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Das Gespenst von Amalfi – Teil 5

Das-Gespenst-von-AmalfiDas Gespenst von Amalfi
Eine Erzählung von Robert Kohlrausch

Eine gewittrige Spannung legte sich mehr und mehr auf unsere Seelen. Äußerlich ließen wir uns nichts anmerken, sprachen auch vor anderen kein Wort von unserem Plan. Elena, die sich in den letzten Tagen viel verborgen gehalten hatte, ging auf meinen Wunsch ein paarmal im Speisezimmer ein und aus. Von der früheren, anmutigen Elastizität war an diesem Abend wieder etwas in ihrem Wesen, und nur manchmal bat ein verstohlener, warmer, flüchtiger Blick um Schutz für ihren Geliebten.

Als Letzte der Gäste verließen die Amerikanerin und ich die Terrasse neben dem Speisesaal, über der eine dunkle Sternennacht mit ihren ruhigen Lichtern hing. Wetterleuchten fern über der schlummernden See drohte mit Stürmen hinein in den scheinbaren Frieden. Ein leiser, warmer Wind streichelte wie mit beruhigender Hand unsere Stirn.

Als kein lebendes Wesen im Kreuzgang mehr zu sehen war, ließen wir Elena zu Miss Fraser hineinschlüpfen. Umberto, der von mir noch eilig benachrichtigt worden war und von wütendem Eifer brannte, den falschen Mönch zu entlarven, hatte sich auf meinen Rat wieder einmal an unserer Mahlzeit beteiligt, sich aber gleich hinterher zum Schein von uns verabschiedet und in Elenas Gemach verborgen. Ich selbst nahm den in der Nähe befindlichen Hilfeposten ein.

Ich musste dort in dem einsamen, unbeleuchteten Zimmer eine halbe Stunde noch wartend verbringen. Selten ist mir eine halbe Stunde so lang erschienen. Die Dunkelheit, in der ich mit meinen vom Licht noch geblendeten Augen anfangs keinen Gegenstand unterschied, belebte sich nach und nach durch die matte, vom Fenster herkommende Helle. Doch nahmen die bei Tage so nüchternen Möbelstücke des Gemachs in dieser Beleuchtung unheimlich verzerrte, dunkle Gestalten an. Ein kleiner Spiegel zeigte mir mein Gesicht in so verschwommener, unwirklicher Form, als ob ich, der hier auf das Erscheinen eines Geistes wartete, selbst schon in das Reich der Geister gehörte.

Langsam, ganz langsam rannen die Minuten vorbei. Zuweilen klang noch ein Schritt im Kreuzgang draußen, ein paar Türen wurden geschlossen, dann kam die tiefe Stille stummer Nacht. Ich konnte nicht zur Uhr sehen und meinte schon, dass Mitternacht längst vorüber sein müsse, dachte dabei bereits daran, mein anscheinend zweckloses Warten aufzugeben, als ich plötzlich aus meinem peinigenden, tatlosen Zustand herausgerissen wurde. Vom Kreuzgang her tönte der Klang einer heftig aufgerissenen Tür zu mir herein, eine laute, leidenschaftliche Männerstimme zerriss den Frieden der Nacht.

Ich stürzte hinaus in die Halle vor meinem Versteck, vernahm Umbertos Schrei »Du Schurke! Betrüger!« und sah die weiße Mönchsgestalt vor ihm her durch den Kreuzgang fliehen, gerade mir entgegen. Als der Flüchtende mich vor sich erblickte, fuhr er zurück und sprang zur Seite, durch eine der Öffnungen in der Steinbrüstung in den Innenhof hinein. Seine weiße Gestalt schien mit geisterhafter Schnelle durch die Dämmerung dort unter dem Gesträuch dahinzuschweben. Von den Rosenbäumen, die sein Gewand im rasenden Laufe streifte, fiel ein Regen von Blütenblättern herab.

