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Mit den Konquistadoren ins Goldland Teil 9

Gustav Dittmar
Mit den Konquistadoren ins Goldland
Eine Erzählung aus der Zeit der Welserzüge
Teil 9

Einen Augenblick später nahm ihn der schützende Wald auf. Hans atmete tief. Gott sei Dank, es war geglückt, der Durchbruch durch den Ring der Belagerer gelungen! Hans saß ab und untersuchte, ob Lutz bei dem Sturz eine Verletzung davongetragen hatte. Er konnte aber außer einer leichten Hautabschürfung am rechten Knie, die nur wenig blutete, nichts weiter entdecken. Doch die Flanken des braven Pferdes flogen. Hans beschloss, längere Zeit Schritt zu reiten. Jetzt kam alles darauf an, dass Ross und Reiter einen achtundvierzigstündigen, so gut wie ununterbrochenen Ritt durchhielten. Der Gedanke, dass er erschöpft am Wege liegen bleiben könne, trieb Hans den kalten Schweiß auf die Stirn.
»Es muss gehen, um der Kameraden und um meinetwillen«, murmelte er vor sich hin. Er versuchte, sich nach den Sternen, die da und dort durch das Blätterdach schimmerten, zu orientieren. Immer hatte er sich etwas zugut getan auf seinen Ortssinn. Doch jetzt würgte ihn die Angst, dass er sich in Nacht und Dunkelheit verreiten könne. Mit gespannter Aufmerksamkeit starrte er in die Dunkelheit. Noch am Vortag hatte er mit den Kameraden den gleichen Wald durchritten. Da war ihm der Weg nicht weit erschienen, aber nun wollte er kein Ende nehmen. Gespenstig ragten die Stämme und Äste in die Dunkelheit. Auch den Kühnsten konnte eine leise Bangigkeit ankommen, so mutterseelenallein zur Nacht im indianischen Wald.
Tapfer kämpfte der Einsame solche Anwandlungen nieder. Längst hatte er es aufgegeben, den Hengst zu lenken. Er überließ sich dem Instinkt des Tieres, das leise schnaubend seinen Weg suchte. Hans beugte sich auf den Hals des Pferdes. »Lutz«, flüsterte er, »halt aus, Lutz!« Einmal stutzte das Pferd. Hans strengte seine Augen an, um die Dunkelheit zu durchdringen, konnte aber nichts erkennen als etwa in Mannshöhe einen dicken Ast. Plötzlich aber überlief ihn Grauen und Ekel, als sich das, was er für einen Ast gehalten hatte, langsam fortbewegte. Es war eine jener riesigen Baumschlangen, die Hans schon häufig auf seiner Fahrt ins indianische Land begegnet waren, ohne dass sie im hellen Tageslicht einen besonderen Eindruck auf ihn gemacht hätten.
Endlich war der Wald durchritten. An einem seltsam geformten Bergkegel, den die Kameraden auf ihrem allzu sorglosen Ritt zur Linken gehabt hatten und den Hans jetzt zur Rechten lassen musste, konnte er sich im Gelände zurechtfinden. Allmählich begann es zu dämmern.
Reiten, reiten, reiten! Wo immer es ging, fiel Hans sin einen ruhigen Reisetrab.
Dazwischen lagen viele Strecken, wo Lutz seinen Weg schrittweise suchen oder Hans das Pferd am Zügel führen musste.
»Schont Euer Pferd!« Auch in seinem verzweifelten Drang, vorwärtszukommen, vergaß Hans die Mahnung des getreuen Kressel nicht. Um die Zeit der größten Mittagshitze gönnte er dem Pferd und sich eine Stunde Rast. Er aß ein paar Bissen Cassavebrot, Lutz ließ er ein wenig grasen.
»Nun habe ich schon die Hälfte«, sagte er sich. Aber belog er sich nicht selbst?
Reiten, reiten! Es kommt der Nachmittag und der Abend, dann die zweite Nacht. Ross und Reiter sind todmüde, aber Hans hielt die Zügel kurz und die Augen offen. Einen Augenblick blieb ihm vor Schreck fast das Herz stehen. Ihm war, als lahme sein Pferd, aber Gott sei Dank, es war nur eine Täuschung .Immerhin saß er ab und führte das Tier eine ganze Weile. Mühsam stolperte er vorwärts, das Pferd hinter sich am Zügel. Bei Tagesgrauen fand er den Platz, wo sie nach dem Aufbruch aus dem Lager zum ersten Mal gerastet hatten. Ein Aschehaufen bezeichnete die Feuerstelle, um die sie sich am Abend essend, plaudernd und rauchend gelagert hatten. Wie
mochte es den Kameraden in der Schlucht zumute sein, belagert von blutgierigen Indianerscharen? Waren sie noch am Leben? Rechneten sie noch auf ihn, seine Willenskraft und Treue? Hans überlegte, dass sie bis zum ersten Rastplatz acht Stunden gebraucht hatten. Mit seinem müden Pferd konnte er den Weg nicht in kürzerer Zeit zurücklegen. Also konnte er frühestens am Nachmittag im Lager eintreffen. Ein, zwei Stunden später konnte eine Reiterschar aufbrechen, stark genug, um die Belagerten zu befreien. Reiten, reiten!
