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Das Gespenst von Amalfi – Teil 4

Das-Gespenst-von-AmalfiDas Gespenst von Amalfi
Eine Erzählung von Robert Kohlrausch

Es war ein wunderschöner, schon sommerlicher Frühlingsabend mit unbewegter Luft, stillem Sternenlicht und fernen Mandolinenklängen gewesen, der uns bis tief in die Nacht hinein auf der Terrasse versammelt gehalten hatte. Mein angstvoll-aufgeregter Zustand hatte mich in diesen Tagen die menschliche Gesellschaft mit Eifer suchen lassen, und ich hatte mich mit gezwungener Lebhaftigkeit an Gespräch und Scherz beteiligt, sodass niemand etwas von der Norm Abweichendes an mir hätte bemerken können. Der mir mit Absicht auferlegte Zwang veranlasste vielleicht eine noch stärkere Reaktion der Nerven wie gewöhnlich. Als ich in mein Zimmer trat, packte mich ein Angstgefühl so gewaltig, dass ich allen Ernstes anfing, zu überlegen, ob ich nicht meine schon weit vorgeschrittene Arbeit im Stich lassen und Hals über Kopf abreisen sollte.

Dieser Gedanke beruhigte mich ein wenig. Als ich noch eine Zeit lang in dem kleinen Raum bei weit geöffnetem Fenster auf und ab gegangen war, hatte die Nervenspannung so weit nachgelassen, dass ich mich niederlegen konnte. Der Schlaf hatte mich in den vergangenen Nächten so hartnäckig geflohen, dass ich auch dieses Mal nicht auf ihn hoffte. Doch ich wollte dem durch Wachen und Aufregung übermüdeten Körper wenigstens Ruhe gönnen.

So lag ich denn lange Zeit wieder mit offenen Augen und horchte in die Nacht hinein. Die Welt schien ringsum in tiefem, friedlichem Schlaf zu ruhen. Das besänftigte Meer atmete so leise, dass kein Ton zu mir herauf drang. Die ferne, verliebte Musik war verstummt. Sogar der sonst immer wache Wind war eingeschlafen und streichelte nur im Traum noch das alte Kloster mit leiser Hand. Aber ich fühlte die tiefe Stille nicht als Wohltat, sondern als eine feindliche Reizung der Nerven, und ich empfand mit sich steigernder Angst, wie der Schlaf, der alles andere sanft umfing, auch in dieser Nacht immer weiter vor mir zurückwich. Es half nichts, dass ich mich in Gedanken mit meiner Arbeit beschäftigte, dass ich ein wissenschaftliches Werk hernahm und mich mit Anstrengung darin vertiefte, dass ich endlich das elektrische Licht löschte, um in der halben Dunkelheit – von der Straße schimmerte die gewohnte matte Helle zu mir herauf – doch vielleicht Entspannung der Nerven und Schlaf zu finden. Alles war vergeblich. Keine Ruhe kam über mich, die nächtliche Stille lag auf mir gleich einer schweren, drückenden Last.

Schon war ich im Begriff, das hilfreiche Licht wieder aufzudrehen, als das Furchtbare geschah. Zuerst war es nichts als ein plötzlicher, matter Lichtschein von draußen her, der mich erschreckte. Die Tür von meinem Zimmer ging, wie schon gesagt, auf den großen Vorsaal mit seinem Spiegel hinaus, in dem ich die weiße Mönchsgestalt erblickt hatte. Zur Beleuchtung dieses Vorsaales dienten bei Tag die runden Fenster, die hoch über jeder Zimmertür in der Mauer angebracht waren. Dieses Fenster, das in meinem Raum dem Bett gegenüber war, hatte sich durch einen Lichtschimmer unerwartet erhellt. An sich war das nichts Außergewöhnliches oder gar Übernatürliches. Einer der anderen Gäste konnte spät nach Hause gekommen sein und beim Eintreten die Tür vom Vorsaal zum beleuchteten Flur hin offen gelassen haben. Was mich dabei stutzig machte, war nur die vollkommene, tiefe Ruhe, die draußen herrschte. Kein Fußtritt klang vom Steinboden zu mir herein, kein Türschloss redete mit metallenem Klang. Das große, gewaltige Schweigen der Nacht wurde durch keinen Ton gestört.

