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Sagen- und Märchengestalten – Der Adept zu Berlin – Teil 2

Sagen- und Märchengestalten sowie Geister-, Wunder- und Aberglauben des deutschen Volkes
Mit Erzählungen von Begebenheiten der Vorzeit, die den Glauben an eine Geisterwelt förderten, Berlin, Verlag von Burmester & Stempell,1874

Der Adept zu Berlin – Teil 2

Der Generalgouverneur von Kursachsen, Fürst von Fürstenberg, saß in seinem Gemach und blätterte eifrig in den Depeschen, welche den Marmortisch bedeckten, an dem er arbeitete. Er neigte sich gedankenvoll im Sessel zurück und schloss diplomatisch bedeutsam die Lippen.

Eine geraume Zeit saß er so. Endlich streckte er die schmale weiße Hand nach der silbernen Klingel auf einem seltsam verzierten Guéridon aus, um einen jungen Mann herbeizurufen, der im Nebenzimmer harrte.

»Ist Er in Wittenberg bekannt, Gelneck?«, fragte der Gouverneur, dessen Augen noch immer auf den Zeilen der zuletzt aufgebrochenen Depesche hafteten.

»Zu Befehl, fürstliche Gnaden«, entgegnete der junge Mann mit einer tiefen respektvollen Verneigung »Meiner Mutter Bruder, Jeremias Busch, ist allda Bürgermeister.«

»Hm!«, murmelte der Fürst mit sichtlicher Befriedigung, »ist Sein Oheim verheiratet?«

Ein lebhaftes Rot färbte die Wangen des Angeredeten und seine dunklen Augen blitzten, als er erwiderte: »Mein Oheim war mit einer von Wildung vermählt. Jetzt ist er Witwer und hat außer einer Verwandten niemanden um sich, die dem einsamen Mann das Hauswesen führt.«

»Ihr meint also, dass der Bürgermeister imstande ist, jemanden bei sich aufzunehmen?«, forschte der Gouverneur, der noch immer in Gedanken vertieft die Depesche zu studieren schien. Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr er fort: »Lasse Er sich ein gutes Pferd satteln, Gelneck, und reite Er ohne Verzug hinüber nach Wittenberg. Je eher Er daselbst anlangt, desto besser. Es hält sich dort ein fremder junger Mensch auf, ein Flüchtling aus Preußen, Johannes Bötticher oder Böttcher. Schreibe Er sich den Namen auf! Seinem Oheim meinen Gruß, mit dem Befehl, den Fremden aufzusuchen und zu sich einzuladen. Es ist durchaus nötig, dass er das tut. Lieb wäre es mir, wenn er ihn auch beaufsichtigte, doch so, dass der andere nichts davon bemerkt. Ich gebe Ihm sechs Tage, um die Angelegenheit in Ordnung zu bringen. Geh Er, geh Er!«

Seine fürstliche Gnaden reichten huldvoll die Hand dar, die der junge Mann ehrerbietig ergriff und küsste. Dann verließ er das Gemach.

Mit gesenktem Haupt saß der hohe Herr sinnend in seinem Sessel, als sich leise eine Tür öffnete, derjenigen entgegengesetzt, durch die Gelneck sich entfernt hatte. Eine hohe, jugendliche Frauengestalt erschien, betrachtete den Fürsten mit einem herausfordernden Lächeln, das den lebhaften Zügen ihres Angesichtes überaus anmutig stand, und sagte endlich: »Seid Ihr gar so sehr beschäftigt, gnädiger Herr, dass Ihr tief in Sorgen versunken sitzt, gleich dem guten Kaiser Rotbart?«

Der Gouverneur wendete sich bei diesen im süßesten Ton gesprochenen Worten rasch um und entgegnete: »Tritt näher, Elisabeth, tritt ein.« Die junge Dame beeilte sich, der gnädigen Erlaubnis zu folgen, doch der breite Reifrock, den sie trug, gestattete ihr kaum, durch die Tür hindurch zu gleiten.

»Es ist schrecklich«, sagte sie halblaut, »immer und immer wie der Vogel im Käfig zu leben.« Dann lehnte sie sich zärtlich über des Fürsten Sessel und fuhr fort: »Die Neugier plagt mich, gnädiger Vater. Ich sah Gelneck über den Hof zu dem Marstall eilen und ein schnelles Ross heischen…« Sie stockte. Dann fügte sie schelmisch hinzu, indem sie zu dem Nebengemach deutete, dessen Tür hinter ihr offen geblieben war: »Ich will’s nur gestehen, dass ich auf dem Altan dort stand und jedes Eurer Worte hörte. Deshalb kam ich. Es ist unerträglich langweilig in unserem Dresden, seit der König nach Polen ging.«

Der Gouverneur machte eine abweisende Handbewegung.

