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Petra E. Jörns – Das Geheimnis der Nonne 1

Das-Geheimnis-der Nonne-BlutbannPetra E. Jörns – Das Geheimnis der Nonne 1

»… Wan man ein Erbschaft in 5 brüderliche theil abtheilt undt noch 5 schwestern zu versorgen hat, so kan es ja nit also sein undt pleiben, wie es bey unserem Vater s(elig). Dieses haben unsere gottseligen eltern woll bedacht, drumb sie mich undt Johann zu pfaffen gemacht. die schwestern in Clöster gedhan, dich hernach … in Maintzisch dienst gebracht …«1

Unter seinem adligen Namen ist Georg Friedrich Greiffenclau zu Vollrads in der Geschichte des Rheingau kaum zu finden. Vielmehr begegnet man dieser Persönlichkeit unter solchen Bezeichnungen wie Fürstbischof von Worms, Erzbischof und Kurfürst von Mainz oder Erzkanzler des Heiligen Römischen Reiches. Er wurde in einer Zeit innerer Spannungen und auswärtigen Verwicklungen geboren. Am 8. September 1573 erblickte er in der mittelalterlichen zweitürmigen Wasserburg Vollrads im Rheingau als ältestes Kind des Diethrich Greiffenclau und der Apollonia von Reiffenberg das Licht der Welt. Dem geistlichen Fürstentum, dem Mainzer und anderen Hochstiften fühlten sich die Greiffenclau von Vollrads nach wie vor verbunden und der katholischen Religion verpflichtet. Die aus ihrer Sicht ketzerische Reformation unter Martin Luther lehnten sie kategorisch ab. Auf dem dialektischen Wechselverhältnis von der geistlichen Obrigkeit mit ihren zeitgemäßen materiellen Versorgungsmöglichkeiten und der prinzipiellen Bindung der Greiffenclau von Vollrads an die römische Kirche, ihre Heilslehre und Ordnungsvorstellungen basierend entwickelte sich Georg Friedrich Greiffenclau zu einem frommen und zielstrebigen, aber nicht immer weitsichtigen Fürsten. Aufgrund seines frühen Todes am 6. Juli 1629 konnte er den Zusammenbruch seiner politischen Ideale nicht mehr erleben.

Die Autorin Petra E. Jörns greift im ersten Teil ihrer Trilogie Das Geheimnis der Nonne – Blutbann einen Teil des Wirkens von Georg Friedrich Greiffenclau zu Vollrads als Fürstbischof von Worms auf. Eine brisante, gefährliche Zeit, in welcher sich Katholische Liga und Protestantische Union gegenüberstehen, dadurch in Europa sowie im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation ein facettenreiches Spannungsfeld aus politischen, dynastischen, konfessionellen und innenpolitischen Gegensätzen herrscht, dessen Wurzeln bis weit in Vergangenheit zurückreichen.

Das Buch

Petra E. Jörns
Das Geheimnis der Nonne – Band 1
Blutbann
Historischer Roman, E-Book, dotbooks, München, November 2015, ca. 199 Seiten, 4,99 Euro, ISBN 9783958243453, Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/Captblack76 (Mädchen) und shutterstock/Nailia Schwarz (Dom)
Kurzinhalt:
Der dem Ordo fratrum domus Sanctae Mariae Teutonicorum Ierosolimitanorum (Orden der Brüder vom Deutschen Haus Sankt Mariens in Jerusalem) angehörenden Ritter Aymard gelingt es, einer kircheninternen Verschwörung auf die Schliche zu kommen. Sein älterer Bruder, der Priesterbruder Domitian, gehört dieser auf Intrige und Macht sinnenden Verschwörung an. Georg Friedrich von Greiffenclau zu Vollrads, vom 15. September 1616 bis 6. Juli 1629 Bischof von Wormitia, unternimmt Bestrebungen, mithilfe der Magie des Magisteriums die kirchliche und weltliche Macht in Europa an sich reißen. Der der Ursprung dieser Magie in Satan höchstpersönlich liegt, kann sich Aymard dieser nur entgegenstellen, wenn er selbst Magie erlernt, um die Seele seines Bruders retten zu können. Hilfe dabei bekommt er von der Hexe Hiltraud, welche einem Hexenzirkel, getarnt als Nonnenkonvent, angehört. Mit vereinten Kräften gelingt es ihnen, das Magisterium zu zerstören und Domitian aus den Klauen des Satans zu entreißen.