Ich lag und schaute mit angespannten Blicken auf die runde Helle dort über der Tür und wartete mit aufgeregter, unbestimmter Empfindung auf ihr Erlöschen. Aber sie blieb unverändert in ihrem stillen Leuchten ein paar Minuten lang. Dann erst geschah, was mir das Blut erstarren ließ. Kein Ton auch in jenem Augenblick, aber ein stummes, gleitendes Heransteigen eines grauen Schattens an der matt beleuchteten Scheibe von unten her. Der Schatten wuchs empor, wurde fester, nahm bestimmte Gestalt an und verwandelte sich in seinem geräuschlosen Aufsteigen in einen menschlichen Kopf. Das ihn umfließende Licht war nur matt, doch es war hell genug, um erkennen zu lassen, was mich mit Grausen erfüllte. Graues Haar und grauer Bart umschlossen ein, wie mir schien, totenblasses Menschenantlitz, eine weiße Mönchskapuze legte sich als Rahmen darum her. Es gab keinen Zweifel für mich: Der weiße Mönch schaute durch das Fenster dort über der Tür zu mir herein.

Ich war wie gelähmt, aber ich fühlte, wie das Bett unter den Schlägen meines Herzens bebte. Ich konnte mich nicht bewegen, konnte nicht schreien. Was mich in jenen schrecklichen Augenblicken vor allem beschäftigte, war die Frage: Wird er zu dir hereinkommen? Ich wusste mit Bestimmtheit, ich hatte die Zimmertür, wie jeden Abend, fest von innen verschlossen, doch ich fragte mich immer wieder: Wird er trotzdem zu dir hereinkommen? Ich bildete mir in krankhafter Spannung ein, ganz ruhig zu sein, und erwartete regungslos die Beantwortung meiner Frage durch das Geschehende, wie der Forscher auf das Ergebnis einer wissenschaftlichen Untersuchung wartet.

Ich weiß nicht, wie lange ich so gelegen habe. Ganz kurz kann es nicht gewesen sein, wenn auch mein gespanntes Gefühl die Zeit vielleicht verdoppelt oder verdreifacht hat. Aber eine geraume Weile blieb sicher der graue, weiß umhüllte Kopf dort hinter der Scheibe, die Blicke so starr auf mein Lager gerichtet, wie die meinen sich auf ihn hefteten. Er bewegte sich nicht, er blieb in unveränderter Stellung, von der Fensterumrahmung mit ihrem Kreis umschlossen gleich einem Bild im Rahmen. Dieses Bild war mit nächtlichen Farben gemalt, es glich einer grauweißen Schattenerscheinung.

Endlich bewegte sich der Kopf aufs Neue, versank so geräuschlos, wie sein Aufsteigen gewesen war. Mein gesteigertes Herzklopfen sagte mir: Jetzt wird er hereinkommen. Die Tür blieb geschlossen, kein irdisches Geräusch erklang, die runde, leere Helle blieb noch einen Augenblick in der Wand, um dann plötzlich zu verlöschen. Mein Auge vermochte die Stelle kaum noch zu sehen, wo sie gewesen war.

Ein paar Minuten vergingen, bis der Starrkrampf, der mich gefesselt gehalten hatte, von mir wich. Überlegung und Vernunft fingen wieder an, dem krankhaft gesteigerten Gefühl zu widersprechen. War es nicht vielleicht ein Mensch, ein verkleideter Betrüger, der hier in der Stille der Nacht sein Unwesen trieb? Ich fragte mich freilich vergeblich, welchen Zweck er dabei verfolgen könnte, weshalb er gerade mir erschien. Aus dieser unbeantworteten Frage wuchs plötzlich riesengroß die grässliche Angst hervor, dass alles nur eine Wahnvorstellung meines Gehirns gewesen sei, der traurige Beweis einer vielleicht hoffnungslosen Erkrankung. Zwei gleich furchtbare Gefühle vermischten sich in mir: Angst vor dem Überirdischen und vor mir selbst, Angst vor fremden, geheimnisvollen Mächten und vor den Zerrbildern einer zerrütteten seelischen Sehkraft.

In diesem doppelten Angstgefühl duldete mich es nicht auf meinem Bett. Ich machte Licht, sprang empor und kleidete mich notdürftig an. Daraufhin nahm ich die Kerze, die mir außer der elektrischen Flamme leuchtete, und ging zur Tür. Von mir selbst verschlossen, öffnete sie sich nicht auf meinen Versuch. Ich drehte daher den Schlüssel im Schloss, um hinaustreten zu können.

