Sherlock Holmes und die Indische Kette
Michael Buttler
Sherlock Holmes – Neue Fälle 11
Sherlock Holmes und die Indische Kette
Krimi, Taschenbuch, Blitz Verlag, Windeck, April 2015, 320 Seiten, 12,95 Euro, exklusiv nur im BLITZ-Shop, Coverillustration von Mark Freier
www.blitz-verlag.de
Holmes erzählte von der Begegnung mit den Schlägern, ließ aber den Ausgang des Kampfes, seine Entführung sowie die Rettung vom Schiff weg. Ich kannte meinen Freund in dieser Beziehung. Die Matrosen waren nur Handlanger gewesen, wie man sie an fast jeder dunklen Straßenecke zu sehen bekam. Es kam darauf an, die Verursacher des Übels zu finden und dingfest zu machen. Und darauf konzentrierte er seine Kraft.
Nach einer dreiwöchigen Abwesenheit findet John Watson die Wohnung in der Baker Street 221b, die er gemeinsam mit seinem Freund, dem Meisterdetektiv Sherlock Holmes bewohnt, verlassen vor. Die einzigen Zeichen auf Holmes momentanen Aufenthaltsort ist ein Schiffsticket nach Hamburg, Deutschland, ausgestellt auf Watsons Namen, sowie das Schreiben eines deutschen Brieffreundes von Holmes, Henry Jasper, dessen Tochter Alice offenbar entführt wurde. In Hamburg angekommen können Watson und Jasper gerade noch das Schlimmste verhindern, denn der Detektiv wurde bei seinen Nachforschungen von Gangstern überwältigt und verschleppt.
Die Entführung von Alice Jasper erweist sich jedoch bald als die Spitze eines Eisberges. Weitere Indizien und Ermittlungen führen die Freunde auf die Spur mächtiger Männer, die sich an der verheerenden Choleraepidemie zwei Jahre zuvor auf Kosten vieler Menschenleben bereichert hatten.
Als ich den Matrosen nach vorn schob, sackte Jasper förmlich auf der Kiste zusammen. Die Enttäuschung war ihm anzumerken. Ich zog ihn beiseite und blickte auf ein blasses, verschwitztes Gesicht, das von der Lampe beleuchtet wurde. Ein falscher Bart hing quer über dem Kinn. Schminke war verlaufen und hatte das Antlitz zu einer unheimlichen Fratze gemacht. Die große Nase meines Freunds Sherlock Holmes warf einem nicht zu verachtenden Schatten auf seine zweite Gesichtshälfte.
Im Gegensatz zu unzähligen Autorenkollegen beginnt Michael Buttler seinen Roman nicht mit dem fast schon Standardszenario, dass ein neuer Fall in die Baker Street getragen wird, sondern er setzt eine Stufe später an. Holmes befindet sich bereits mitten in den Ermittlungen, Watson jedoch wird zum ersten Mal mit dem Fall konfrontiert. Gemeinsam mit dem Doktor wird der Leser also mitten ins Geschehen gestoßen, von dem er zunächst kaum eine Ahnung hat. Und nicht nur das. Watson ist auch gezwungen, auf fremdem Terrain allein detektivisch zu ermitteln, um die Spuren seines Freundes zu finden. Schon mit dieser außergewöhnlichen Exposition hat Sherlock Holmes und die Indische Kette einige Pluspunkte auf dem Konto der eingefleischten Holmes-Leser. Natürlich übernimmt der Detektiv nach seiner Befreiung wieder das Ruder der Ermittlungen in die Hand, das ihn und seine Freunde weit über den Fall der entführten Alice Jasper hinaus in eine ganz neue Richtung lenkt. Damit erweist sich der anfängliche Freundschaftsdienst als MacGuffin, um eine weit größere Geschichte in Gang zu bringen. Innerhalb dieser ausgerechnet eine zweite Entführung nachzuschieben, provoziert jedoch auch ein gewisses Déjà-vu-Erlebnis und damit auch einen vermeidbaren Leerlauf. Auch an anderen Stellen hätte die Geschichte etwas straffer ausfallen dürfen. Positiv merkt man dem Roman die ausführliche Recherche des Autors an, was sich sowohl in den plastischen Beschreibungen der historischen Hamburger Örtlichkeiten widerspiegelt, als auch in der Schilderung des Wie und Warum der tatsächlich stattgefundenen Choleraepidemie von 1892. Ein Aspekt, der Sherlock Holmes und die Indische Kette über eine reine Detektivgeschichte hinaus hebt, besteht darin, dass Jasper seinem Freund Holmes nicht die volle Wahrheit erzählt hat. Ein Umstand, der für den Detektiv untragbar ist und den er auch – mit allen Konsequenzen – als persönlichen Affront wahrnimmt. Hier ist erkennbar, dass sich Michael Buttler auch eingehend Gedanken über die Charaktere und ihre Beziehung zueinander gemacht hat und was letztendlich das Salz in der Suppe ausmacht.
Insgesamt gesehen hat Buttler einen Sherlock-Holmes-Roman verfasst, der zwar einige Längen aufweist, doch durch viele andere Aspekte – den Schauplatz Hamburg, die eingehende Beschäftigung mit den Charakteren, den ungewöhnlichen Aufbau – überzeugt. So sehr, dass er kürzlich »das Wort ›Ende‹, […] am Schluss seines zweiten Sherlock-Manuskripts setzen konnte.« (Zitat von michael-buttler.de). Dem vorliegenden Roman voraus gingen zwei weitere historische Kriminalromane, die im Verlag Saphir im Stahl (Die Bestie von Weimar) und im Bookshouse Verlag (Der Teufelsvers) erschienen sind, neben einer ganzen Reihe weiterer Romane und Anthologiebeiträge im Phantastikbereich.
Titel und Coverbild sind hochgradig irreführend, denn weder spielt das titelgebende Schmuckstück eine tragende Rolle in der Geschichte, noch kommt hier eine orientalische Schönheit vor, wie sie auf dem Coverbild von Mark Freier zu sehen ist.
Fazit:
Gut recherchierte Geschichte mit einigen Längen, die Sherlock Holmes und Dr. Watson auf fremden Boden ins historische Hamburg verschlägt.
(eh)