Ausschreibung
Sternenlicht-Anthologie

Download-Tipp
Band 6

Heftroman der Woche

Archive
Folgt uns auch auf

Mit den Konquistadoren ins Goldland Teil 12

Gustav Dittmar
Mit den Konquistadoren ins Goldland
Eine Erzählung aus der Zeit der Welserzüge
Teil 12

Zischende Viper, der gefangene Xidehara, erwies sich als unschätzbarer Gefährte. Niemand sah ihn lachen oder auch nur lächeln, aber er schleppte unverdrossen die Last, die Hans ihm aufbürdete, und kein Lauf der Klage kam über seine Lippen. Müdigkeit, Hunger und Durst schien er nicht zu kennen. Hans Hauser konnte sich bald in der Sprache der Aruakstämme gut mit ihm verständigen, ja selbst ein paar Worte Deutsch lernte der Indianer. Es war vielleicht das erste Mal, dass die Lippen eines Indianers deutsche Laute bildeten. Häufig brachte der Indio Wurzeln, Beeren, Früchte herbei, die, wenn sie auch keine Leckerbissen waren, wenigstens den Hunger stillten. Zwar gab es seit einiger Zeit reichlich Fleisch – ganze Rudel von Spießhirschen standen in dem hohen Savannengras und waren eine leichte Beute – aber das Brot fehlte und am schlimmsten war der Mangel an Salz.

Manchmal musste auch ein Affe sein Leben lassen. Zischende Viper, der überraschend schnell die Armbrust zu handhaben gelernt hatte, nachdem man sie ihm einmal anvertraut hatte, war ein trefflicher Schütze.

Freilich, die Deutschen mussten erst ihren Ekel überwinden, wenn ihnen der Xidehara den abgebalgten oder gar nur abgesengten Affen im Ganzen gebraten oder gekocht vorsetzte. Sie kamen sich wie Kannibalen vor, die ein kleines Kind fraßen. Es war eine trockene und zähe Speise. Ein umso köstlicherer Leckerbissen war ein saftiger Tapirrücken. Namentlich in der Nähe der Flussläufe traf man häufig die fetten Rüsseltiere und stellte ihnen eifrig nach.

Allmählich geht der Winter zu Ende, der »Sommer« beginnt, die Trockenzeit. Sehr rasch verändern die Llanos ihr Aussehen. Der Boden, in dem Mensch und Tier vor wenigen Wochen noch versanken, wird hart, trocken und rissig, das Gras, von der Sonne verbrannt, gelb und dürr. Eine ungeheure Hitze brütet über der Ebene, die ringsum zum Himmel anzusteigen scheint.

Am Horizont, der wie eine Wellenlinie ist, verschmelzen Erde und Himmel miteinander. Es ist völlig windstill, aber trotzdem bilden sich infolge der ungleichmäßigen Erwärmung der Luft kleine Sandwirbel, die die unerträgliche Hitze steigern. Der scharfe Staub dringt in die Poren der Haut und erzeugt schmerzhafte blutende Schrunden. Nichts unterbricht die unendliche Fläche als die zahllosen Mauritiuspalmen, die über sie zerstreut sind. Durch die trockenen Nebel- und Dunstschichten gewahrt man undeutlich ihre Stämme, die wipfellos scheinen wie Schiffsmasten. Das Bild der Landschaft ist so einförmig, dass das Auge keinen Punkt findet, an dem es den Weg messen kann. Immer wieder tauchen diese Palmstämme vor dem Blick auf, die einander so ähnlich sind, dass man sie nicht unterscheiden kann. Keinen Ruhepunkt findet das Auge, und den Wanderer überkommt das trostlose Gefühl der Ziellosigkeit seines Marsches.

»Durst, Durst!«, stöhnen die Fieberkranken. Man hat sie wie Quersäcke auf die Pferde gebunden, ein jämmerlicher Anblick. Doch auch die Gesunden kommen fast um vor Durst. Wie lange wird sie das Fieber noch verschonen?