Nun geschah wieder etwas Unerwartetes, Überraschendes. Obwohl der Schlüssel sich leicht bewegen ließ wie sonst, gab die Tür nicht nach. Ich wiederholte den Versuch ein paarmal – er blieb ohne Wirkung. Ich war ein Gefangener in meinem eigenen Zimmer!

Jetzt war ich kaum noch imstande, ruhig zu überlegen, wie das möglich war, dass eine von mir verschlossene Tür, deren Schlüssel ich in meinen Händen hielt, sich mir nicht auftat. Im Gefühl dieser einsamen Gefangenschaft in der ehemaligen Klosterzelle kam ein so gewaltiges Verlangen über mich, eines Menschen lebendige Stimme zu hören, dass ich trotz der nächtlichen Stunde jede Rücksicht beiseitesetzte und mit bebender Hand auf den Knopf der elektrischen Glocke drückte.

Der helle Ton klang leise zu mir aus der Ferne her. Ich fühlte mich durch ihn schon entlastet und wartete geduldig eine Weile, dass jemand kam und mich aus meinem Gefängnis befreite. Doch Minuten vergingen, alles blieb draußen still. Ich klingelte noch einmal, wartete wieder und klingelte zum dritten Mal so lange, dass der feine, zitternde Ton sekundenlang ununterbrochen zu mir hereindrang. Ich ertrug es nicht mehr, mit einem Angstgefühl, wie diese Nacht es auf mein Herz gelegt hatte, hier eingesperrt zu sein.

Endlich kam Erlösung. Das runde Fenster über meiner Tür wurde plötzlich wieder hell, und wenn auch ein Gefühl nervösen Erschreckens bei diesem Anblick abermals über mich kam, so war mir doch jeder Wechsel in meiner Lage schon angenehm. Und jetzt erklang ein leises Klopfen an meiner Tür.

Mit bebender Stimme rief ich: »Herein!«

Da geschah wieder etwas höchst Überraschendes: Die Tür, die meinen Versuchen, sie zu öffnen, so hartnäckig widerstanden hatte, tat sich ohne jede Schwierigkeit auf. War auch das nur Einbildung von mir gewesen, dass ich in dieser Zelle zum Gefangenen geworden war? Das Angstgefühl vor mir selbst, vor einer möglichen Störung meines geistigen Gleichgewichtes wuchs abermals mit atemraubender Kraft in mir empor gleich einem zweiten, furchtbarsten Gespenst.

Ganz damit beschäftigt warf ich nur einen halben, zerstreuten Blick auf den Kellner Gaetano, der in flüchtiger Bekleidung vor mir stand. Er trug nichts weiter als Hemd und Hose. Das dichte, braune Haar, das tagsüber immer schön geglättet war, lag in einem verworrenen, wüsten Büschel auf seinem Kopf. Kam es daher, dass mir sein glattes Gesicht plötzlich weit ausdrucksvoller als gewöhnlich erschien?

Die Frage flog mir nur ganz flüchtig durch den Kopf. Was mich fast ausschließlich beschäftigte, war das unheimlich leichte Öffnen meiner Tür. In der Verwirrung darüber tat ich die töricht klingende Frage: »Wie sind Sie hereingekommen?«

Gaetano lächelte sein leichtes, höfliches Lächeln. »Ich verstehe Sie nicht, Signore. Die Tür war ja nicht verschlossen.«

»Nicht verschlossen? Lassen Sie mich einmal sehen.« Ich riss ihm den Türflügel, den er halb offen hielt, aus der Hand. Und ich entdeckte nun etwas daran, was ich bisher niemals beachtet hatte, was mich nun aber eben sosehr mit Erstaunen wie mit Beruhigung erfüllte. Nicht innen, sondern außen an der Tür befand sich ein Riegel, der sie fest verschloss, wenn er vorgeschoben war. Nicht Einbildung also hatte mich gemartert und gequält, sondern von außen musste meine Tür durch irgendjemand versperrt worden sein.

