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Der bayerische Hiesel – Teil 5

Der-bayerische-HieselFriedrich Wilhelm Bruckbräu
Der bayerische Hiesel
Wildschützen- und Räuberhauptmann, landesverrufener Erzbösewicht

Der Teufel als Krankenwärter

Mit schweißtriefendem Körper war Hiesel in die Wellen des reißenden Lech gesprungen, und hatte es nur seiner kräftigen Natur zu verdanken, dass ihn nicht auf der Stelle ein Schlag tötete. Ganz erschöpft von der großen Anstrengung und von der beständigen Angst, von seinen Verfolgern eingeholt zu werden, lag er am Ufer, wärmte und trocknete sich an den heißen Strahlen der Sonne. Da fühlte er plötzlich einen heftigen Fieberfrost in seinen Gliedern. Er raffte sich auf und schleppte sich mühsam in den nahen dichten Forst, wo er sich, ohne zu wissen, wie, von sieben verdächtigen Kerlen umringt sah, die ihn mit gespannten Hähnen ihrer Büchsen drohend fragten, wer er sei und woher er komme.

»Ihr seht, dass ich ein kranker Mensch bin«, erwiderte Hiesel, indem er vor Schwäche zähneklappernd an einem Buchenstamm niedersank. »Vor einer Stunde noch hätte ich euch auf eine so schlechte Behandlung – sieben Bewaffnete gegen einen Wehrlosen – das Kreuz eingeschlagen.«

Diese stolze Antwort überraschte die Sieben. Sie erkundigten sich nun teilnehmender nach seinem Schicksal. Hiesel erzählte den Vorfall, wie er war, und bat sie dringend, ihn so schnell wie möglich unter ein Obdach zu bringen, indem er seine Kräfte von Augenblick zu Augenblick abnehmen fühle.

Die Sieben machten aus Ästen eine Tragbahre und brachten ihn so in die Waldhütte des Xaver Bobinger, genannt der Krettenbub, von Bobingen an der Hochstraße gebürtig, damals als ein Erzwilderer bekannt, und späterhin selbst der Lehrmeister des Hiesel im Wilddiebstahl.

Dieser Bobinger wurde in einem Alter von 44 bis 45 Jahren am 16. Januar 1770 in einem Gartenhaus zu Augsburg, wo er mittels eines vom dritten Stock herunter gewagten Sprunges flüchten wollte, gefangen und am 14. September desselben Jahres zu Günzburg mit dem Schwert vom Lehen zum Tode hingerichtet, sofort dessen Körper unter dem Galgen verscharrt, der Kopf aber auf den Galgen gesteckt.

Kaum lag Hiesel auf einer mit Moos gefüllten Matratze, die wollene Decke bis an den Hals gezogen, als das Fieber in voller Stärke ausbrach, sodass Hiesel sogar anfing, irre zu reden.

Bobingers 19-jährige Schwester Afra, ein hübsches Mädchen mit schwarzen Haaren, übernahm die Pflege des Kranken. Nur ihrer rastlosen Mühe Tag und Nacht gelang es, ihn vor dem Tod zu retten. Natürlich durfte sie keinen Arzt holen, um kein Aufsehen zu erregen. Wie leicht hätten sie verraten werden können!

Bobinger half sich gewöhnlich selbst, so oft ihm etwas fehlte, indem er sehr viel kaltes Wasser trank, und zwar in einer Stunde vier Gläser. Diese Kur setzte er oft drei bis vier Tage lang fort, bis das Übel durch einen starken Schweiß sich brach, und er genesen war. Während dieser Zeit nahm er durchaus kein anderes Nahrungsmittel zu sich. Auf diese Weise wurde auch dem Hiesel geholfen, der wirklich nach drei Wochen mit Beihilfe seiner eisenfesten Natur, imstande war, das Krankenlager zu verlassen und im Wald spazieren zu gehen.