Umberto war nahe hinter ihm, ich folgte den beiden laufend in kleinem Abstand. So ging es auf schmalem, grünumwehrtem Weg quer durch den Innenhof bis dahin, wo das rötliche Brunnenrund mit seinen beiden Säulen sich erhob. Der Weg endete dort, auf beiden Seiten des Brunnens drängte dichtes, dorniges Rosengesträuch sich eng heran.

Umberto schrie frohlockend: »Jetzt hab’ ich dich, Schurke!«, während er die Hand erhob, den Verfolgten zu packen. Mit schlangenhafter Geschwindigkeit und Gewandtheit aber entschlüpfte der weiße Mönch seinem Griff und schwang sich, eine der Säulen erfassend, auf den Brunnenrand hinauf, um, das Rund umlaufend, in den gegenüberliegenden Arm vom Kreuzgang zu flüchten, der hinter dem Brunnen ganz nahe dahin lief.

Umbertos Rufen aber musste gehört worden sein. In diesem Augenblick öffnete sich die benachbarte Tür vom Zimmer der Amerikanerin und sie selbst mit Elena kam eilig in die Helle des Ganges hervor. Und nun erfolgte die Katastrophe des Dramas mit ungeheurerer Schnelligkeit. Elena stieß beim Anblick des vermeintlichen Gespenstes einen lauten Schrei aus, die weiße, dort auf der Brunnenbrüstung schwebende Gestalt fuhr beim Ton ihrer Stimme zusammen, taumelte, griff mit ausgestreckten Händen in die Luft, verwickelte sich mit einem Fuß in das lange, weite Mönchsgewand und stürzte mit einem dumpfen Laut rückwärts hinunter in die dunkle Tiefe.

Eine Sekunde lang standen wir wie gelähmt und erstarrt. Ich sah nur ganz undeutlich Signore Domenico, die alte Margherita und ein paar von den Gästen durch den Kreuzgang laufen und hörte Fragen und Rufe von ihnen, die mir aus weiter Ferne zu klingen schienen.

Umberto war der Erste, der Tatkraft und Entschlossenheit wiederfand und mit lautem Ruf auch in uns anderen weckte: »Stricke, Leitern! Wir müssen sehen, ob er noch lebt. Es ist ein Mensch, kein Gespenst.«

Ein hastiges, geschäftiges Hin und Her begann auf seine Worte, doch verging immer noch einige Zeit, bis ein paar Leute mit Leitern und Seilen herbeigekommen waren und sich in die Brunnentiefe hinunterließen. Wir standen, warteten und flüsterten ganz leise miteinander. Eine halbe Stunde beinahe verging – für unser Gefühl eine weit längere Zeit, bis endlich der hinabgestürzte Körper an um ihn geschlungenen Stricken langsam wieder emporschwebte, bis er, von Wasser triefend und von Schlamm geschwärzt, in der starren Ruhe des Todes auf den Steinplatten des Kreuzganges im Schein des elektrischen Lichts grauenvoll dalag.

Wir alle standen um den regungslosen Körper her, auf den wir mit erstaunten, erschrockenen Blicken schauten. Denn jetzt enthüllte sich uns das Geheimnis. Eine Perücke war dem Stürzenden vom Kopf herabgeglitten, während ein grauer, besser befestigter Bart noch immer das blasse, beschmutzte Gesicht umgab. Er genügte nicht mehr, es unkenntlich zu machen. Wir sahen und erkannten mit ungeheurem Erstaunen, wer da vor uns am Boden lag, und Elena fasste das Gefühl, das uns alle bewegte, zusammen in den Ausruf: »Er – Gaetano!«

Ja, Gaetano war es, der die Rolle des weißen Mönchs gespielt hatte – Gaetano, der unbewegte, gleichmäßig marionettenhafte, dem niemand von uns Leidenschaft oder Phantasie zugetraut hätte. Gaetano, der von allen Menschen der Letzte gewesen wäre, den wir unter der Maske des Geistes gesucht hätten.