Gegen Nachmittag war Hans am Ende seiner Kraft. Im Sattel nickte er sekundenlang ein. Die müden Sinne gaukelten ihm Bilder vor von der Sturmnacht auf dem Meer, von der Meuterei in Coro und der Verfolgung des jungen Indianers, vom Elternhaus in Konstanz am See. Ein paar salzige Tropfen rollten ihm über die Wangen. Waren das Tränen? Er wischte sie nicht ab. Er betete die Litanei. Mühsam formten seine trockenen, verdursteten Lippen die Worte. Doch dann reckte er sich mit letzter Kraft im Sattel auf. »Herrgott, erbarm dich meiner!«, schrie er in die brütende Mittagstille. Höhnisch hallte von den Felsen das Echo wider.
Doch was war das? Rief da nicht jemand?
»Hallo!«, schrie Hans, dass ihm am mageren Hals die Adern schwellten. Und wieder antwortete aus weiter Ferne ein Ruf. Das war kein Indianerschrei. Ein Jodler war es, wie ihn die Allgäuer Hirten auszustoßen pflegen, wenn sie das Vieh auf die Alm treiben.
Hans verspürte einen Schwindel. Nur nicht noch schwach werden! Am Horizont tauchten drei Reiter auf. Sie ritten Hans entgegen. Noch hatten sie ihn nicht bemerkt, aber die Entfernung zwischen ihm und den Reitern wurde kleiner. Dann sahen sie ihn und hielten auf ihn zu. Hans erkannte den Vordersten: Philipp von Hutten.
Im Nu waren die Reiter bei ihm.
»Helft, helft!«, rief Hans. »Fabricius, Kressel! Dort … dort …« Er wies in die Richtung, aus der er gekommen war, dann stank er ohnmächtig vom Pferd.
Am vierten Tag nach Hans’ Ausritt aus der Schlucht – die Spanier nannten sie später Valle del muerte, Todesschlucht – war die Lage der Eingeschlossenen verzweifelt. Immer wieder stürmten die Indianer mit ungeheurer Tapferkeit gegen die Verhaue an. Jedes Mal wurde der Angriff abgeschlagen. Die Gefallenen lagen vor den Verhauen, vom Feuer, das die weißen Männer schleuderten, wie vom Blitz der Götter getroffen, den nie fehlgehenden Pfeil eines Armbrustschützen in der Brust. Die rot und schwarz bemalten Gesichter der anstürmenden Wilden waren wutverzerrt. Grässlich war ihr markerschütterndes Geschrei. Jedes Mal, wenn der Feuerstrahl in den dicht gedrängten Sturmhaufen fuhr, gab es ein tolles Durcheinander. Die einen drängen in Angst und Schrecken zurück, die anderen trieben umso wilder vorwärts. Unter den vordersten Angreifern bemerkten die Weißen immer wieder einen fast zierlichen Indianer, der trotz seiner Jugend den Rang eines Anführers oder Häuptlings zu bekleiden schien. Darauf deuteten die besonders prächtige Federkrone auf seinem Kopf und der grüne Stein, den er in der Unterlippe trug, anscheinend ein Smaragd von ungewöhnlicher Größe. Zweimal hatte Fabricius die Armbrust auf den Indianer angelegt, zweimal verfehlte der unersetzliche Pfeil sein Ziel. Fabricius knirschte vor Zorn. Wahrhaftig, man konnte glauben, der Teufel habe seine Hand im Spiel!
Am Morgen des vierten Tages ließen die Angriffe der Indianer plötzlich nach. Die Belagerten hofften schon, dass die Indios unverrichteter Dinge abziehen würden. Doch als ein Spanier vorsichtig über das Verhau spähte, flogen ihm sofort ein paar Pfeile um den Kopf. Aufmerksamer denn je beobachteten die Indianer den Schluchtausgang. Nur schienen sie sich nun auf das Aushungern der Festung verlegen zu wollen. Eine furchtbare Gefahr! Die mitgenommenen Vorräte waren längst verzehrt, die trockene Schlucht bot den Verschmachtenden keinen Tropfen Wasser. Schweren Herzens entschloss sich Fabricius, das Pferd des erschossenen Spaniers schlachten zu lassen. Das Fleisch, roh heruntergeschlungen, schmeckte fade und widerlich, und das Blut stillte nicht den Durst. Der in der Hitze rasch verwesende Kadaver des Pferdes und die Leichen der gefallenen Indianer erfüllten die Luft mit einem abscheulichen süßlichen Geruch.
