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Spuren auf dem Mond

Spuren-auf-dem-MondSpuren auf dem Mond
Originaltitel: Le Orme
Englischer Titel: Footprints on the Moon
Cinemarte, Italien, 1975
Koch Media, München, Januar 2016, EAN: 4020628939663, ca. 96 Min. (Hauptfilm), EVK 49,99 Euro, FSK: 16, Regie: Luigi Bazzoni, Mario Fanelli, Drehbuch: Luigi Bazzoni, Darsteller: Florinda Bolkan, Klaus Kinski, Peter McEnery, Nicoletta Elmi, Caterina Boratto, John Karlsen, Esmeralda Ruspoli, Ida Galli, Miriam Acevedo, Rosita Torosh, Luigi Antonio Guerra, Lila Kedrova, Musik: Nicola Piovani
www.kochmedia-film.de

Die Dolmetscherin Alice Cespi leidet unter einem wiederkehrenden Traum, in dem ein Astronaut als Teil eines
nicht näher erklärten Experiments allein und gegen seinen Willen auf dem Mond zurückgelassen wird. Den Ursprung für diesen Traum schiebt sie einem Film zu, den sie als Kind gesehen hat. Eines Tages muss sie verstört feststellen, dass ihr fast drei Tage in ihrer Erinnerung fehlen. Das Letzte, an das sie sich erinnern kann, ist, dass sie bei einem Wissenschaftskongress fluchtartig ihre Übersetzungskabine verlassen hat. Ein blutbeflecktes Kleid und eine zerrissene Postkarte, die sie in ihrer Wohnung findet, geben ihr weitere Rätsel auf. Um das Geheimnis ihrer Amnesie zu lüften, folgt sie der Spur der Karte auf die Insel Garma und in ein gleichnamiges Hotel. Obwohl sie sich nicht erinnern kann, jemals dort gewesen zu sein, kann sich offenbar jeder dort an sie erinnern. Offenbar war sie während ihrer Amnesie hier, wenn auch unter einem anderen Namen. Alice begibt sich auf Spurensuche nach sich selbst, und tatsächlich glaubt sie sich nach und nach zu erinnern, schon einmal auf der Insel gewesen zu sein.

Bonusfilm: La Donna del Lago (The Possessed), Italien, 1965

Der Autor Bernard fühlt sich ausgebrannt. Um wieder neue Kraft tanken zu können und ein Buch fertigzustellen, verlässt er die Großstadt und sucht ein kleines, an einem See gelegenes Dorf auf, wo er schon als Kind die Urlaube mit seinen Eltern verbracht hat. Dort mietet er sich in einem altmodischen Hotel ein, wo er die Jahre zuvor schon regelmäßig abgestiegen ist, auch in der Hoffnung, dort das Zimmermädchen Tilde wiederzutreffen. Er erfährt, dass Tilde gestorben ist, doch niemand im Hotel möchte über die näheren Umstände ihres Todes sprechen. Nur der örtliche Fotograf gibt Bernard einen Hinweis. Auf einem Foto, von dem er noch einen Abzug hat, war Tilde schwanger. Wurde sie getötet, um den Vater des Kindes zu schützen? Bernard beschließt, diesem Rätsel auf den Grund zu gehen. Besteht ein Zusammenhang zu der jungen Schwiegertochter des Hotelbesitzers, die offenbar unter Schlaflosigkeit leidet und fast jede Nacht allein am See spazieren geht?

Zeitweilige Amnesie, die Suche nach sich selbst oder gar der schreckliche Verdacht, ein zweites, geheimes Ich zu beherbergen, sind stets dankbare Themen, aus denen sich so manch mysteriöser Thriller stricken lässt. Bereits Hitchcock hat das Thema in Ich kämpfe um dich bearbeitet, ebenso wie aktuell z.B. Jean-Christophe Grangé in Der Ursprung des Bösen.

In Luigi Bazzonis Spuren auf dem Mond erfährt der Zuschauer gleich zu Beginn, dass die zunächst ganz aufgeräumt erscheinende Alice geistig doch offenbar nicht so gut beieinander ist. Sie erfährt, dass ihr nahezu drei Tage an Erinnerungen fehlen, die sie vermeintlich aus Erschöpfung verschlafen hat. Doch dem ist nicht so, und Alice begibt sich auf eine rückwärts gerichtete Suche, die sie auf die ihr fremde Insel Garma führt, dort jedoch mehr Fragen aufwirft, als beantwortet.

Jeder dort scheint sie zu kennen. Ein Mädchen, das ebenfalls in Alices Hotel wohnt (Nicoletta Elmi, The Child – Die Stadt wird zum Albtraum, Rosso – Die Farbe des Todes), will sie streitend am Strand mit einem Mann gesehen haben, jedoch hatte Alice da eine komplett andere Frisur. Ist sie tatsächlich selbst die geheimnisvolle Nicole, die ihr offenbar zum Verwechseln ähnlich sieht? Dafür sprechen ihre vage Erinnerungen an diesen fremden Ort.