»Die Tür kann unmöglich offen gewesen sein«, rief ich dem Kellner zu. »Sie müssen den Riegel zurückgeschoben haben, bevor Sie hereinkamen. Aber was bedeutet überhaupt solch ein Riegel außen an einer Hoteltür?«

Er lächelte wieder. »Bei uns hier ist manches anders als anderswo. Solche Riegel werden der Signore an den meisten Türen finden, wenn der Signore sich die Mühe geben, darauf zu achten. Früher waren, wie mein Vetter, Signore Domenico, mir gesagt hat, überhaupt nur diese Riegel an den Türen. Die Schlösser sind erst später angebracht worden.«

»Mithilfe dieses Riegels hat man mich also heute hier in meinem eigenen Zimmer eingesperrt. Ich habe ja nur darum geklingelt, weil ich das bemerkte.«

»So, darum?«

»Ja, darum. Es ist kein angenehmes Gefühl, gefangen zu sein. Sie müssen den Riegel unbedingt vorgeschoben gefunden haben.«

»Verzeihen der Signore, wenn ich widerspreche. Die Tür war nicht verschlossen.«

»Dann muss dieselbe Hand sie wieder geöffnet haben, während ich klingelte, die den Riegel vorher vorgeschoben hat. Es gibt für mich keinen Zweifel darüber.«

»Ich widerspreche ja nicht. Haben der Signore weiter keine Befehle?«

»Nein. Und entschuldigen Sie, dass ich Sie geweckt habe. Sie haben sicher schon geschlafen.«

»Ja, sehr fest. Ich bitte darum auch zu verzeihen, wenn ich auf Ihr Klingeln vielleicht nicht gleich zur Stelle gewesen bin. Gute Nacht, Signore.«

»Gute Nacht.«

Ich war wieder allein, aber mit veränderten Gefühl und veränderten Gedanken. Das Angstempfinden war durch Misstrauen abgelöst worden. Die Furcht vor mir selbst war von mir abgefallen durch die natürliche Lösung des einen mich quälenden Rätsels, und ich sagte mir immer bestimmter, dass nun auch das, was noch geheimnisvoll und rätselhaft blieb, sich ebenso natürlich lösen würde.

Dieser Glauben erhielt am nächsten Morgen unerwartet eine Verstärkung. Ich hatte nach den Aufregungen der Nacht weit in den Tag hinein geschlafen und fand beim Frühstück im Speisesaal nur noch Miss Fraser, deren leuchtend frische Gesichtsfarben heute dem Weiß ihres Haares um einen Schein angenähert erschienen.

Ihr Ausdruck war ängstlich und sorgenvoll, und sie sagte nach der Begrüßung leise zu mir: »Etwas muss ich Ihnen erzählen.«

Ich bat sie, sich zu mir zu setzen, während ich meinen Kaffee trank. Sie selbst war schon fertig damit, hatte nur noch auf mich gewartet. Nun berichtete sie mir mit geheimnisvollem Flüstern, was ihr in der Nacht begegnet war. Sie hatte lange noch gelesen und an einem Brief für ihre Schwester geschrieben, sich dann mit gewohnter Ordnungsliebe daran gemacht, ihre tags zuvor geschehenen Ausgaben zu buchen. Dabei war ihr das Fehlen einer Handtasche aufgefallen, in der sie den Geldbeutel aufzubewahren pflegte. Die Tasche konnte nur abends im Speisesaal liegen geblieben sein. Die Amerikanerin machte sich daher trotz der späten Stunde rasch entschlossen auf den Weg, um dort nachzusuchen. Ihr Zimmer lag im Obergeschoss am Kreuzgang. Sie ging durch die stille, matt erleuchtete Halle zum Speisesaal, fand auch auf ihrem Platz gleich die Tasche, die sie mit sich nahm.

Beim Heraustreten aus der Tür nun, die hinter ihr offengeblieben war, geschah das, was ihren heiteren Sinn so stark erschüttert hatte. Geradeaus von der Tür zum Speisesaal, am Ende von der einen langen, gewölbten Halle des Kreuzgangs, wo die Treppe von unten mündete, war der weiße Mönch, der mir zweimal erschienen war, auch vor ihren Augen vorübergeglitten. Eine halbe Sekunde nur hatte sie die matt beleuchtete Gestalt gesehen, dann war sie verschwunden gewesen. Miss Fraser versicherte mir mit eifrigem Flüstern: »Ich habe ihr gesehen, wie ich Sie hier jetzt vor mir sehe. Ganz genau so. Getäuscht kann ich mir nicht haben. Dir Mönch ist unterwegs hier im Kloster.«

Ich setzte die Amerikanerin einigermaßen in Erstaunen, indem ich sagte: »Sie machen mich sehr glücklich durch Ihren Bericht.«

