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Der Marone – Einen Truthahn belauern

Der-Marone-Zweites-BuchThomas Mayne Reid
Der Marone – Zweites Buch
Kapitel 6

Einen Truthahn belauern

Fast schien es, als ob der göttliche Schutzherr der Jagd, der gute Sankt Hubertus, den verschütteten Wein als ein ihm dargebrachtes Opfer betrachtet und nun als Vergeltung eigens angeordnet hätte, dem Jäger besseren Erfolg zu gewähren. Denn kaum hatte sich dieser etwa zweihundert Schritte von dem Platz, wo er so heldenmäßig gefrühstückt hatte, entfernt, als er auch durch den Anblick einer Schar großer, schön aussehender Vögel entzückt wurde.

Sie befanden sich auf einem offenen Feld oder vielmehr auf einer einige Morgen großen Waldlichtung, an deren Rand der Jäger angelangt war.

Sie saßen oder vielmehr standen dicht nebeneinander. Wäre Herr Smythje durch den Anblick nicht so außerordentlich aufgeregt gewesen, so hätte er ganz wohl bemerken müssen, dass sie sich dicht um das Gerippe eines Schweines oder eines anderen Tieres versammelt hatten, dessen Knochen sie so gänzlich von allem Fleisch reinigten, als sei es für die Ausstellung in einem Museum bestimmt.

Da Smythjes Kenntnis der Naturgeschichte sich lediglich darauf beschränkte, was er bei einem Besuch einer Londoner Menagerie etwa zufällig gelernt hatte, so konnte es ihm auch nicht einfallen, welche Art von Vögeln dies sei oder was sie etwa dort vorhaben möchten.

Zuerst nahm er es für ganz gewiss an, es seien Guineahühner, so wie er sie gesucht hatte. Doch als er sie etwas genauer betrachtete, begann er zu zweifeln, ob es wirklich Guineahühner seien, denn diese, wenigstens die zahmen, die er auf Willkommenberg gesehen hatte, waren alle bläulich und gesprenkelt, wogegen die nun gesehenen Vögel alle gleichmäßig schwarz waren. Aber möglicherweise konnten die wilden Guinea- oder Perlhühner eine von ihren zahmen Verwandten ganz verschiedene Art sein, und dies erklärte den Mangel an Ähnlichkeit in der Farbe der Federn hinreichend.

Während der Aufstellung dieser Mutmaßungen bemerkte er eine andere Eigentümlichkeit an diesen Vögeln. Sie hatten alle zusammen nackte federlose Nacken und Köpfe von rötlicher Fleischfarbe, ganz wie Truthähne.

»Ha, beim Himmel! Das sind Truthähne! Wahrhaftig, wilde Truthähne!«

Der Londoner Stutzer hatte irgendwo einmal gehört, dass der wilde Truthahn in Amerika ursprünglich zu Hause sei, und so musste es also auch auf Jamaika sein, denn dies ist doch ein Teil Amerikas.

Wie irrig nun auch dieser Schluss war, er gefiel unserem Smythje, und deshalb nun fest überzeugt, dass er einen Haufen wilder Truthähne vor sich sähe, beschloss er, sofort Maßregeln zu nehmen, sie ungesäumt aufs Schlaueste zu überlisten.

Um sie mit einem Schuss zu treffen, waren sie noch zu weit von ihm entfernt. Deshalb, damit er ihnen näherkommen könne, ließ er sich auf die Knie nieder und fing an, durch die um die Lichtung herumstehenden niedrigen Büsche ihnen leise und unbemerkt näher zu kriechen.

Seine empfindlichen rehledernen Unaussprechlichen mussten freilich bei dieser Art der Fortbewegung etwas leiden. Ebenso fühlte er die große Unbequemlichkeit der Fußriemen, allein so begierig war er auf einen endlichen Erfolg, dass er selbst die Zerstörung seiner Fußriemen wie seiner Hosen nicht im Geringsten beachtet haben würde. Er dachte lediglich nur an den Verdruss, nach Willkommenberg mit einem leeren Wildbretkorb zurückkehren zu müssen und an den hohen Ruhm dagegen, mit einem gefüllten zu kommen.

