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Das Gespenst von Amalfi – Teil 2

Das-Gespenst-von-AmalfiDas Gespenst von Amalfi
Eine Erzählung von Robert Kohlrausch

Wir hatten ein paar Wochen lang ein stilles Leben des Genusses und behaglicher Arbeit geführt, als unser Frieden auf merkwürdige Weise gestört wurde. Mit fröhlichen Lachen begann eine düstere Geschichte. Wir saßen – zwölf Personen ungefähr – an der abendlichen Tafel, zu der die spät einschlafende Sonne noch herein sah, wobei wir über alle möglichen Dinge plauderten. Seit einigen Tagen war unser Kreis durch einen preußischen Major a. D. erweitert worden, der alljährlich nach Amalfi kam und sehr genau dort Bescheid wusste. Wir hörten von ihm manches Neue über die Stadt und ihre Geschichte, daneben auch ein wenig Personalklatsch und Anekdoten. Besonders hoch aber horchten wir auf, als er an diesem Abend fragte: »Wissen die Herrschaften denn auch schon, dass dieses Kloster sein Hausgespenst hat?«

Wir verneinten lachend, und er fuhr fort: »Was ich darüber weiß, will ich gern vor Ihnen auskramen – nur darf Signore Domenico nichts davon erfahren. Er wird fuchsteufelswild, wenn man von dem Gespenst redet, weil er fürchtet, ihm könnten die Gäste durch die Lappen gehen, wenn sie von dem Zauber hören.«

Er schaute sich zugleich um, ob der Wirt nicht in der Nähe sei. Doch war die Vorsicht unbegründet. Vom Hausherrn war keine Spur zu sehen, und nur der Kellner Gaetano stand mit seiner marionettenhaften Ruhe teilnahmslos und still in einer Ecke.

So sprach der Major denn weiter, nachdem er sich als weinfreudiger Herr noch durch einen tüchtigen Schluck roten Weines gestärkt hatte.

»Jawohl, die Sache hat ihre Richtigkeit. Soweit sich’s wenigstens um die Behauptung der Leute hier handelt. Man braucht nur in irgendein anderes Hotel am Ort zu gehen, da wird einem die Geschichte brühwarm zum Kaffee serviert. Signore Domenico verdient hier in seinem trefflichen Haus nämlich einen hübschen Batzen Geld, was natürlich den guten Freunden und getreuen Nachbarn recht schmerzlich ist. Vielleicht haben sie sogar aus reiner Nächstenliebe den Geist erfunden. Wenigstens weiß ich keinen Menschen, der ihn wirklich mit eigenen Augen gesehen hat.«

»Und wie sieht es aus, der Geist?«, fragte Miss Fraser, deren hübsches, frisches Gesicht noch so jung unter schneeweißen Haaren hervorsah. Ganz rot war es in diesem Augenblick vor Spannung und Aufregung.

»Wie sich’s für so’n Kloster gehört. Wer sollte hier sonst umgehen, als ein toter Mönch? Einer von denen in weißen Kutten – ich glaube, Dominikaner sind es.«

»Si, si«, bejahte Locatelli, der – ebenso wie das Personal im Hotel – deutsch ganz gut verstand, aber nur italienisch redete. Dabei warf er einen ernsthaften, etwas missbilligenden Blick auf den Major.

»Na, jedenfalls passt so’n langes, weißes Gewand für ein Gespenst am besten. Darin kann es die Leute hübsch graulen machen. Und ein besseres Milieu für sein Umherspuken gibt es ja gar nicht, als dies Kloster mit seinen verzwickten Treppen und Gängen. Da hat es mehr Gelegenheit zum Verschwinden, als ein ehrliches Gespenst beanspruchen kann, wenn ihm einmal ein Skeptiker mit einem tüchtigen Knüppel auf den Leib rückt.«

»Aber weshalb geht es denn um? Weshalb darf der Mönch nicht ruhig in seinem Grab schlafen?« Ich war nun auch gespannt geworden und wollte wissen, was man sich alles von diesem weißen Mönchsgespenst erzählte.

»Wahrscheinlich, weil er noch immer nach einem Grab sucht. Er soll nämlich hier im Kloster wegen irgendeines Vergehens eingemauert worden sein. Man schildert ihn als ein ehrwürdiges und bejahrtes Gespenst mit grauem Haar und Bart.«

Miss Fraser tat noch ein paar Fragen über den Mönch, doch erfuhren wir weiter nichts Neues über ihn. Wir blieben, als das Essen vorüber war, noch mit unseren Zigarren eine Zeitlang auf der übergrünten Terrasse neben dem Speisesaal sitzen. Die Gespenstergeschichte klang in uns nach, und einer nach dem anderen gab zum Besten, was er jemals von solch übernatürlichen Dingen gehört hatte. So blieben wir in einer gewissen Spannung, wobei geheimnisvolles Halblicht noch die Geisterstimmung erhöhte. Der Mond war aufgegangenen, das Meer tief unten hob und senkte sich in langen, bewegten, silbernen Linien, die Felsen waren von dem nächtlichen Glanz überströmt, und auf dem steinernen Pflaster der Terrasse lagen unregelmäßige Lichtflecken.