Die junge Dame begann nun gleich darauf von Neuem: »Was begab sich mit dem Fremden, dass Ihr Euren vertrautesten Diener sechs ganze Tage lang entbehren mögt? Ist er ein Pole, ein Schwede?«

»Viel einfacher und harmloser liegt die Sache«, entgegnete der Fürst. »Wir wussten nichts von seiner Flucht, noch weniger von seinem Aufenthalt in Wittenberg. Allein dieses Schreiben enthält eine so dringende Aufforderung, noch dazu in einem gewissen befehlenden Ton, den Kurbrandenburg bis jetzt nicht gegen uns anzuschlagen wagte, den Fremden unverzüglich auszuliefern, dass es scheint, als müsse ich den angeflogenen Goldfinken erst näher betrachten, ehe ich ihn seinem Herrn zurückgebe. Dieser Bötticher ist nämlich ein Adept und soll den Stein der Weisen zu bereiten wissen.«

»Sagt man das in Brandenburg?«, rief Elisabeth.

»Man liest es zwischen den Zeilen«, entgegnete lächelnd der Fürst. »Aber ich bin entschlossen, ihn nicht auszuliefern, bis der König es befiehlt. Noch heute will ich an ihn berichten.«

»Weshalb lasst Ihr den Mann nicht nach Dresden kommen?«, sagte die junge Dame lebhaft. »Ich selbst möchte ihn sehen. Diese Adepten bezeichnet ein stolzes, selbstbewusstes Auftreten, das mir Freude macht.«

»Schweig!«, unterbrach sie der Fürst mit Heftigkeit, »ich weiß, wen du meinst, und nur mit Unwillen gedenke ich jenes Mannes, von dessen Kunst ich überzeugt war, nach dem sich meine Hand schon ausstreckte, als er verschwand. So wird es, so soll es mit diesem nicht kommen!«

Hinter dem Sessel ihres Vaters richtete Elisabeth sich hoch auf. Ein seltsames Licht sprühte in ihren dunklen Augen, aber sie sagte nichts.

Die Tage, welche Gelneck zu seiner Fahrt verwenden durfte, waren verflossen und er kehrte zurück, munter, lebhaft, devot wie immer, freilich ein wenig gezaust von dem Wind, der über die Heide stürmte, die stolzen Federn seines Baretts entfärbt vom Regen, seine Kleider beschmutzt und bestäubt. Doch das alles achtete er gering. Er hatte den berühmten Adepten mit eigenen Augen gesehen, hatte ihn selbst in des Oheims Haus geführt und die genaueste Überwachung desselben in Muhme Barbaras Hand gelegt. Dass er dort gut aufgehoben war, wusste er gewiss.

Barbara von Wildung vertrat in dem Haus des Bürgermeisters Pasch die waltende Hausfrau. Da sie der Frühverstorbenen nahe verwandt war, hatte der Witwer sie zu sich genommen und fand in ihr eine aufmerksame und gewandte Pflegerin, die sich mit glücklichem Takt in alle seine Launen zu schicken wusste. Barbara und Hans Gelneck waren die nächsten Erben des reichen Mannes, und dieser mächtige Beweggrund mochte in ihres Vetters Brust den Entschluss erweckt haben, sie dereinst zu seiner Gattin zu machen.

Und keine leichte Aufgabe hatte der ehrgeizige Jüngling sich gestellt! Was er in diesem Augenblick zu erringen schien, ging im nächsten wieder verloren, sobald des Bürgermeisters Stirn sich faltete oder ein kühles Wort seinen Lippen entschlüpfte; denn das war das Wetterglas, nach dessen Sinken oder Steigen Barbara ihr Verhalten regelte. Und wie wunderlich dies auch scheinen mag, übte doch das diplomatische Wesen seiner Muhme, weit entfernt, Gelnecks Herz zu erkälten, vielmehr einen Reiz auf ihn aus, der ihn zu immer neuen Anstrengungen spornte, alle Hindernisse zu besiegen.

Er zögerte daher nicht, seiner geliebten Muhme in kurzer, ausdrucksvoller Rede alles dasjenige anzudeuten, was er, wie sein Herr, ›zwischen den Zeilen‹ dieser sonderbaren Angelegenheit las, die Hoffnungen, welche er auf das Gelingen der fein angesponnenen Pläne baute. Er unterließ dabei nicht, mit einiger Selbstgefälligkeit auf den unverkennbaren Beweisen huldvollen Wohlwollens zu verweilen, mit denen die schöne Elisabeth von Fürstenberg ihn hin und wieder beehrte. Das sie vor seinen Augen dem fremden Abenteurer Laskaris noch ganz anders zugeblickt, ihm selbst sogar einst heimlich ein Briefchen an denselben zugesteckt, verschwieg er weislich, denn Barbara lächelte gar seltsam zu allen diesen Dingen, was ihn ein wenig außer Fassung brachte.