Seit Stunden reiten die Freunde nebeneinander, ohne ein Wort zu sprechen. Die Zunge klebt am Gaumen, der Speichel schmeckt gallenbitter. Das ausgedörrte Gehirn kann keinen Gedanken mehr fassen. Von Zeit zu Zeit wirft Fabricius einen prüfenden Blick auf Hans Hauser. Das Gesicht des jungen Konstanzers ist gelb, vor der grellen Helligkeit hat er die Augen geschlossen. Er taumelt im Sattel. Manchmal geht es wie ein kalter Schauer durch seinen Körper.

»Bist du krank?«, fragte Fabricius.

»Nein, nein«, erwidert Hans Hauser, »nur durstig.« Mit eiserner Willenskraft hält er sich aufrecht.

Ein Ruf kommt von der Spitze des Zuges. Sie haben einen Tümpel gefunden, in dem noch ein wenig fauliges, laues Wasser steht. Die Soldaten werfen sich mit wilder Begierde zu Boden und pressen hastig die trockenen, zersprungenen Lippen in das bisschen Feuchte. Auch Hans Hauser zieht es unwiderstehlich hin.

»Bleib weg«, warnt der Freund, »du holst dir den Tod!« Er drängt Hans Hauser einen Schluck Wasser auf, den er noch in einem kleinen Schlauch aus Ziegenhaut bei sich trägt. Vor Tagen hat er ihn gefüllt, als die Truppe den Masparro überschritt, und den letzten Schluck wie eine Kostbarkeit gehütet. Gierig trinkt Hans Hauser.

Die lasttragenden Indianer, je zehn aneinandergefesselt mit Ketten, die um den Hals gehen, heulen von Zeit zu Zeit wie wilde Tiere auf. »Vorwärts, vorwärts – avante, avante!«, schreien die deutschen und spanischen Trossknechte und schwingen die Peitschen. Doch immer wieder bricht ein unglücklicher unter seiner Last zusammen. Man nimmt sich kaum Zeit, den Gestürzten von der Fessel zu lösen. Die Last verteilt man eilig auf andere Träger. Der Zusammengebrochene bleibt liegen, die Beute eines langsamen und qualvollen Todes. Niemand gönnt ihm auch nur den Gnadenstoß.

Nachts aber, wenn die Truppe völlig erschöpft lagert, machen die Sklaven immer wieder den Versuch zu fliehen. Manchem Flüchtling fährt der Bolzen eines Armbrustschützen oder die Kugel eines Arkebusiers in den Rücken. Andere fangen die verfolgenden Reiter wieder ein. Man tötet sie wohl nicht alle – dazu sind sie zu wertvoll – aber an den Schwächeren, die nicht mehr voll verwendbar sind, werden zur Abschreckung der anderen schreckliche Leibesstrafen vollzogen.

Schauerlich klingen die Phantasien der Fieberkranken. In ihrem Stammeln mischen sich wilde Flüche mit kläglichen Gebeten und wilden Selbstanklagen. Immer aber kehrt ein Wort wieder: »Dorado, Dorado!« Sie winseln es, sie stoßen es hervor in Zorn und Wut: »Dorado, Dorado …«

In den zackigen Gebilden, die der heiße Dunst am Horizont hervorzaubert, sehen sie die Stadt des Goldenen mit Zinnen, Brücken und Türmen – Gold, Gold und … Wasser, Wasser, Wasser!

Unter den Gesunden aber entsteht eine gefährliche Gärung. Was sollen sie in dieser trostlosen Wildnis? Niemals werden sie hier den Goldenen finden. Üppige Fluren? Indianer, die in goldstrotzenden Rüstungen gehen? Eine Wüste ist dieses Land, und wo man auf Indianer stößt, sind es armselige Wilde, die tierisch in elenden, schmutzstarrenden Hütten dahinleben. Was führt uns Hohermut hierher? Er taugt nicht zum Führer! Wären wir doch lieber mit Federmann gezogen!