Afra lieh ihm ihren Arm als Stütze. Sie führte ihn hinaus in die freie, herrliche Natur, unter das Laubdach irgendeiner schattigen Buche, wo sich Hiesel ins Grüne legte und bald mit starren, tränenfeuchten Augen über die flachen Ufer des Lech in Richtung Kissing blickte, wo das Herz seines Lebens lebte, bald hinauf durch die luftigen Zweige, auf welchen sich die fröhlichen Sänger des Waldes wiegten, hinauf zu den eilenden Wolken, zu den Seglern der Lüfte, mit stummen Seufzern, die sein Herz zusammenpressten, nach der väterlichen Heimat sich sehnend.

Afra beobachtete ihn oft mit großer Aufmerksamkeit und merkte wohl, dass etwas Schweres auf seinem Herzen lasten müsse.

Der schöne Hiesel ging ihr bald weder aus dem Kopf noch aus dem Herzen. Er war jedoch nicht ihre erste Liebe. Ihr Leichtsinn hatte sie schon zu manchen Fehltritten verleitet.

Eines Abends, als Hiesel bereits vollkommen hergestellt war, und Bobinger im Freien vor der Hütte mit seiner Schwester und den Spießgesellen eben einen Hirschbraten verzehrten, setzte sich Hiesel zwischen Bobinger und Afra und sagte: »Bobinger, Ihr habt ein Werk der Barmherzigkeit an mir getan, Ihr habt mich in Eure Hütte aufgenommen, da ich dem Tode nahe stand, und Eure brave Schwester hat mich wie ihren leiblichen Bruder gepflegt. Ich danke Euch aus vollem Herzen, aber mit Worten kann ich es nicht. Wenn mein Herz voll ist, kann ich mit dem Reden nicht recht aufkommen. Nach meiner Schuldigkeit mag ich Euch nicht fragen, und es wäre auch nicht aufrichtig von mir, denn ich muss Euch gestehen, dass ich keinen halben Gulden mehr in meiner Tasche habe. Kommt eine bessere Zeit, so will ich gerne meine Schuld abtragen. Kann ich aber dieselbe abarbeiten, so weist mir ein Geschäft an. Ist meine Schuld getilgt, so lasst mich meines Weges ziehen, damit ich irgendwo bei einer Gutsherrschaft einen Dienst als Jäger suche.«

»Bist du von Sinnen, Hiesel, dass du von Dankbarkeit und Bezahlung redest?«, erwiderte Bobinger. »Krankes Vieh lass ich nicht hilflos auf dem Wege liegen, und einem Menschen sollte ich Dach und Fach verweigern, der fieberkrank mein Mitleiden in Anspruch nimmt? Und was fällt dir ein? Jäger willst du werden, dich von der Herrschaft gegen Lohn auf alle Weise misshandeln lassen? Welcher Mann, der die Freiheit liebt, wird in die Sklaverei gehen? Und was ist dann dein Lohn, wenn du alt und kraftlos bist und deinen schweren Dienst nicht mehr versehen kannst? Da kannst du in einem Stallwinkel des Jägerhauses wie ein blinder Hund liegen und auf die Brosamen warten, die ein mitleidiger Hundsjunge dir zuwirft. Sei klug, Hiesel, bleib bei mir und meinen Kameraden. Wir sind freie Leute, Wildschützen, die Wohltäter der Bauern, deren Feldfrüchte wir vor den Zerstörungen des Wildes schützen. Gott hat das Wild für alle Menschen erschaffen, darum nehmen wir auch unseren Teil davon. Unsere Beute geht in gleiche Teile. Jeder leistet, was er leisten kann. Am Ende der Woche gibt es immer eine hübsche Summe zu verteilen. Und dann die Freiheit, die ist nicht mit Gold zu bezahlen!«

Hiesel schlug ein. Er fand ja, was er wünschte, die Gelegenheit, nach Herzenslust zu schießen.

Bobinger gab ihm Unterricht in vielen Dingen, wovon Hiesel noch nichts gehört hatte. Nur im Treffen kam ihm keiner gleich. Seine Kameraden meinten oft, er müsse mit dem Gott sei bei uns im Bunde stehen.