Dies alles geschieht in einer Zone der Desorientierung. Zusätzlich dazu, dass Alice an ihrer eigenen geistigen Zurechnungsfähigkeit zweifelt, muss sie ihre Suche auf fremdem, verwirrendem Terrain begehen. Die Insel Garma ist geprägt von Gegensätzen, wie die wild gemischte Architektur und verschiedenartige Schriften. Die gesamte Atmosphäre ist durchzogen von Desorientierung und Märchenhaftigkeit. Es gibt kein sichtbares Ziel für Alice, das es zu fixieren gilt. Immer wieder tauchen scheinbar klar umrissene Hinweise am Rand ihres metaphorischen Blickfeldes auf, doch sobald sie ihren Blick darauf fokussiert, sind diese wieder verschwunden.

Filmisch ist dies wunderbar in poetischen Bildern und mit dem zeitweiligen Einsatz von gezielter Farbgebung umgesetzt. Unterbrochen immer wieder durch die klinisch nüchtern gefilmten Schwarz-Weiß-Bilder, die Alices mysteriösen Traum darstellen sollen. Kameramann war Vittorio Storaro (Academy Award 1979 für Apocalypse Now).

Der einzige Nachteil der Edition ist, dass auf der deutschen Tonspur zeitweise die unpassende elektronische »Ersatzmusik« der deutschen Version enthalten ist, die überhaupt nicht mit Nicola Piovanis (Academy Award 1998 für Das Leben ist schön) wunderbaren Originalscore harmoniert. Um in den Genuss der vollständigen Musik von Piovani zu kommen, muss man die italienische Tonspur wählen, ggf. mit deutschen Untertiteln.

Das Ende einer solchen Geschichte stellt stets die Kür und gleichzeitig einen empfindlichen Knackpunkt dar, die dem mysteriösen Geschehen einen folgerichtigen und doch im besten Falle überraschenden Schlusspunkt setzen muss. An diesem Punkt besteht die große Gefahr, dass die komplette Handlung wie ein Kartenhaus wirkungslos und enttäuschend in sich zusammenstürzt. Luigi Bazzoni geht hier den außergewöhnlichen und mutigen Weg, der ohnehin schon kafkaesken Handlung einen grandios absurden und surrealen Höhepunkt aufzusetzen, der nichts aufklärt und die komplette Einordnung der Ereignisse dem Publikum überlässt.

Hier drängt sich auch die Rolle von Enfant Terrible Klaus Kinski in den Vordergrund, der als geheimnisvoller Professor Blackman der Leiter des verhängnisvollen Experiments in Alices Traum zu sein scheint.

Schon in der Vergangenheit hat Koch Media mit hochwertigen Veröffentlichungen europäischer Genreklassiker von sich reden gemacht, wie etwa Der Killer von Wien, Malastrana oder Der Mann ohne Gedächtnis mit Senta Berger. Wie diese Vorgänger wird auch Spuren auf dem Mond immer wieder als Giallo benannt, auch wenn er überhaupt nicht in diese Schublade voller schwarzer Handschuhe, grausamer Mordserien und nackter Haut passt.

Was die Ausstattung angeht, hat Koch Media zu den oben genannten, noch eine ordentliche Schippe draufgelegt und eine 5 Disc-Box veröffentlicht, die den Hauptfilm jeweils auf DVD und Blu-ray enthält und als Hauptbonus gleich noch einen zweiten Film von Luigi Bazzoni in voller Länge, nämlich La Donna del Lago (The Possessed auch Lady of the Lake) – in Originalsprache mit deutschen Untertiteln – ebenfalls auf DVD und Blu-ray. Dazu die Doku Das Geheimnis des Sees, in der einige der am Film Beteiligten zu Wort kommen. Damit enthält die Box den ersten und den zehn Jahre später entstandenen letzten Langfilm Bazzonis. Viele Motive aus La Donna del Lago tauchen auch in Spuren auf dem Mond wieder auf, was förmlich dazu einlädt, beide Filme im Vergleich anzusehen. Disc 5 enthält aktuelle Interviews mit Kameramann Vittorio Storaro (75 Minuten) und der sympathischen Nicoletta Elmi (50 Minuten) sowie ein Videoessay Dr. Marcus Stiglegger über Spuren auf dem Mond. Abgerundet wird das Paket mit einem 16-seitigen Booklet, in dem Genrekenner Christian Keßler ebenfalls über die beiden enthalten Filme informiert.

Fazit:
Ein brillantes märchenhaft-mysteriöses Filmkunstwerk, dargeboten in einer exzellenten Veröffentlichung.

(eh)