»Glücklich – auf welche Weise?«

»Weil der weiße Mönch mir auch schon zweimal erschienen ist, und weil ich fürchtete, dass kranke Nerven mir seine Gestalt vorgetäuscht hätten. Jetzt bin ich im Klaren, seit ich eine Zeugin für das habe, was ich selber sah. Sie werden an wirkliche Geister so wenig glauben wie ich. Und nun wollen wir zusammen herauszubringen suchen, was hier im Haus nicht in Ordnung ist.«

»Da haben Sie getroffen das Nagel auf den Kopf. Es ist nicht in Ordnung hier in das Haus. Ich kenne nicht wieder die kleine Elena, wo nur immer hat gesungen und gelacht. Gestern Abend …« Sie beugte sich noch ein wenig näher zu mir herüber und flüsterte noch etwas leiser. »… bin ich gegangen in die Kirche hier beim Haus. Es war schon vorüber an sechs, und um sechs Uhr wird immer die Kirche geschlossen. Von hier aus aber es gibt ein Gang und eine zweite Tür, und ich bin gegangen oft um diese Zeit, weil ich so gerne in Kirchen bin in die Dämmerung. Und so ich bin gegangen auch gestern. Und ich bin erschrocken, weil ich sonst immer dort bin gewesen allein, aber weil ich nicht bin gewesen allein gestern Abend. Ich zuerst nicht habe gesehen, nur gehört. Es hat geweint in der Kirche. Darum bin ich gegangen hin, wo es hat geweint. Und ich habe gefunden unsere kleine Lazerte ganz über geschwemmt in Tränen. Auf die Stufen von das Altar hat sie gelegen und ist gewesen sehr erschrocken, wie sie gehört hat meine Stimme. Was ihr denn fehlt, ich habe gefragt, aber sie hat immer nur gerufen: ›Ich möchte sterben – ich möchte sterben!‹, und hat mir nicht gesagt, warum sie das will tun. Und ich muss glauben, wenn ein junges Mädchen will sterben, ist es immer unglücklich verliebt. Aber gegen wen sie verliebt ist, ich nicht habe bringen können heraus.«

»Das kann ich Ihnen sagen. Sie liebt unseren hübschen, braven Umberto Locatelli, doch keineswegs unglücklich. Er liebt sie genau so wie sie ihn, und wenn gegenwärtig etwas zwischen den beiden nicht in Ordnung ist, dann kommt es nicht aus ihnen selbst, sondern von außen her. Und wenn ich mir das, was wir beide gesehen haben, zusammenhalte mit ihrem veränderten Wesen, dann muss ich sagen …«

»Das das weiße Mönch ist schuld an ihre Verwandlung«, fiel die Amerikanerin mir lebhaft ins Wort.

Ich konnte nur erwidern: »Sie sagen damit, was ich selber denke. Und ich verstehe nun auch, warum Locatelli mich bat, ich sollte meine Augen offen halten hier im Haus …«

»Das hat er gesagt? Oh, das ist gut. Und ich bitte Sie, lassen Sie mich helfen bei das Offenhalten von die Augen.«

Ein Schutzbündnis für die beiden Liebenden wurde so zwischen uns geschlossen, und im Bewusstsein geschenkter Klarheit und übernommener Pflicht gewann ich selbst ein tagelang vermisstes Gefühl beruhigten, genussfähigen Daseins mir zurück.

Aber die mühsam eroberte Ruhe wurde noch am selben Tage wieder schweren Erschütterungen ausgesetzt. Bis gegen Abend ereignete sich nichts Außergewöhnliches. Elena zeigte sich nur flüchtig, ihre verweinten Augen bestätigten den Bericht der Amerikanerin. Ich machte wiederholte Versuche, sie zu stellen und auszufragen, doch mit ihrer eidechsenartigen Geschwindigkeit wich sie mir immer wieder aus.

Es war ein trüber, mit Frühlingsregen drohender Tag, und schon zeitig schlich sich die Dämmerung in die Hallen und Gänge des alten Klosters. Ich hatte mir vorgenommen, etwas nach sechs Uhr, wenn die kleine Kirche geschlossen war, dort nachzuschauen, ob ich Elena nicht weinend und betend wieder auf den Stufen des Altars fände. Dort in der kirchlichen Einsamkeit und Stille würde sie mir – so sprach meine Hoffnung – vielleicht Rede stehen. Und ein Viertel nach sechs Uhr stieg ich daher von meinem Zimmer zum Kreuzgang hinan und öffnete die mir wohlbekannte Tür, die den schmalen Seitengang zur Kirche hinüber verschloss.

