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Das Geisterschiff und der Fliegende Holländer Teil 1

Das-Geisterschiff-und-der-fliegende-HollaenderDas Geisterschiff und der Fliegende Holländer
Lebendig im jüngsten Gericht oder Rache bis über das Grab hinaus
Eine höchst schaudervolle Geschichte höllischer Bosheit

Ein schreckliches Geheimnis

Vor etwa 200 Jahren stand in der, nicht weit entfernt vom Ufer der Schelde und der Insel Walhern beinahe gegenübergelegenen kleinen und befestigten Stadt Terneuse, unter anderen noch niedrigeren Wohnungen ein unscheinbares nettes Häuschen, im Geschmack jener Zeit erbaut, mitten in einem freundlichen, von einer Ligusterhecke umzäunten Gärtchen, und von einem schützenden Graben umgürtet, über welchen ein mit einem eisernen Geländer verziertes Brücklein zur Haustür führte.

Zwei größere Abteilungen nach vorne, und zwei kleinere rückwärts, sowohl zu ebener Erde als auch im ersten Stock, bildeten das Innere des Häuschens. Das eine der Zimmer zu ebener Erde nach vorne wurde zugleich als Küche benutzt und enthielt nur ein Bett, einen starken Tisch aus Föhrenholz und zwei hölzerne Stühle. Das andere vordere Zimmer war seit fast 17 Jahren fest verschlossen und wurde von keinem Bewohner des Häuschens betreten. In dem Küchenzimmer saß auf dem kleinen ärmlichen Bett eine Frau von etwa 40 Jahren, mit der Witwenhaube jener Zeit auf ihrem Kopf. Ihr Gesicht zeigte die Spuren früherer Schönheit, aber auch einer rasch fortschreitenden Abzehrung, augenscheinlich infolge eines tief nagenden Grams und aufgegebener Hoffnung. Aus ihren Augen brachen bisweilen Blitze drohenden Wahnsinns.

Am Tisch mitten in der Küche saß ihr Sohn Philipp, etwa 20 Jahre alt, ein blühender mutiger Jüngling von seltener Körperkraft. Entschlossenheit und Charakterstärke leuchteten aus seinen Augen und als er, mit den Füßen umherschlenkernd ein Matrosenlied summte, durchkreuzten gewiss abenteuerliche Gedanken seinen Kopf.

Die Hände zur Bitte faltend, flehte die arme Frau: »Tu’s mir zuliebe, mein lieber Sohn, geh nicht zur See, o versprich es mir, Philipp!«

»Warum verlangst du dies von mir, Mutter?«, erwiderte der Sohn schnell. »Mein Hierbleiben schützt mich nicht vor dem Verhungern. Dieses Los bedroht uns. Ich muss einen Erwerb suchen, um uns beide ernähren zu können. Wenn ich das Anerbieten meines Oheims Vanbrennen annehme, zu ihm zu kommen, so kann ich an Bord des Schiffes einen zum Lebensunterhalt von uns beiden hinreichenden guten Lohn erhalten.«

»Es wird mein Tod sein, Philipp, wenn du von mir gehst! Du bist ja mein einziges Gut in der weiten Welt. Du liebst mich, Philipp, das weiß ich, und deshalb beschwör’ ich dich bei dieser deiner Liebe, nicht von mir zu scheiden. Kann dich nicht davon abhalten, so meide wenigstens das Seemannleben!«

Eine Antwort erfolgte nicht sogleich für die weinende Mutter. Philipp pfiff leise ein Liedchen und sagte nach einer Pause: »Willst du mich vielleicht deswegen vom Seeleben abhalten, weil mein Vater auf einer Seereise ertrunken ist?«

»Ach, nein, nein, nein! Wollte Gott …«

»Was meinst du damit, Mutter?«, unterbrach sie Philipp hastig.

»Nichts, gar nichts! Gott der Barmherzigkeit, steh mir bei!«, schluchzte die Mutter, sank vom Bett auf ihre Knie und betete voll Andacht. Dann setzte sie sich wieder auf das Bett, und ihre Gesichtszüge zeigten nun den Ausdruck größerer Ruhe.

Schweigend und nachsinnend blickte Philipp auf die Mutter und sprach dann: »Sieh, Mutter, nach deinem Wunsch soll ich bei dir im Land bleiben, dem bitteren Mangel preisgegeben. Wozu dies, wenn es ein Mittel gibt, unsere Lage zu verbessern? So weit meine Erinnerung zurück reicht, weiß ich jenes Zimmer hier gegenüber verschlossen. Die Ursache erfuhr ich nie von dir, aber einst sagtest du, dass in diesem Zimmer Gold liege, das unserm Elend abzuhelfen genügen würde, dass du aber lieber sterben, als dieses Zimmer betreten wolltest. Dabei weinst du bitterlich. Gesteh nun, Mutter, was ist denn in jenem Zimmer verborgen, und warum ist es seit so langer Zeit verschlossen! Ich muss dies erfahren oder ich gehe zur See!«

Bleich und regungslos saß die Mutter da, gleich einer Bildsäule. Nach und nach regten sich ihre Lippen wieder, ihre Augen schimmerten. Wie um eine qualvolle Angst zu bewältigten, drückte sie ihre bleiche Hand fest auf ihr Herz. Zuletzt neigte sich ihr Haupt, und aus ihrem Mund strömte Blut. Schnell sprang Philipp herbei, umfasste sie, damit sie nicht zu Boden sank, und legte sie sanft auf das Bett.

»Ach, Mutter«, jammerte er schmerzlich, »was soll dies bedeuten?«

Einige Minuten lang konnte sie kein Wort hervorbringen. Sie kehrte sich seitwärts, um nicht zu ersticken, und der blendend weiße Fußboden wurde von dem Bluterguss aus ihrem Mund gerötet.

»So sprich, liebe, liebe Mutter, was ich tun soll! Ewiger barmherziger Gott, was ist das?«

»Der Tod, mein liebes Kind, der Tod«, lispelte die arme Frau, deren Bewusstsein schwand.