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Der Marone – Quashie weiß sich nicht zu helfen

Der-Marone-Zweites-BuchThomas Mayne Reid
Der Marone – Zweites Buch
Kapitel 10

Quashie weiß sich nicht zu helfen

Wo, während dieser ganzen Zeit, wo nur war Quashie? Was war aus ihm geworden?

Herr Smythje wusste nichts davon und kümmerte sich jetzt auch gar nicht darum. Zu froh, von dem Schauplatz seines unbequemen Abenteuers so bald wie möglich hinweg eilen zu können, stellte er gar keine Nachforschungen an seinem höchst nachlässigen Knappen, noch dachte er daran, zu dem Platz zurückzugehen, wo er ihn gelassen hatte. Der Weg, den sein neuer Begleiter ihn nun führte, war in ganz anderer Richtung. Über den leeren Wildbretkorb, der bei Quashie gelassen worden war, machte er sich keine weiteren Sorgen. Sein Jagdmesser aber und die Branntweinflasche würde der Schwarze wohl in Obacht nehmen.

Hierin traf Herr Smythje auch wirklich den Nagel auf den Kopf, wenigstens vollkommen, was die Branntweinflasche anbelangt, denn diese hatte Quashie so gut in Obacht genommen und so oft nach ihr gesehen und so tief in sie hineingeguckt, dass er an alles andere auf dem ganzen Erdenrund gar nicht mehr dachte. Der große Buckra war noch keine zwanzig Minuten von ihm fort gewesen, als Quashie durch oft wiederholtes Ansetzen der Branntweinflasche an seine Lippen seine Sehkräfte bereits in eine solche Verfassung versetzt hatte, dass er einen Truthahn von einem jamaikanischen Klashahn gewiss ebenso wenig hätte unterscheiden können wie Herr Smythje selbst.

Das Trinken des Branntweins hatte nämlich auf den Schwarzen gerade die entgegengesetzte Wirkung ausgeübt, die so etwas bei einem Irländer haben würde.

Anstatt wie jener dadurch redselig, lärmend und zanksüchtig zu werden, hatte es Quashie ruhig gemacht, und zwar so ruhig, dass er fünf Minuten nach dem letzten Zug aus der Flasche wie ein Stein ins Gras fiel und fest einschlief.

In so tiefem Schlaf lag er, dass er keinen Knall von Smythjes Flinte hörte, sondern dass sicher das Abschießen einer ganzen Feldbatterie dicht vor seinen Ohren ihn in dem Augenblick nicht geweckt haben würde.

Schwer wohl möchte es zu bestimmen sein, wie lange Quashie in diesem Zustand von Schlaftrunkenheit gelegen haben würde, wäre er nicht geweckt worden.

Erst der Regen, der wie ein kaltes Sturzbad auf seine halbnackte Haut fiel, brachte ihn zu sich selbst, machte ihn wach und auch teilweise nüchtern, und trieb ihn, sich wieder auf seine Füße zu stellen.

Länger als eine ganze Stunde hatte Quashie jedenfalls den allersüßen Schlaf genossen, als der Regen begann. Er wachte eigentlich auch wohl nur auf, weil der Branntwein nach und nach seine volle Wirkung verloren hatte.

Er war sich seines Unrechts, den Branntwein des Buckra ausgetrunken zu haben, wohl bewusst und fürchtete nun, da der durch den Branntwein erregte zeitweilige Mut gänzlich verschwunden war, ein Zusammentreffen mit dem weißen Harren. Gern wäre er diesem ausgewichen, hätte er nur gewusst, in welcher Weise. Ganz wohl aber wusste er, dass, wolle er sich allein nach Hause schleichen, dies ihm den Zorn des Massa zu Willkommenberg zuziehen würde, der vielleicht gar von einem Dutzend Hieben mit der Peitsche begleitet sein könnte.

Nach einigem Nachdenken kam er nun zu der Überzeugung, dass es für ihn am besten sein würde, auf die Rückkehr des jungen Buckra zu warten und ihm etwas, so gut es ginge, zu erzählen, zum Beispiel, dass er ihn eifrig gesucht und damit die Zeit verbracht hätte.