»Wir bleiben über Nacht aus«, sagte eines Tages Bobinger zu Hiesel. »Die Nacht wird finster. Du kennst die Gegend noch nicht genau und könntest leicht einer Streife in die Hände fallen. Bewache du also das Haus. Ich rechne auf dich und zähle dich für sechs Mann, die ich statt deiner sonst zurückließe.«

Hiesel untersuchte die Gewehrkammer, als die anderen fort waren, zog die alten Ladungen heraus, lud alle Gewehre frisch, legte die gefüllten Pulverhörner auf den Tisch, verschloss das Gittertor, verrammelte die Haustür und legte sich dann, weil er gegen Abend bisweilen noch Mattigkeit spürte, auf sein Lager, vor welches Afra einen großen Krug Bier und ein tüchtiges Stück Rehbraten und Brot auf ein Tischchen stellte.

Als die Nacht hereinbrach, wollte Afra Licht machen. Hiesel aber missriet es, um die Aufmerksamkeit einer allenfalls vorüberziehenden Streife nicht auf die Hütte zu lenken.

Gegen 11 Uhr nachts vernahmen beide das ferne Grollen des Donners. Einzelne Blitze erhellten die ganze Gegend und das Innere der Stube. Afra schmiegte sich zitternd und betend an Hiesels Seite, der dem Krug fleißig zusprach.

Das Gewitter wurde immer furchtbarer. Der Regen stürzte in Strömen herab, und der Sturmwind brauste mit so rasender Gewalt durch den Forst, dass er die ältesten Buchen krachend zusammenrieb.

Hiesel lachte, so oft Afra einen dumpfen Angstschrei tat, die ihn zuletzt mit ihren Armen umklammerte.

Hiesels schwache Stunde schlug, und er fuhr aus seinem Sinnestaumel auf, als die alte rauchgeschwärzte Schwarzwälder Uhr ihre Gewichte aushob, um mit grellem Schall die Mitternacht zu verkünden.

Da war ihm, als höre er in der Vorkammer ein unheimliches Huschen wie von Filzsohlen. Rasch sprang er vom Lager auf, ergriff ein Doppelgewehr und riss die Tür auf.

Afra fragte leise und ängstlich: »Um Gottes willen, Hiesel, was gibt’s?«

Hiesel fühlte sich von den Schauern des Grabes erfasst, denn vor seinen Augen verschwand der Geist seines Vaters mit zürnendem Antlitz. Als ein rascher Blitz den Hofraum einen Augenblick lang wie mit Tageslicht erhellte, sah er die Gestalt seiner Marie, händeringend, als ob ein innerer Jammer ihr Herz durchwühle.

Da weckte ihn die Stimme des Gewissens aus dem Sinnesrausch. Er verwünschte seinen Leichtsinn, seine Schwäche, und die tätigste Reue kehrte in seiner Brust ein.

Afra war aus dem Bett gesprungen und kniete mit zurückgehaltenem Atem innerhalb der Schwelle der Schlafkammer auf dem Boden, um zu sehen, was Hiesel mache.

Dieser stand noch immer regungslos, das gespannte Gewehr im Arm, mitten in der Vorkammer, kaum fähig, sich zu fassen.

»Hiesel, hörst du nichts? Keine Tritte im Hof? Heiliger Gott, ein Kopf am Fenster! Das ist der schwarze Martin mit seinen Gesellen, wir sind verloren!«

Kaum hörte Hiesel von einer drohenden Gefahr, als sogleich wieder der wilde Mut in ihm erwachte. »Wo? Wo?«, fragte er still und hastig.

»Dort, am zweiten Fenster!«

Ein Blitz, und Hiesel zählte noch drei andere, die sich vorsichtig hinter dem schwarzen Martin heranschlichen.

Es klopfte am Fenster, einmal, zweimal, dreimal.

»Wem gilt dies Zeichen?«

Afra schwieg.

»Wem gilt es, frag ich. Sprich!«

»Mir, Hiesel. Zürne nicht, der schwarze Martin ist mein Liebhaber!«

»Ach so!« Der Zorn gekränkter Eitelkeit durchzuckte Hiesel.

Mit geballter Faust schlug Hiesel die raucherstickten Scheiben hinaus, dass die Scherben in den Hofraum klirrten, und donnerte den schleichenden Schnapphähnen ein lautes »Wer da?« zu.

