zu«, bemerkte das Weib, »dass nicht einer entwischt. Ich will den Hund loslassen aus Vorsorge.«

Damit stellte sie das Licht auf die Treppe, unweit dem Fass, in welchem Courtin verborgen war, ging zur Haustür, öffnete und trat hinaus. Gleich darauf kam sie zurück, von einem großen Hund gefolgt. Die Tür wurde nicht wieder verschlossen. Sie ergriff das Licht, und die beiden Männer samt dem Hund gingen ihr nach, die Stiege hinauf. Kaum hörte Courtin ihre Schritte verhallen, als er aus dem Fass schlüpfte und mit einigen schnellen, auf den Zehen ausgeführten Schritten die Tür erreichte. Einen Augenblick darauf war er im Freien. Gewandt wie ein Aal drückte er sich rasch an dem Haus entlang und lief dann, was er vermochte, auf dem Fußpfad fürbass.