Noch schlimmer war der sich allmählich bemerkbar machende Munitionsmangel. Schon hatten die Büchsenschützen ihr letztes Pulver verschossen. Was noch übrigblieb, war eine kleine Zahl von Pfeilen für die Armbrüste. Kam nicht bald Entsatz, so war das Häuflein dem sicheren Untergang geweiht. Sie wussten es alle. In den Pausen zwischen den Angriffen der Indianer brüteten sie dumpf vor sich hin. Zum hundertsten Mal rechnete Kressel die Zeit nach, die Hans bis zum Lager brauchte und Hohermut bis zur Todesschlucht. Am Sonntag war Hans Hauser fortgeritten. Es war bereits Freitag um die Mittagsstunde, und nirgends zeigte sich Hilfe.
Finster wandte sich Fabricius an Kressel. »Wir hätten den Durchbruch wagen
müssen. Warum widersetzt Ihr Euch, Kressel? Euer Rat war nicht tapfer und nicht einmal klug.«
In Kressels Gesicht zuckte es. »Ich sagte es Euch schon einmal, dass Ihr hier zu befehlen habt, Fabricius, und nicht ich. Ich habe Euch die Gründe nicht verschwiegen, die gegen den Versuch des Durchbruchs sprachen. Und schließlich: Hans Hauser wird Hilfe bringen.«
Fabricius zuckte mit den Achseln. »Wisst Ihr denn überhaupt, ob Hauser durchgekommen ist?«
»Hans Hauser wird uns Hilfe bringen«, wiederholte Kressel.
Gegen Abend rüsteten die Indianer zum entscheidenden Angriff. Sie zündeten ein mächtiges Feuer an. Die Belagerten zweifelten nicht daran, dass die Indianer versuchen würden, den Verhau in Brand zu stecken und sie wie Füchse auszuräuchern. Sicher würde das trockene Dorngebüsch wie Stroh brennen. Sie waren, geschah nicht ein Wunder, verloren. Keiner sprach es aus, aber jeder war entschlossen, his zum letzten Atemzug zu kämpfen. Nur nicht lebend in die Hände dieser Bestien fallen!
Fabricius ließ die letzten Pfeile gleichmäßig verteilen. So erwarteten die sechs weißen Männer den letzten Kampf. Feuerbrände schwingend näherten sich die Indianer. Dieses Mal waren die Donnerrohre stumm. Die vordersten Angreifer schleuderten die Feuerbrände in den Verhau. Flammen züngeln knisternd empor. Im beizenden Rauch standen die Weißen. Einem Indianer, der durch Rauch und Flammen einbrach, stieß Kressel den Dolch in die Kehle. Ruhig zielten die Armbrustschützen. Kein Pfeil verfehlte sein Ziel.
Ein Deutscher brach aufstöhnend zusammen. »Ade, Kameraden!« waren seine letzten Worte.
Fabricius’ Gesicht war maskenhaft starr. Mit einer Ruhe, die fast nicht mehr menschlich war, legte er Pfeil um Pfeil auf die Armbrust, zielte, drückte ab. Nur noch eine kleine Weile, und er würde den letzten Pfeil auflegen, den allerletzten.
Da plötzlich, was war das? War das nicht ein Schuss? Hundertfach gaben die Felsen den Knall zurück.
»Sie kommen«, schrie Fabricius in plötzlich ausbrechender wilder Erregung.
»Ich wusste es«, sagt Kressel ruhig.
Unruhe kam in die Angreifer. Die Belagerten hörten sie wild durcheinander schreien. Wieder dröhnten Schüsse, diesmal eine ganze Salve. Die Indianer waren plötzlich fassungslos. So wild ihr Ansturm gerade gewesen war, so toll war nun die Flucht. Als der Boden unter den Hufen galoppierender Pferde dröhnte, erfasste sie maßloses Entsetzen. Die Reiter kreisen die Fliehenden ein. Wie eine Herde Schafe trieben sie etwa zweihundert Indianer zusammen. Der Rest entkam in der Dunkelheit.