In Bezug auf das Verschwinden des Branntweins, denn er hatte ihn bis zum letzten Tropfen ausgetrunken, hatte der Schwarze eine andere kleine Geschichte erdacht, die unbezweifelt durch das mit der Rotweinflasche vorangegangene Unglück veranlasst worden war. Er wollte nämlich dem großen Buckra erzählen, dass er, der Buckra, den Stöpsel nicht wieder in die Branntweinflasche gesteckt habe und dass der Branntwein deshalb dem ihm vom Rotwein gegebenen Beispiel gefolgt sei.

Mit so einer nicht ganz unglaublichen Geschichte ausgerüstet, wartete Quashie ruhig die Rückkehr des Buckra ab.

Der Himmel klärte sich bald wieder auf, aber es kam kein Buckra.

Quashie wurde ungeduldig und auch etwas ängstlich. Vielleicht hatte der englische Harre sich im Wald verirrt. Wenn das der Fall war, was würde man dann mit ihm, dem Führer, anfangen? Ja, er bildete sich wirklich schon ein, fern über den Hügeln das Klatschen der gefürchteten Peitsche zu hören. Nachdem er noch etwas länger gewartet hatte, entschloss er sich, seiner Besorgnis dadurch ein Ende zu machen, dass er den Jäger suchte. Deshalb nahm er den leeren Korb zugleich mit der ebenfalls leeren Flasche und dem Jagdmesser und setzte sich in Bewegung.

Er hatte Herrn Smythje nach der Lichtung gehen sehen. Soweit konnte er auch seine Spur verfolgen, doch auf dem offenen Feld angekommen, war er in der größten Verlegenheit.

Er wusste ganz und gar nicht, welche Richtung er einschlagen sollte.

Nach einigem Nachdenken wandte er sich zur Rechten, wo er zum hohlen Baum hingekommen wäre, dessen Spitze da, wo er die Lichtung betrat, ganz gut zu sehen war.

Übrigens war es keineswegs bloßer Zufall, der ihn dahin führte, sondern er glaubte, in der Richtung Stimmen zu hören.

Als er näher zu dem großen abgebrochenen Baumstamm kam, gewahrte er auf dem Boden einen glänzenden Gegenstand. Er stand ganz still, indem er glaubte, dass es eine Schlange sei, ein Geschöpf, vor dem die Männer auf den Pflanzungen eine erstaunliche Furcht besitzen.

Als er aber genauer hinsah, war Quashie höchst erstaunt, zu entdecken, dass der glänzende Gegenstand eine Flinte war, die sich bei noch näherer Untersuchung als das Gewehr des großen Buckra herausstellte.

Es lag auf dem Gras, nahe am Fuß des trockenen Baumes. Wie kam es dahin?

Wo war der Buckra selbst? War ihm ein Unglück zugestoßen? Warum hatte er seine Flinte zurückgelassen? Hatte er sich selbst erschossen? Oder hatte ein anderer ihn erschossen? Oder was auf der Welt war ihm nur zugestoßen?

Gerade in diesem Augenblick drang ein höchst kläglicher Ton an sein Ohr. Es war ein lang gezogenes, dumpfes Ächzen, als wenn ein gequälter Geist von der Erde Abschied nehmen wollte! Es glich einer menschlichen Stimme und war doch ganz verschieden davon! Es hatte entschiedene Ähnlichkeit, als ob jemand aus der Tiefe des Grabes spräche!

Der schwarze Bube stand vor Schrecken erstarrt – seine ebenholzfarbige Haut nahm schnell wie ein Chamäleon ein aschgraues Aussehen an.

Er würde aufs Schnellste die Flucht ergriffen und sich auf die Socken gemacht haben, allein ein besonderer Gedanke hielt ihn ab. Sollte es nicht der Buckra, noch lebendig, aber in Bedrängnis, sein können? In diesem Fall würde er dafür bestraft werden, ihn verlassen zu haben.

Die Stimme schien hinter dem trockenen Baum hervorzukommen. Lag der Jäger etwa verwundet auf der anderen Seite?