Es war ziemlich spät geworden, als ich aufbrach, um schlafen zu gehen. Mein Weg führte dabei durch den Kreuzgang und eine gewundene Steintreppe hinunter zu meinem im unteren Stockwerk ziemlich einsam gelegenen Zimmer. Oft schon war mir der phantastische Gegensatz aufgefallen, den der unerleuchtete, von Grün und Blüten erfüllte Hof zu den erhellten Gängen um ihn her bildete. Zwischen den vielen Säulen, unter den Spitzbögen her strömte das Licht in die Finsternis, diese in das Licht. Es war ein Kämpfen von zwei feindlichen Gewalten, doch unterlag die Helle – wenigstens für den geblendeten Blick – sehr schnell der Finsternis des Gartenhofes, in die das Mondlicht nur ganz leichte Lichtschleier wob. Die hellsten Rosen schimmerten kaum sichtbar aus dem schwarz gewordenen Grün hervor, und ihr schwerer, heißer Duft allein sprach leise von Tagesglanz und Sonnenkraft. Die hängenden Weinranken jedoch schwebten hinter den Steinbögen wie dunkle, belebte Wesen hin und her, wenn der Nachtwind sie traf. Er war immer lebhaft hier auf der Höhe dieses Vorgebirges, und seine Stimme klang in wechselnden Lauten als Pfeifen, Rauschen, Stöhnen und Heulen durch die Hallen des Kreuzganges.

Nahe den feinen Steinarkaden befand sich auf der Seite meines Weges im Hof drinnen ein alter Brunnen, dessen Mauerwerk hellrötlich übertüncht war. Neben seinem Rand erhoben sich in der gleichen Farbe zwei hohe Pfeiler zwischen dichtem Gesträuch, die früher einmal eine Welle für das Eimerseil getragen hatten. Jetzt war sie verschwunden, aber die gemauerten Pfeiler standen zwecklos noch aufrecht.

In dem tiefen Zwielicht unter den von der Nacht geschwärzten Rosenbäumen glichen sie zwei hohen, hellen Gestalten und hatten mich schon ein paarmal erschreckt, wenn ich in gedankenvollem Vorüberschreiten sie plötzlich vor mir auftauchen sah.

Dieses Gefühl wiederholte sich heute noch verstärkt. Ich musste beim Anblick ihrer hellen, senkrechten Linien der weißen Mönchsgestalt gedenken, die hier umgehen sollte. Und ich fuhr zusammen, als plötzlich ein Geräusch von ihnen zu mir herüberklang.

Ich konnte die Dämmerung dort drinnen mit meinem Auge nur durchdringen, wenn ich an die Steinbrüstung unter den aufgereihten Säulen unmittelbar herantrat, um das Licht ganz im Rücken zu haben. Jetzt entwirrte sich mir allmählich die Finsternis, und ich erkannte zwei Gestalten, die zwischen den Pfeilern hinter dem Brunnen standen.

Es waren zwei dunkle Männerfiguren, die dort aufeinander einsprachen, aber mein Auge war noch zu sehr geblendet, um die Gesichter sogleich unterscheiden zu können. Eine der Stimmen, die gleichmäßig ruhig und gedämpft war, schien mir bekannt. Ich erfuhr wieder einmal, wie wenig zuverlässig das Ohr allein ohne Hilfe des Gesichtes ist. Lauter und heftiger klang die zweite Stimme, die wieder zu hören war.

»Ich kann hierher kommen, wann ich will, ob sonntags oder alltags. Ich gebe dem Signore Domenico genug zu verdienen.«

»Gewiss, das ist richtig. Und niemand wird Euch das Recht bestreiten, wenn Ihr nur als Gast hierherkommt. Im Gegenteil, alle hier im Haus werden Euch willkommen heißen. Aber durch das, was Ihr verzehrt und bezahlt, erwerbt Ihr noch keinen Anspruch darauf, die Mädchen hier belästigen zu dürfen.«

»Ich tue, was ich will, und niemand soll sich herausnehmen, mir darein zu reden.«

»Das muss ich doch leider tun, wenn ich etwas Ungehöriges bemerke. Signore Domenico ist mein Vetter, und ich als Kellner in diesem Haus muss auf Anstand – auch bei den Gästen – halten.«

Nun war es heraus. Was das Ohr mir verriet, bestätigten die jetzt an das Halblicht gewohnten Augen. Die beiden Männer hinter dem Brunnen waren Gaetano und Nicola Guazzo aus Positano. Dass er, der sonst immer nur sonntags kam, an einem Wochentag und in so später Stunde hier war, fiel mir auf, aber ich dachte nicht weiter darüber nach. Verliebtheit erklärt ja noch weit wunderbarere Dinge. Sehr angenehm berührt aber war ich durch Gaetanos ruhig sichere Verteidigung der häuslichen Ordnung. Seine marionettenhafte Gleichmäßigkeit zeigte sich an diesem Abend in männliche Festigkeit erfreulich umgewandelt.