Ich hatte jedoch kaum ein paar Schritte in seine Dämmerung hineingetan, als ich erschrocken zusammenfuhr. Von der Kirche her war ein lauter Schrei zu mir gedrungen, ein Schrei, der mir genau so klang wie jener erste, der nachts in mein Schlafzimmer gedrungen war, und mit seinem Ton, der so voll war von Schrecken und Angst, all die Unruhe der letzten Tage gleich einem drohenden Vorspiel eingeleitet hatte.

Nur einen Augenblick hielt mich Bestürzung an die Stelle gebannt. Ich eilte der Kirchentür zu. Doch bevor ich sie noch erreichte, wurde sie schon von innen aufgerissen, und Elena stürzte mir entgegen.

Sobald sie mich erkannte, klammerte sie sich mit beiden Händen hilfesuchend an mich an, sank vor mir auf die Knie und schrie zu mir empor: »Helfen Sie mir, Signore, helfen Sie mir! Ich sterbe sonst vor Angst.«

Ich hob sie vom Boden empor, hielt sie stützend aufrecht und sagte: »Kommen Sie, Elena, begleiten Sie mich zu Miss Fraser. Dort wollen wir weiter sprechen.«

Sie blickte noch einmal angstvoll zur Kirchentür zurück und flüsterte: »Ja, kommen Sie fort von hier. Und bitte, bitte, lassen Sie mich nicht allein.«

Wir gingen schnell durch den Kreuzgang zum Zimmer der Amerikanerin, ohne dass wir jemandem begegneten.

Meine alte Freundin begrüßte die zitternde Kleine mit beruhigend-freundlichem Wort und schloss die Tür hinter uns, damit wir in Ruhe hören und reden konnten.

In dem stillen Hafen dieses von Damenhand behaglich gemachten Raumes kam anfangs tränenreiche Schwäche noch einmal über Elena. Wir ließen sie ruhig weinen, bis der Krampf der Angst vorüber war. Dann setzte Miss Fraser sich neben sie, fasste sanft ihre Hand und sagte: »Sie sind ganz in der Sicherheit hier, und wir wollen so gern Ihnen helfen. Aber vor allein, Sie müssen uns jetzt sagen, was Ihnen fehlt. Sie müssen, müssen es uns sagen.«

Elena hob ein wenig ihr Gesicht. »Ich will es tun.

Ich muss es tun. Ich weiß keinen Ausweg mehr, und ich sterbe vor Angst. Aber Sie werden mir vielleicht nicht glauben, wenn ich Ihnen sage …«

Sie brach ab, rang nach Atem.

Ich kam ihr mit klärendem Wort zu Hilfe. »Nicht wahr, Sie haben den weißen Mönch gesehen?«

»Oh, woher wissen Sie …«

»Wir wissen, was wir selbst gesehen haben, Miss Fraser und ich. Der Mönch ist uns wie Ihnen erschienen.«

»Wirklich? Wirklich? Was hat er zu Ihnen gesagt?«

Ein rascher Blick flog zwischen Miss Fraser und mir hin und her. Hier war etwas Neues: Das an uns nur stumm vorübergeschwebte Gespenst hatte dort gesprochen.

»Erzählen Sie zunächst, was er mit Ihnen geredet hat. Denn das ist vermutlich entscheidend für das, was wir tun müssen.«

»Oh, es war so furchtbar!«, schrie das Mädchen auf.

»Es ist eine Woche her, da kam er zuerst. Ich war in meinem Zimmer am Abend. Plötzlich öffnete sich die Tür, und in ihr sah ich den Mönch. Ich hab’ ihn gleich erkannt mit seinem grauen Haar und Bart. Er glich Zug um Zug meinem Großohm. Das Bild von ihm auf dem Tisch in meinem Zimmer stand lebendig vor mir.«

»So, Sie haben dort ein Bild von dem Verstorbenen? Stand es offen da, konnte jeder es sehen, der in Ihr Zimmer kam?«

»Ja, ja, gewiss. Er hat es mir geschenkt, als ich gefirmt wurde. Gefürchtet hab’ ich mich immer ein wenig davor, weil der Großohm ein so strenger Mann war, aber zum Andenken an ihn hab’ ich es doch bewahrt und aufgestellt. Und neben seinem Bild – ja, daneben hat ein anderes gestanden.«