Indessen gab er sich alle Mühe, ihr seinen Vorteil ans Herz zu legen, und er verflocht den ihren so geschickt damit, wie immer möglich. Es stand zu hoffen, dass die Muhme, aus deren schönen Augen der helle Verstand leuchtete und um deren Mund ein gar süßes Lächeln schwebte, vollkommen begriff, um was es sich handelte. Auch schien der junge Adept ein leicht zu behandelndes Werkzeug. Er sprach so offen von allen seinen Angelegenheiten, hatte selbst im Angesicht des Bürgermeisters und eines kleinen gewählten Kreises von Freunden, eine der geheimnisvollen Verwandlungen ausgeführt. Was sein Verhältnis zum schönen Geschlecht betraf, so wagte er kaum, einer Frau gerade in die Augen zu schauen, errötete vielmehr, gleich einer Jungfrau, sobald Muhme Barbara sich mit Blick oder Wort zu ihm wendete.

Der Fürst saß im Lehnstuhl und arbeitete eifrig an einem eigenhändigen Bericht für den damals in Polen schwerbedrohten König August II.

Die gefurchte Stirn, die finster zusammengezogenen Augenbrauen des Gouverneurs deuteten die schwere Sorge an, die sein Gemüt bewegte, denn sein eigensinniger Herr verweigerte standhaft, in das getreue Sachsenland zurückzukehren, wo der Kurfürstenstuhl ihm sicherer stand, als der Königsthron unter den widerspenstigen Slaven.

Doch selbst bei dem drohenden Verlust des so heiß begehrten, mit gewaltigen Opfern erkauften Diadems, und trotz der Gefahr, sich Brandenburg zum Feind zu machen, verweigerte der König entschieden die Auslieferung des Adepten. Als nun der von Wittenberg zurückkehrende Gelneck gemeldet wurde, empfing ihn Fürstenberg mit der gnädigsten Herablassung. Aufmerksam hörte er den Bericht, seine Stirn erheiterte sich, sein Auge erglänzte und um die schmalen Lippen zuckte es wie Schadenfreude.

Als Gelneck geendet hatte, schwieg der Fürst einige Augenblicke, dann sagte er lebhaft: »Unser gnädigster Herr hat recht. Dieser junge Mann scheint zu großem berufen zu sein und ich hoffe, sein Oheim, der Bürgermeister, wird unseren Befehlen pünktlich nachkommen.«

Damit ruhte die Sache, doch nur kurze Zeit. Neue und drohendere Forderungen Preußens ließen sogar befürchten, dass Wittenberg von ihnen durch einen Handstreich genommen werden könnte. Die Besatzung des gefährdeten Platzes wurde verstärkt, Bötticher unter genauere Überwachung gestellt, deren es bei dem Jüngling nicht bedurfte; denn Mühmchen Barbara begann bereits einen Zauber auf ihn auszuüben, der ihn mächtig verstrickte und keinen Gedanken an Flucht in ihm aufkommen ließ, selbst wenn er geahnt hätte, dass Schweres ihm begegnen könne. In unbewusster rasch auflodernder Neigung lebte Johannes nur dem Augenblick, denn was kümmerte ihn das Morgen, wo das Heute in lieblichen Bildern ihn umschwebte. Mitten in das fröhliche Aufkeimen, Hangen und Bangen fiel der summarische Befehl, den Adepten ohne Verzug unter starker Bedeckung nach Dresden zu senden.

Nun erst begann es sich zu zeigen, wie gut das Mühmchen des lieben Vetters Intentionen zu treffen gewusst. Wie aus eigenem Antrieb beschloss der Bürgermeister, den ihm anvertrauten Schutz persönlich in die Hände des einflussreichen Generalgouverneurs zu geben. Ganz natürlich schien, dass Barbara von Wildung ihn auf dieser Reise begleitete, denn ihr lebten noch manche Base und mancher Vetter in der Hauptstadt, deren Gunst der Waise von Nutzen sein mochte. So erhob auch der Adept gegen seine Überführung keinen Einspruch, erging sich in ausschweifenden Träumereien und erwartete nichts sehnlicher, als den Augenblick, da er seine Macht vor König und Fürsten zeigen durfte. Begierig streckte er die Hände nach dem reichen Kranz aus, den schlaue Berechnung ihm in lockender Ferne zeigte, und strebte vorwärts, während sich hinter ihm die Schranke schloss, die ihn von der übrigen Welt unerbittlich zu trennen bestimmt war.