Aber wir sollten nun auch erfahren, was ihn zu seinem abenteuerlichen Unternehmen getrieben hatte. Signore Domenico war neben dem Körper niedergekniet und hatte sein Gewand und Hemd aufgerissen, um zu sehen, ob noch Leben in ihm war. Ich half ihm bei seinen Bemühungen, doch zeigte sich bald: Hier gab es keine Rettung mehr. Dabei kam aber ein kleines Ledertäschchen hervor, das auf der nicht mehr atmenden Brust lag. Als wir es fortnahmen und öffneten, zeigte sich uns eine Photographie darin, auf deren Rückseite, vom Wasser halb schon ausgelöscht, ein paar geschriebene Worte standen: »Mein alles – mein Glück – meine Göttin.« Das Bild trug die Züge von Elena Serra.

Signore Domenico wandte sich, sobald er das erkannte, zornig und erstaunt an seine Nichte. »Dein Bild auf seiner Brust! Was ist zwischen euch beiden gewesen?«

»Nichts, Oheim – nichts! Lieb gehabt hat er mich, das ist alles!«

»Du hast es gewusst?«

»Ja, ja, ja – denn er hat es mir hundertmal gesagt. Es hat angefangen sehr bald, nachdem ich hierher gekommen war. Zuerst hat er es mir nur in kleinen Aufmerksamkeiten und Freundlichkeiten gezeigt, aber dann hat er es mir auch in Worten gesagt. Er war ein so merkwürdiger Mensch, so verschlossen und kühl nach außen hin, und so voll Leidenschaft in seinem Herzen. Mir hat er sie gezeigt, aber …« Sie verstummte, nur ihre Blicke, die Locatelli suchten, sprachen weiter, und wir alle sahen am Leuchten ihrer Augen, wer dem Toten im Weg gestanden hatte.

»Du hättest es mir sagen müssen. Ich hätte den Menschen aus dem Haus gewiesen, wenn er auch mein leiblicher Vetter war.«

»Ach, das war es ja, was er fürchtete. Deshalb hat er mich wieder und wieder gebeten, zu niemandem ein Wort von seiner Liebe zu mir zu reden. Und ich hab’ es versprochen und hab’ es gehalten, weil ich dem armen Menschen ja schon so weh getan hatte. Gezittert aber hab’ ich immer im Stillen vor ihm und vor seiner Eifersucht auf jeden Mann, der in meiner Nähe war. Neulich abends noch – Sie kamen ja dazu, Signore, da hat er den Guazzo aus dem Haus fortgewiesen, weil er mir aufgelauert und versucht hatte, mich zu küssen. Dabei hat er sich aber sehr beherrscht und sich nichts anmerken lassen, wohl, weil er wusste, dass ich ihn sah und hörte. Was er getan hat, er hat es ganz gewiss nur aus Liebe zu mir getan, und ihr dürft ihm nicht böse sein. Meinetwegen ist er gestorben, und ich glaube, dass ich nie wieder froh werden kann.«

»Dafür lass nur mich sorgen, Elena.« Mit einem raschen Schritt war Locatelli neben sie getreten und legte seinen Arm um ihre Schultern. »Du darfst ihm verzeihen, aber du hast keinen Grund, um ihn zu weinen. Er hat unverantwortlich, mörderisch an dir gehandelt. Er hätte mit seinem wahnsinnigen Geisterspuk dir den Verstand rauben können. Er wollte deine Liebe zu mir aus deinem Herzen reißen, vergiss das nicht. Jetzt lass mich für immer dein Beschützer sein – ich hoffe, dass Ihr nichts dagegen habt, Signore Domenico?«

Mit stummer, ausdrucksvoller Bewegung ergriff Elenas Oheim Locatellis Hand, um dann zu sagen: »Zunächst müssen wir für den Toten sorgen. Von anderen Dingen sprechen wir ein andermal. Und ich hoffe, nachdem dieser Geist sich so menschlich enthüllt hat, glaubt niemand mehr an das Gespenst von Amalfi.«

Ende


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