Sie senkte den Kopf in so reizender Verwirrung, dass es mich abermals trieb, ihr zu helfen. »Das Bild von Umberto Locatelli – nicht wahr?«

»Oh, Sie wissen das auch?«

»Ich weiß, dass ihr euch lieb habt, und ich hoffe sehr, dass ihr noch recht glücklich miteinander werdet.«

Sie machte traurig abwehrend eine diesen schönen Traum weit von sich weisende Bewegung. »O nein, das werden wir niemals. Er hat es ja verboten.«

Wieder ein Blick des Verständnisses von Miss Fraser zu mir. »Oh, das hat er also gesprochen.«

»Ja – das heißt, gesprochen hat er das erste Mal nicht gleich, als er plötzlich in meinem Zimmer gestanden hat. Ich bin ganz gelähmt gewesen vor Schrecken bei seinem Anblick. Und er hat seine Hand aufgehoben und auf das Bild von Umberto gezeigt und einen Finger hin und her bewegt zur Verneinung. Ich habe gleich gewusst, ich soll Umberto nicht mehr lieben. Vom Grab her ist mein Oheim gekommen, weil er mich vor dieser Sünde bewahren wollte. Dafür muss ich ihm ja dankbar sein, aber es ist so furchtbar, furchtbar traurig, dass ich Umberto …«

Tränen erstickten wieder ihre Stimme. Sie schluchzte laut auf und presste die Hände vor das Gesicht, während ihr Oberkörper sich in verzweifeltem Schmerz hin und her bewegte. Durch ihre Worte war meine Hoffnung, sie von diesem Schmerz befreien zu können, aber mächtig erstarkt. Ich kannte nun den Zweck der geheimnisvollen Erscheinung, und aus diesem Wissen wuchsen die Zweifel an irgendetwas Übernatürlichem sieghaft empor.

»Also gesprochen hat er das erste Mal nichts.«

»Nein, kein Wort. Vielleicht hat er sprechen wollen, aber als er mir nur einen Schritt näher kam, da bin ich so furchtbar erschrocken, dass ich vor Angst laut aufgeschrien habe. Darauf hat er sich langsam umgewandt und ist hinausgegangen. Ich habe die ganze Nacht geweint und alle folgenden Tage und Nächte. Ich wusste gleich, dass ich nach dem Willen der Madonna von meinem Umberto lassen sollte. Heute hat er es mir auch noch deutlich gesagt.«

»Erst heute? Hat er sich in der Zwischenzeit nicht sehen lassen?«

»Gesehen hab’ ich den Großohm bis heute nicht wieder. Nur seine Stimme hab’ ich gehört. Es war tief in der Nacht – ich hatte mich eingeschlossen, obwohl ich ja weiß, dass Geister auch durch verschlossene Türen kommen, und lag noch wach und weinte. Da hat es an meine Tür geklopft, und eine tiefe, heisere Stimme hat gerufen: ›Elena, mach’ auf!‹ Ich wusste gleich, wer es war. Die Stimme klang, als wenn sie tief aus dem Grab käme. Trotz meiner Todesangst hab’ ich auch gewusst, ich musste gehorchen. Ich bin aufgestanden und habe nach meinen Kleidern gegriffen. Ich bin ungeschickt gewesen, weil mir die Hände so zitterten, und es hat einige Zeit gedauert, bis ich fertig war. Und ich habe seine furchtbare Stimme noch einmal gehört. Sie hat mir wieder zugerufen: ›Mach auf!‹ In dem Augenblick aber, als ich öffnen wollte, kam etwas anderes. Ich hörte draußen ein lautes, heftiges Läuten von der elektrischen Glocke. Da war ich froh, dass noch jemand wach war, der mir vielleicht helfen konnte. Das gab mir Mut, und ich öffnete die Tür. Aber nichts, gar nichts war draußen zu sehen.«

»Und heute?«

»Heute – das war am schrecklichsten von allem.«

»Wo war es?«

»In der Kirche. Zu der Muttergottes hab’ ich mich geflüchtet und habe jeden Tag eine Stunde lang vor dem Altar auf den Stufen gelegen – in der Dämmerung, wenn die Kirche schon geschlossen und ich dort ganz allein war, und habe zu der Madonna geschrien und sie gebeten: ›Hilf mir, gnadenreiche Mutter, ich kann ohne meinen Umberto nicht leben!‹ So war es auch heute. Nur dunkler war es als gewöhnlich, und ich konnte das Antlitz der Madonna über dem Altar kaum noch erkennen. Und wie ich so hinaufschaue, ob ich in ihrem Gesicht nicht ein Zeichen der Gnade finde für mein armes Herz, da hebt sich plötzlich hinter dem Altar etwas empor, als wenn es langsam aus dem Boden hervorkäme. So stieg die weiße Mönchsgestalt vor mir auf.«

Vom erneuten Gefühl der Todesangst überwältigt, verstummte sie für einen Augenblick. Dann aber trieb das gleiche Gefühl sie wieder zum Reden.