Afra schrie laut auf und fasste Hiesel rückwärts bei den Hüften, um ihn vom Fenster wegzuziehen. Er aber schleuderte sie verächtlich in eine Ecke.

»Kameraden, ein verdächtiger Kerl ist bei der Afra. Dem wollen wir den Garaus machen.« Martins Stimme war’s.

Durch das Schimpfwort gereizt, wurde Hiesel wütend und brach, während Blitz und Donner mit erneuerter Kraft rasten, in die gräulichsten Flüche und Verwünschungen aus.

»Über den Zaun zurück, ihr Lumpenhunde«, schrie er ihnen zu, »oder ich wasche euch die Köpfe mit Blei, dass ihr euer Hirn in allen Winkeln zusammensuchen müsst!«

In blinder Eifersucht achtete der schwarze Martin nicht die Drohungen des Hiesel und befahl den Übrigen, ganz still die Hütte zu umzingeln.

Die rastlosen Blitze verrieten dem Hiesel jede Bewegung seiner Feinde.

»In Teufels Namen«, rief er, »den Weg will ich euch ersparen!«

Es krachte, und der Eiligste lag in seinem Blut. Den Zweiten erreichte die Kugel des Doppellaufes, als er eben um die Ecke bog.

Der schwarze Martin entfloh mit zwei Gesellen, während Hiesel in die Schlafstube sprang, um ein anderes Gewehr zu holen.

Er horchte lange, ob sich nichts mehr rege. Einige Male stöhnte noch der Zweite, den er getroffen hatte, dann war alles still.

Afra kniete vor der Ofenbank, auf die sie weinend ihr Haupt stützte.

Hiesel griff zum Krug und trank in langen Zügen.

»Du hast eine saubere Liebschaft«, wandte er sich grimmig lachend zu Afra. »Ist er vielleicht gar unter den Kalten da draußen?«

Afra schwieg und schluchzte.

»Das hätte ich früher wissen sollen«, fuhr er fort, »es wäre nicht geschehen, was geschah. Darüber wirst du schweigen, hoff’ ich, solange du lebst. Erfahr ich früher oder später, dass auch nur ein Wort über deine Lippen kommt, so bist du verloren. Deinem Bruder aber will ich sagen, er möge lieber einen Schinderknecht als einen Spitzbuben zu seinem Schwager wählen!«

»Um Gottes willen, sag meinem Bruder nichts«, flehte Afra auf ihren Knien, »er schlüge mich wie einen räudigen Hund tot, denn der schwarze Martin ist sein Todfeind!«

Afra hörte nicht auf, zu bitten, bis Hiesel ihr heilig versprach, ihrem Bruder nichts von diesem Verhältnis zu sagen.

 

***

 

Wohl kann man sagen, dass der Teufel der Krankenwärter des Hiesel war, denn Afra riss noch das letzte Baud entzwei, womit er an die Tugend gebunden war.

Hütet euch vor den Fallstricken der Sinnlichkeit! Leicht fällt der Mensch, doch wenige erheben sich wieder von ihrem Fall. Dazu gehört ein fester Entschluss. Die schwachen Kräfte eines Menschen, der bereits in anderer Beziehung von Leidenschaften beherrscht wird, reichen dazu nicht mehr aus. Meidet auch die Gelegenheiten zu solchen Verirrungen. Vertraut nicht auf eure Standhaftigkeit! Wer sich in Gefahr begibt, kommt in der Gefahr um!

Im Verlauf weniger Wochen sahen wir Hiesel schon als Wildschütz, Spieler, Raufer, Deserteur, Fröner niedriger Lüste. Zwei Menschen starben von seiner Hand. Fielen sie auch nach dem Gebot der Notwehr, so hatte doch Hiesel eben diese Notwehr dadurch erlebt, dass er länger, als seine Heilung dauerte, wissentlich unter schlechten Menschen sich aufhielt.

Und immer noch wachte sein rächendes Gewissen. Einen tiefen Eindruck ließ die Erscheinung seines Vaters und Maries in seinem Herzen zurück, das eine ungewöhnliche Sehnsucht in ihm erregte, seine Geliebte wiederzusehen.

Eine Antwort auf Der bayerische Hiesel – Teil 5