Den Gubernator treffen finstere Blicke, wo er sich zeigt. Er weiß, worum es geht. Wohl herrscht eiserne Manneszucht in diesem Landsknechthaufen. Es ist ein ehernes Gesetz: Wer den Gehorsam verweigert, wird gehängt. Trotzdem geht immer der Geist der Meuterei um und es bedarf stählerner Willenskraft und größter Klugheit, den ungebärdigen Haufen im Zaum zu halten.

Hohermut trifft kaltblütig seine Maßnahmen. Vor allen Dingen bildet er aus den Verlässlichsten für sich und Hutten eine Art Leibwache. Selbstverständlich gehören auch die Freunde dazu. Der Offiziere, auch der spanischen, glaubt er sicher zu sein, mit Ausnahme höchstens des undurchdringlichen Velasco.

Eines Abends rastet die Truppe nach einem fürchterlichen Durstmarsch mitten in der grenzenlosen Einöde. Seit Tagen sind ein paar elende Kaktusfeigen ihre einzige Nahrung. Die Soldaten sind halbtot vor Durst. Sie haben kein Feuer angezündet. Wozu auch? Dumpf hocken sie in kleinen Gruppen am Boden. Plötzlich erhebt sich Lärm. Der Hauptmann Sanchez de Murga ist mit einem Landsknecht wegen irgendeiner Nichtigkeit in einen Wortwechsel geraten. Er droht dem Unbotmäßigen, dass er ihn dem Steckenknecht übergeben werde. Der Bedrohte schweigt trotzig. Doch ein drohendes, gefährliches Murren, wie das gereizter wilder Tiere, wird ringsum laut. Sanchez de Marga erbleicht. Er weicht zurück, Fäuste ballen sich hinter ihm.

An diesem Abend sprang zum ersten Mal das Wort auf: »Umkehren!« Niemand weiß, wer es zuerst sprach. Keiner sagt es laut, aber einer flüstert es dem anderen zu. Umkehren! Zurück ans Meer, zurück nach Coro! Mag uns ein elendes Leben in dem jämmerlichen Küstennest erwarten – besser leben, als hier in der Wüste elendig verdursten! Umkehren! Umkehren!

Das Wort wächst vom leisen, entfernten Brausen zum heulenden Sturm. Noch in derselben Nacht steht ein Haufen schreiender, wild erregter spanischer Landsknechte vor dem Gubernator, der ihnen mit seinen wenigen Getreuen entgegentritt. »Umkehren!«, brüllt die Menge. »Zurück nach Coro!«

Hohermut bleibt völlig ruhig. Mit eisiger Höflichkeit wendet er sich an die Tobenden. »Gefährten, Freunde! Ich hätte niemals erwartet, dass ihr, die kühnen Konquistadoren, den Mut verlieren würdet, weil einmal ein paar Tage lang Lebensmittel und Wasser knapp sind. Es ist schade, dass ihr umkehren wollt. Hätten Cortez und Pizarros Soldaten gedacht wie ihr, so wären Mexiko und Peru nimmermehr erobert worden. Es scheint, sie waren zäher und geduldiger als ihr, darum erwarben sie sich auch unermessliche Reichtümer. Ihr aber – es ist schade – werdet nun leider als Bettler an die Küste zurückkehren. Vergesst übrigens nicht, dass der Rückweg voller Gefahren ist! Seit drei Wochen marschieren wir durch die wasserlose Einöde. Nun gut, wir werden wohl vier Wochen brauchen, bis wir auf dem Rückmarsch den Masparro erreicht haben! Würden wir dagegen nach Süden weitermarschieren, so kämen wir vielleicht in ein paar Tagen an einen Fluss, in acht, in zehn, in zwölf Tagen vielleicht. Wirklich, es ist schade, aber es werden nun wohl andere, Zähere das Dorado erobern müssen.«

»Woher wisst Ihr, dass wir in zehn oder zwölf Tagen einen Fluss erreichen werden«, schreit eine Stimme aus dem Dunkel. »Wir lassen uns nicht foppen.«

Lärmende Zustimmung wird laut.