»Er sprach leise, ganz freundlich: ›Fürchte dich nicht, Elena, die allerheiligste Madonna schickt mich dir zu deinem Wohl. Durch meinen Mund befiehlt sie dir, von deiner Liebe zu diesem Umberto Locatelli zu lassen, der ihrer nicht würdig ist. Anderes hat für dich die Gottesmutter beschlossen, ein anderes, größeres Glück ist für dich aufbewahrt. Aber ich darf an diesem heiligen Ort von solchen weltlichen Dingen nicht weiter sprechen. Lass heute Nacht an deiner Tür den Riegel offen. Dann will ich zu dir kommen, wenn es Mitternacht schlägt, und will dir genau sagen, was du zu tun hast. Lebe wohl bis dahin, meine Tochter Elena.‹ Das hat er gesagt, und ich vergesse keines von seinen furchtbaren Worten bis an meinen Tod. Aber dann ist er langsam hervorgekommen hinter dem Altar, dass ich seine ganze Gestalt habe sehen können, und es war mir, als wenn er auf mich zu geschwebt käme. Da hab’ ich wieder laut ausgeschrien und bin hinausgestürzt aus der Kirche. Nun aber weiß ich, dass er heute Nacht in mein Zimmer kommen wird, und ich weiß, dass ich das nicht ertragen kann. Ich hätte sonst auch heute noch nichts gesagt, aber das kann ich nicht ertragen, ich vergehe vor Angst. Helfen Sie mir, Signore, bleiben Sie bei mir, Miss Fraser, um der Madonna willen!«

Das also war’s. Der Zweck, Elena von ihrem Umberto zu trennen, war bei dieser gespenstischen Erscheinung so deutlich, dass ihr höchst irdischer Ursprung nicht mehr bezweifelt werden konnte. Nur fehlte noch jeder Anhaltspunkt, wer sich unter dem weißen Mönchsgewand verbarg. Ich dachte zuerst an Guazzo. Vielleicht hatte der den abenteuerlichen Plan ersonnen. Aber wer es auch sein mochte, der Zorn packte mich an über diesen gemeinen Störer jungen Glückes und reiner Liebe. Dies Gefühl trieb mich zu heftigem Wort.

»Schändlich hat man Ihnen mitgespielt, liebes Kind. Ein lebendiger Schurke steckt unter der Maske des toten Mönches. Wir aber wollen ein deutliches, kräftiges Wort mit ihm reden und ihm diesen Geisterspuk für immer verleiden.«

Elena, deren Glaube an das übernatürliche Wesen der Erscheinung so leicht nicht auszurotten war, widersprach, weinte, bat, ihr Schicksal durch Auflehnen gegen den Willen der Madonna nicht noch zu verschlimmern. Die Amerikanerin mischte sich lebhaft ein und machte Vorschläge, denen ich meinerseits nicht beistimmen konnte. So gab es für einige Zeit ein erregtes Hin und Her, endlich doch fand ich die Zustimmung für einen von mir entworfenen Plan. Elena sollte sich abends heimlich in das Zimmer von Miss Fraser begeben, in ihrem eigenen, erleuchtet bleibenden Zimmer aber sollte sich Locatelli verbergen, um den Geist bei seinem Erscheinen verdientermaßen zu empfangen. Ich selbst wollte mich, für den Notfall mit einem Revolver bewaffnet, in einem nahen, zurzeit unbesetzten Gastraum aufhalten, um erforderlichenfalls Hilfe leisten zu können.

Elenas Angst für sich selbst war beim Besprechen dieses Planes in Sorge für den Geliebten umgeschlagen, und ihr letztes, bittendes Wort klang mir noch lange nach im Ohr.

»Beschützen Sie nur meinen Umberto. Wenn ihm meinetwegen Böses geschähe, ich würde nie wieder froh.«