Wäre er, anstatt zwischen den Gebüschen zu kriechen, gerade auf sie losgegangen, so würde er wahrscheinlich zum Schuss gekommen sein, denn die Vögel, anstatt Truthühner zu sein, waren lediglich brasilianische Geier (turkey boards oder Klashähne, wie sie in Jamaika genannt werden). Da diese auf der Insel unter dem besonderen Schutz eines Gesetzes stehen, so würden sie den Jäger schwerlich mehr beachtet haben, als ob sich eine Kuh unter sie verirrt hätte.

Da er aber ein Londoner Stadtkind, ein wirklicher Cockney war, welchen Umstand die klugen jamaikanischen Klashähne zweifelsohne sofort bemerkt hatten, die listige Art seiner Annäherung jedoch ihren Verdacht erregte, so gerieten sie in Angst, erhoben sich alle samt in die Luft und flatterten schwerfällig davon.

Weit flogen sie nicht, die meisten ließen sich auf den nahestehenden Bäumen nieder und einer setzte sich auf die Spitze eines Baumstammes, der nicht viel weiter als zweihundert Fuß ungefähr von der Stelle entfernt sein konnte, wo Smythje kniete.

Dieser Vogel nun, augenscheinlich der schönste des ganzen Fluges, zog hauptsächlich die Aufmerksamkeit des Jägers auf sich.

Er begriff wohl, dass ein ungewisser Schuss auf den großen Haufen nicht mehr möglich sei, da die Vögel auf den Bäumen zerstreut waren. Deshalb hielt er es für besser, sich mit einem einzigen Vogel zu begnügen.

Selbst nur eines von diesen großen Geschöpfen würde den Korb wohl gefüllt haben, denn ein wilder Truthahn hätte auf alle Fälle doch ein halbes Dutzend Guineahühner oder ein Dutzend wilder Waldtauben aufgewogen.

Um sich einen ganz sicheren Erfolg zu verschaffen, blieb der unverdrossene Jäger stets auf den Knien und kroch emsig vorwärts. Wenn er nur sechzig bis achtzig Schritte weiter kommen konnte, so wusste er, dass seine vortreffliche Flinte den Truthahn erreichen müsse, da er den Truthahn zweihundert Schritte von ihm entfernt zu sein schätzte.

Wirklich wurden die sechzig Fuß zurückgelegt und der Truthahn verblieb noch immer auf seinem früheren Platz.

Jetzt wurde das Gewehr auf den Vogel angelegt, die ausgezeichnete Mantonflinte tat ihre Schuldigkeit, und gleichzeitig mit dem Schuss fiel der Truthahn und verschwand von der Spitze des Baumstammes.

Der überglückliche Jäger stürzte sogleich hin, um seine Beute zu sichern, und erreichte als bald die Stelle, wo er sie zu finden erwartete.

Aber zu seiner größten Verwunderung war da – nichts!

Die übrigen Vögel waren alle fortgeflogen. War der Angeschossene mit ihnen geflogen?

Unmöglich! Er hatte ihn ja stürzen sehen und ohne alles Flattern. Er musste also getroffen sein, er konnte unmöglich leben.

Er suchte nun überall, ging um den Baumstamm mindestens ein Dutzend Mal rund herum und durchforschte den Boden überall in der Nähe des Baumstammes, aber nirgends war ein Truthahn zu finden!

Wäre der unglückliche Jäger über diese gewisse Tatsache, den Vogel wirklich getötet zu haben, nur im Zweifel gewesen, so würde er die Nachsuchung bald als unnütz aufgegeben haben. Aber hierüber war er so gewiss wie über sein eigenes Dasein, und dies machte seine Anstrengungen, den Vogel zu finden, gerade so beharrlich. Er war fest entschlossen, keinen Stock noch Stein nicht untersucht zu lassen. Um ihm hierin beizustehen, rief er laut nach seinem Quashie.

Aber auf all sein wiederholtes Rufen erschien kein Quashie und Herr Smythje musste daraus schließen, dass der Schwarze entweder eingeschlafen oder dass er von der Stelle, wo er ihn gelassen, fortgegangen sei.

Freilich dachte er wohl daran, zurückzugehen, und nach Quashie zu sehen. Während er noch hierüber nachsann, kam ihm plötzlich ein anderer Gedanke, der das geheimnisvolle Verschwinden des Vogels vollständig zu erklären versprach.