»Ich weiß es, Armseliger«, ruft Hohermut mit plötzlich verwandelter Stimme, »weil ich auf den Allmächtigen vertraue, der dem Tapferen hilft und ihm das ewige Leben schenkt, den Feigen aber, den Lumpen zur Hölle fahren lässt. Er hat Euren tapferen und frommen Vätern die Mauren in die Hand gegeben, damit sein Reich auf Erden vermehrt werde. Er wird Euch das Land der Indianer schenken mit all seinen Reichtümern, wenn Ihr die Prüfungen besteht, die er in seiner unergründlichen Weisheit über Euch verhängt. Doch wehe Euch, wenn Ihr lässig werdet im Dienst für Christus und das Kreuz!«

Eine Bewegung entsteht. Hohermut fühlt, dass seine Worte Eindruck gemacht haben. »Edle Spanier, Enkel Eid Campeadors, erweist Euch würdig Eurer Ahnen!«, fährt er fort. »Vertraut auf den Allmächtigen! Morgen mit Tagesanbruch marschieren wir – nach Süden, nach Süden, zum Wasser, zum Dorado. Gott und die heilige Jungfrau!«

Der Ruf der Landsknechte klingt nicht donnernd wie einst auf der Plaza zu Coro. Aus verdursteten Kehlen dringt er widerwillig, misstönend in die schwüle Nacht. Nur zögernd zerstreut sich der aufrührerische Haufen.

Unendlich langsam geht der Marsch weiter nach Süden durch die glühenden Ebenen. Fortwährend ist das Häuflein müder und kranker weißer Männer von Indianern umschwärmt, die sie immer kecker angreifen. Einmal entdeckt Fabricius auf einem Erkundungsritt ein größeres Pueblo. Da buchstäblich nichts Essbares mehr vorhanden ist, gibt Hohermut Befehl, die Siedlung in der Nacht zu überfallen. Doch die vom Fieber und Hunger geschwächten Christen, die Fabricius an den starken Dornenverhau heranführt, der das Dorf umgibt, werden von den Indianern zurückgeschlagen. Unter Verlust von drei Reitern und fünf Pferden muss sich Fabricius zurückziehen. Eine Niederlage – die erste – im Kampf mit den Indianern! Hohermut macht dem geschlagenen Führer keine Vorwürfe, als er ihm mit gesenktem Haupt Bericht erstattet, aber sein Gesicht ist todernst.

Fabricius wirft sich völlig erschöpft neben Kressel und Hans Hauser auf den Boden. Lange schweigt er. Dann stößt er ein einziges Wort hervor: »Umkehren!«

Kressel erwidert nichts, aber Hans Hauser springt auf. »Du, Joachim, du willst umkehren?«

»Umkehren!«, knirscht Fabricius. »Oder wir gehen in diesem gottverdammten Land alle miteinander zugrunde.«

Hans Hauser schweigt betroffen. Spricht der Freund nicht aus, was er selbst denkt, fortwährend, unablässig? Schon seit ein paar Wochen ist er krank, ohne dass es jemand weiß, ohne dass er klagt. Es ist kein körperliches Leiden, keine Erschöpfung, kein Fieber. Es ist eine so sinnlose Sehnsucht, dass er sie körperlich spürt und manchmal in wilder Qual aufstöhnt. Er hat Heimweh. Die Tränen kommen ihm, wenn er an Konstanz denkt, an den See, an einen frischen Wintertag. Ist es nicht gerade Winter in Deutschland, wo die Schneeflocken leise auf die Dächer der spitzgiebligen Häuser, die Türme, die Straßen der alten Stadt niederrieseln und alles in ihr weißes Gewand hüllen?

Doch nein, er will nicht verzagen! »Hohermut wird umkehren«, sagt er leise, »wenn keine andere Möglichkeit mehr bleibt.« Die beiden anderen schweigen.

Lange noch liegt Hans Hauser wach und starrt in den Himmel. Im Gras rascheln Schlangen. Er ist zu müde, um sich Gedanken darüber zu machen. Fledermäuse segeln schwerfällig durch die Luft. Hans hat Heimweh. Er fühlt, wie sich sein Herz schmerzhaft zusammenzieht. Deutschland, ach, Deutschland. Endlich schläft er ein.