An der Spitze der Reiter galoppierten Hutten und neben ihm Hans Hauser, der statt des übermüdeten Lutz ein frisches Pferd ritt. Haus verfolgte einen Indianer, der schnellfüßig wie ein Hirsch vor ihm floh. Einen Augenblick später erreichte er ihn. Er packte ihn am Haar und schleifte ihn eine Strecke weit neben dem Pferd her. Dann warf er die Zügel einem Kameraden zu, sprang vom Pferd und stürzte sich auf den Gefangenen. Er sah in weit aufgerissene schwarze Augen. Der Indianer trug einen großen grünen Stein in der Unterlippe. Kein Zweifel, es war der Xidehara, den er damals in Coro aus den Händen seiner Verfolger rettete.
Das Zusammentreiben der gefangenen Xidehara war schrecklich. Die Soldaten, die deutschen und erst recht die spanischen, behandelten die Besiegten roh und grausam. Je zehn wurden sie aneinander gebunden. Hans Hauser wandte sich unwillkürlich ab, als harte Landsknechtsfäuste auch den stolzen Indianerjüngling packten und fesselten, den er gefangen hatte. Keine Miene im Gesicht des jungen Indianers verriet seine Empfindungen. Schweigend ließ er sich binden.
Dann ließ Philipp von Hutten die Verteidiger der Todesschlucht zu sich kommen. Hans stand an seiner Seite. Bewegt begrüßten sich die Kameraden. »Brav seid Ihr geritten, sehr brav!«, flüsterte Kressel, Hans Hauser die Hand drückend.
Auch Philipp von Hutten reichte einem jeden die Hand. Dann forderte er sie höflich auf, das Mahl mit ihm zu teilen. Gierig stürzten sich die Verhungerten auf die kärglichen Speisen. Das trockene Cassavebrot, das zähe, in der Sonne getrocknete Hirschfleisch, die süßen Kartoffeln schmeckten ihnen wie Götterspeise. Die Ehre, mit dem Feldhauptmann, dem Ranghöchsten nach dem Gubernator, zu tafeln, machte Hans Hauser und Kressel schweigsam und befangen. Fabricius aber geriet unversehens mit dem fränkischen Ritter in einen gelehrten Diskurs. Lateinische Wörter flossen ein. Wiederholt vernahm der ehrerbietig aufhorchende Hans das Wort Aristoteles. Doch auch an die Spanier richtete Philipp von Hutten das Wort in ihrer Muttersprache, die er gut beherrschte.
Am Nachmittag des nächsten Tages traf Hohermut mit dem Rest des Expeditionskorps ein. Er gab Befehl, die gefangenen Xidehara, soweit sie nicht als Träger nötig waren, unter die Christen als Sklaven zu verteilen. Der Kapitän Francisco de Velasco erkannte sofort in dem jungen Xidehara mit dem Smaragd in der Unterlippe den Gefangenen wieder, der ihm in Coro entflohen war. Er verlangte ihn für sich, stieß aber dabei zu seinem maßlosen Erstaunen auf den Widerstand des halben Knaben Hans Hauser.
»Ihr seid nicht bei Trost, Señor«, sagte Velasco verächtlich.
»Und ich sage Euch, Kapitän, dass der junge Xidehara mir gehört«, erwiderte Hans trotzig.
Blass vor Zorn rief Velasco die Entscheidung des Führers an. Hohermut sprach, nachdem er die Streitenden angehört hatte, den Xidehara Hans Hauser zu. Der Spanier fügte sich, aber er warf seinem Rivalen einen hasserfüllten Blick zu.
Haus gab dem Verschmachteten vor allen Dingen einmal zu essen und zu trinken. Der Wilde erholte sich bald. Er hatte ein schönes, männliches Gesicht, die Backenknochen standen nur wenig vor. Bloß um die Mundwinkel war er ein wenig blau tätowiert. Goldbraun schimmerte die Haut, und die schwarzen Augen blickten ohne Furcht auf den weißen Mann, der nun sein Herr war. Der Indio aß und trank ohne Hast und Gier. Dann begann Hans Hauser ein Gespräch mit ihm. Seine Kenntnisse des Aruak reichten für eine Verständigung leidlich aus. So erfuhr er die einfache Lebensgeschichte des Indios. »Zischende Viper«, so ist sein Name, ist in der Tat so etwas wie ein Adliger, Sohn eines Kaziken der Xidehara. Seinen Vater hatten ihm die Sklavenjäger bei einem Überfall auf das heimatliche Pueblo erschlagen.
»Nehmt Euch in acht vor dem rachsüchtigen Wilden!«, warnte Kressel. »Der bringt Euch noch einmal um.«
»Das glaube ich nicht«, erwidert Hans. »Er hat etwas von der Treue eines Hundes in den Augen. Auch verdankt er mir sein Leben.«