Quashie schraubte seinen Mut so hoch wie möglich hinauf und begann rund um den Baum auf die andere Seite hinzugehen. Langsam ging er – Schritt für Schritt und untersuchte dabei den Boden.

Nachdem er die andere Seite erreicht hatte, sah er sich überall um. Da war niemand zu sehen, weder ein Toter noch ein Verwundeter!

Kein Buschwerk war in der Nähe, um einen so großen Gegenstand wie einen menschlichen Körper verbergen zu können, wenigstens nicht innerhalb vierzig Schritte von dem Baumstumpf, und so weit her konnte das Ächzen gar nicht gekommen sein.

Auch konnte durchaus keiner unter dem Gitterwerk der verschiedenen Schlingpflanzen verborgen sein. Quashie besaß Mut genug, selbst dieses genau durchzusehen, aber es war wirklich niemand da.

In diesem Augenblick schallte ein zweites Ächzen in des schwarzen Buben Ohren und vermehrte seinen Schrecken. Es war ganz so wie das erste Mal, lang gezogen wie Sterbegewimmer, aus der Tiefe eines Brunnens hervorkommend.

Wiederum kam es hinter dem Baumstamm hervor, doch diesmal von der Seite, die er gerade verlassen und wo er niemanden gesehen hatte!

War der Verwundete etwa nach der anderen Seite des Baumstumpfs hin gekrochen, während er, Quashie, nach der entgegengesetzten Seite ging?

Dies war jetzt sein Hauptgedanke. Um dies zu untersuchen, ging er nach der Seite zurück, wo er zuerst war, diesmal in schnellerem Schritt, damit der geheimnisvolle Wehklagende ihm nicht wieder entschlüpfen könne.

Als er wieder auf diese Seite des Baumstumpfs kam, war er noch mehr verwundert als zuvor. Die Flinte lag noch an derselben Stelle, wo er sie verlassen hatte. Keiner schien sie berührt zu haben, keiner war da!

Abermals die Stimme, diesmal in einem hohen und schrillen Tone, der mehr einem lauten Angstgeschrei glich! Das war ein neuer Schrecken für Quashie. Der Schweiß stand ihm auf seiner Stirn und rann seine Wangen gleich großen Tränen hinunter.

Das Angstgeschrei war in der Tat mehr das eines lebenden Menschen als wie zuvor und dies verlieh dem schwarzen Buben auch hinreichenden Mut, noch länger auszuhalten, denn noch immer zweifelte er nicht, dass die Stimme von der anderen Seite des trockenen Baumes käme. Deshalb versuchte er es noch einmal, den Schreier zu entdecken.

Stets noch in dem Glauben, dass der Mensch, dem die Stimme angehöre, in welcher Absicht es auch geschehe, rund um den Baum herumgehe, um ihn zu ärgern, war Quashie jetzt entschlossen, nicht eher einzuhalten, als bis er den ihm Ausweichenden eingeholt.

Deshalb lief er im Trab um den Baum herum, doch da er von Zeit zu Zeit das Ächzen und Stöhnen immer wieder hörte, so beschleunigte er noch sein Laufen, sodass er zuletzt aus allen Kräften rannte.

So lief er mehrere Male um den Baum herum, bis sich endlich bei ihm die volle Überzeugung festsetzte, dass gar kein menschliches Wesen vor ihm her rennen könne, ohne dass er es sehen müsse.

Diese Überzeugung ließ ihn sofort halten, denn ein schrecklicher Gedanke hatte sich plötzlich seiner bemächtigt. Wenn es kein menschliches Wesen ist, dann muss es unbedingt ein Gespenst oder gar der Teufel selbst sein!

Dieser Gedanke, der seine ganze Seele mit Furcht und Schrecken erfüllte, wurde jetzt überwältigend. Quashie vermochte ihm nicht länger Widerstand zu leisten.

»Gespenst! Jumbé? Der Deibel!«, schrie er im fürchterlichem Schrecken mit klappernden Zähnen und aus ihren Höhlen heraustretenden Augen, schoss von dem verzauberten Baum fort und rannte so schnell, wie seine zitternden Beine ihn fortzubringen vermochten, schnurstracks nach Willkommenberg.