Der Baumstamm worauf der Vogel gesessen, konnte eigentlich kaum ein solcher genannt werden, es war vielmehr der Stamm eines großen Baumes, der plötzlich unter den Ästen abgebrochen war, und nun noch ungefähr fünfzehn bis zwanzig Fuß hoch, gerade aufrecht und fest wie der Turm eines verfallenen Schlosses dastand. Obwohl vollständig totes abgestorbenes Holz und ohne alle Zweige, war er dennoch von schönem Grün eingefasst. Eine vollständige Bekleidung von um seine Wurzeln emporwachsenden Weinreben und von aus seinen verwitterten Seiten hervorsprießenden Schmarotzerpflanzen umschloss den ganzen Baumstamm gleichsam mit einem gewundenen Gitterwerk so dicht, dass nur an der Spitze noch der alte Holzstamm zu erkennen war.

Zuerst glaubte der Jäger, dass sein Wild wohl zwischen das knorrige und verwickelte, den Baumstamm umschlingende Buschwerk gefallen sei, aber auch dies hatte er gänzlich mit der größten Sorgfalt durchsucht, und zwar vergeblich. Nun fiel es ihm ein – und das war der bereits erwähnte Gedanke, der ihm vollständige Aufklärung zu versprechen schien – dass der Vogel wohl vielleicht gar nicht von dem Stamme heruntergefallen, sondern tot oben auf der Spitze liegen geblieben sei und dort noch liegen müsse.

Der Durchmesser des abgestorbenen Baumstammes, der an der Spitze oben etwa fünf oder sechs Fuß betrug, machte diese Vermutung wahrscheinlich genug, und Smythje beschloss, sie auf die Probe zu stellen und deshalb auf die Spitze hinauf zu klettern. Jedenfalls hätte er Quashie hierzu verwandt, aber der war nirgends zu finden.

Einige dicke tauartige Weinstöcke, die bis zur Spitze des trockenen Baumstammes hinausgewachsen waren, schienen eine nicht allzu schwierige Art der Ersteigung darzubieten. Obgleich der Cockney wohl kaum so gewandt wie ein gestiefelter Kater klettern konnte, so glaubte er doch, es könne nicht überaus schwierig sein, die Spitze des Baumstammes zu erreichen.

Deshalb setzte er sein Gewehr beiseite und begann den Versuch mit großem Eifer.

Das Kunststück war jedoch nicht so ganz leicht auszuführen. Von dem Wunsch getrieben, sein Wildbret zu erlangen sowie durch die bereits erwähnten Rücksichten auf den noch leeren Korb, wandte er seine äußerste Kraft an und erreichte glücklich die Spitze.

Seine Vermutung erwies sich auch als ganz richtig. Da lag der Vogel, nicht auf dem Stumpf, sondern in demselben, nämlich auf dem Grunde einer breiten zylinderartigen Höhlung, die sich einige Fuß in den trockenen Baumstamm hinunter erstreckte. Da lag der Vogel, tot und abgestorben wie der Baum.

Der Jäger konnte einen lauten Freudenschrei nicht unterdrücken, als er endlich sein ersehntes und viel gesuchtes Wildbret sicher in seiner Reichweite sah.

Freilich war es noch nicht ganz in seinem Bereich, da er, als er niederkniete und seinen Arm so weit wie möglich ausstreckte, fand, dass er den Vogel selbst mit den Fingerspitzen noch nicht erreichen könne.

Doch, das war eigentlich von keiner Bedeutung, denn er musste nur in die Höhlung des Baumstammes steigen, was leicht ausgeführt werden konnte, da sie weit genug und nicht über vier Fuß tief war.

Ohne weiteres Bedenken erhob er sich auf seine Füße und sprang in die Höhlung hinab. Das war jedenfalls einer der unglücklichsten Sprünge, die Herr Smythje je in seinem Leben gemacht hatte. Die braune Oberfläche, worauf der Vogel lag und die so trügerisch fest aussah, war nichts als eine Masse verrotteten faulen Holzes, das vom langen Faulen morsch wie Wachsscheiben war. So schwach war das Holz, dass es, obwohl es den toten Vogel trug, doch unter dem Gewicht des lebenden Mannes sogleich nachgab und dass der Herr von Schloss Montagu so schnell in die tiefe innere Baumhöhle versank und so plötzlich dem äußeren Blick entschwand, als wäre er von der großen Rah der Seenymphe in die tiefsten Tiefen des Atlantischen Meeres hinabgesprungen.