Guazzo murrte noch ein paar unverständliche Worte, dann schob er – der Weg dort hinter dem Brunnen war zwischen dichten Laubwänden sehr eng – den Gaetano mit einem kleinen Stoß beiseite und ging rasch davon. Im Fortgehen rief er noch: »Auf Wiedersehen, Signorina Elena!«

Nun erst fand ich mit meinen Augen auch sie. Nicht weit von mir und auf derselben Steinbrüstung, an der ich stand, saß Elena regungslos in einer der Öffnungen zwischen den Säulen und hatte den Arm um eine von ihnen gelegt. Ihr hübsches Gesicht war ernsthafter als gewöhnlich.

Rasch ging ich die wenigen Schritte zu ihr hin und fragte: »Nun, Signorina Elena, was hat es denn gegeben?«

Sie versuchte zu lachen, doch gelang es nicht ganz.

»Ach, nichts – ein Unverschämter!«

Offenbar wollte sie nicht gern von dem reden, was ihr mit Guazzo begegnet war. Ich fragte daher auch nicht weiter, sondern stand einen Augenblick in einem von beiden Seiten etwas verlegenen Schweigen vor ihr. Dann, um absichtlich von dem Geschehenen abzulenken, tat ich eine Frage nach etwas ganz anderem, nach dem, was den übrigen Gästen und mir an diesem Abend einen so dauerhaften Unterhaltungsstoff geboten hatte.

»Sie gehören ja zum Hause, Signorina. Was wissen Sie denn von dem weißen Mönch, der hier umgehen soll? Ihren Oheim darf man danach nicht fragen, aber Sie nehmen es wohl nicht so übel.« Sie hob die Hand mit lebhafter Abwehrbewegung. »Oh, sprechen Sie nicht von dem weißen Mönch! Er hat es nicht gern, wenn man es tut. Keiner von uns hier im Haus redet von ihm, weil er sonst wiederkommt.«

»Haben Sie jemals etwas von ihm gesehen?«

»Die Madonna möge mich davor bewahren! Ich würde zu Tode erschrecken, wenn er mir erschiene. Der Oheim …« Sie brach ab, als hätte sie schon zu viel gesagt, und fügte dann rasch hinzu: »Nein, ich darf darüber nicht reden, ich hab’ es versprochen.«

»Ah …«

Sie war nachdenklich und ängstlich geworden, ihr heiteres Temperament kam plötzlich wieder zum Durchbruch. Sie sagte lachend: »Ach, ich bin so schrecklich feige, Signore. Weil ich lustig bin, denken Sie vielleicht, ich bin auch mutig. Aber ich laufe vor einer Maus eine halbe Stunde weit weg.«

Auch ich musste nun lachen. »Ich gebe zu, dass eine Maus ein sehr gefährliches Tier ist. Aber solch ein harmloser Hausgeist, was tut denn der Ihnen Böses?«

»Oh, lassen Sie’s, reden Sie nicht weiter von ihm. Ich habe schon immer so viel Angst gehabt, wenn mein Großohm, der bei den Dominikanern in Monte Oliveto Maggiore war, einmal auf Besuch zu den Eltern kam. Und er war lebendig, war kein Gespenst. Er schalt mich immer, weil ich nicht genug lernen wollte. Wenn es nach ihm gegangen wäre – nein, Signore, sagen Sie selbst, ich bin doch nicht gemacht, um eine Gelehrte zu werden?«

Sie war ganz reizend im Kampf ihrer natürlichen Heiterkeit mit ihrer Furcht vor den Wissenschaften, aber ich fühlte mich doch verpflichtet, ihr in diesem Kampf beizustehen.

»Sie brauchen sich aber doch jetzt nicht mehr vor dem Lernen zu fürchtest, Signorina Elena.«

Ein leises, auch jetzt noch halb frohes, halb furchtsames Lachen kam von ihren Lippen.

»Der weiße Mönch würde sich allerdings darum nicht kümmern, aber er hat schon einmal …«

Sie brach unvermittelt wieder ab, auch wurde mir gleich der Grund ihres Verstummens klar. Gaetano, der sich vielleicht erst noch überzeugt hatte, ob Guazzo das Haus auch wirklich verließ, war jetzt aus einer nahen Öffnung in der Steinbrüstung vom Innenhof her in den Kreuzgang eingetreten und kam zu uns heran. Elena wandte sich auf den Klang seiner Schritte nach ihm um, schien mir aber ein wenig verlegen. Sie sagte mit einer gewissen Zurückhaltung: »Ich danke dir, Gaetano.«

Mir war es Bedürfnis, ihm auch mein Wohlgefallen über sein Verhalten auszudrücken, und ich tat es mit ein paar herzlichen Worten.

Aber weder Elenas Dank noch mein Lob riefen auf seinem unveränderlichen Gesicht einen merkbaren Eindruck hervor. Er machte nur zwei seiner kleinen, einwandfreien Verbeugungen vor uns beiden und sagte: »Vielen Dank für das Lob, vielen Dank auch, Signore.« Damit ging er fort, zu dem Speisesaal hinüber.

Ich sagte nun auch Elena Gute Nacht und begab mich die Treppen hinunter auf mein Zimmer.