Petra-E-Joerns-mit-Torsten-ScheibDie Autorin

Petra E. Jörns, geboren 1964, ist gebürtige Pfälzerin. Sie studierte Biologie an der Universität Kaiserslautern, wobei ihr besonderes Interesse der Verhaltensforschung galt. Seit 1994 ist sie freiberuflich als Diplombiologin tätig. Unter den Pseudonymen P. E. Jones und Patricia E. James veröffentlicht sie Science-Fiction- und Liebesromane. Petra E. Jörns lebt mit ihrem Mann und ihrem Sohn in ihrem Heimatdorf in der schönen Pfalz.

Leseprobe

Prolog

Die samtschwarze Dunkelheit war vollkommen, und ebenso vollkommen war die Stille, die unter dem Mantel der Finsternis lag. Als wäre jeder Laut gestorben, jedes Licht erloschen.

In der schweigenden Schwärze wuchs jede Sekunde zur Ewigkeit. Zeit wurde bedeutungslos. Die Ewigkeit schrumpfte zur Sekunde.

Bis sich etwas änderte.

Etwas geschah.

Irgendwo in der Finsternis störte ein leises Kratzen die Stille. Das Echo des Geräuschs pflanzte sich fort durch die schwarze Stille und erschütterte sie. Der Ton war so hoch und schrill, dass er schmerzte, und gleichzeitig so tief, dass man ihn nur fühlen konnte. Umso erschreckender war es.

Während die Stille noch unter dem Echo erzitterte, konnte man ein schwaches rotes Glühen bei der Quelle des Tons ausmachen. Zuerst war es kaum zu sehen. Die Dunkelheit schien an jener Stelle sogar noch tiefer zu werden, als würde dort die Wirklichkeit verschluckt.

Dann war ein dumpfer Schlag zu hören, und die Dunkelheit öffnete sich wie ein Lid. Zuerst war es nur ein Spalt, aus dem das rote Licht hervorquoll. Doch nach einer Ewigkeit oder einer Sekunde öffnete er sich weiter – Stück für Stück, mit jedem der dumpfen Schläge, die einem langsamen Herzschlag glichen. Und mit jedem Stück vertiefte sich das Glosen. Bis die lodernden roten Flammen dahinter zu sehen waren, die aus der Öffnung leckten.

Zusammen mit dem Spalt, der sich in der Schwärze aufgetan hatte, glich das Glosen einem riesigen Auge.

Und das Auge richtete seine Aufmerksamkeit auf die Dunkelheit und sah. Und alles, was darin verborgen war, wurde offenbart.

Nichts und niemand, der auf der Erde lebte, gelebt hatte oder je leben würde, war dem Blick dieses Auges verborgen.

Jede Seele war ihm ausgeliefert.


1. Kapitel

November 1621

Die Mutter Oberin sah auf, als Hiltraud in ihr Arbeitszimmer trat. »Setz dich.« Mit einem Blick ihrer hellen Augen wies sie auf den Stuhl, der vor ihrem Tisch stand. Nur eine Kerze erhellte den Raum. Es war später Nachmittag, und die Dämmerung hatte das Zimmer bereits erreicht.

Hiltraud fröstelte. Unsicher ließ sie sich auf das vordere Drittel des Stuhls nieder. Fieberhaft suchte sie in ihrer Erinnerung nach einem Vergehen in den letzten Tagen, dessen man sie beschuldigen könnte. Nachdem vor zweihundert Jahren im Sankt Magdalenenkloster zu Spira das Ordensleben niederzugehen drohte, hatte die Erneuerung des Ordens zu besonderer Strenge geführt. Es war nicht schwer, sich etwas zuschulden kommen zu lassen.

Obwohl sie schon seit Jahren hier lebte, fühlte sich Hiltraud noch immer nicht heimisch. Oft dachte sie an ihre sechs Geschwister, die toten wie die lebenden, die sie zurückgelassen hatte, und überlegte, wie es ihnen wohl ergangen war. Ob sie genug zu essen hatten und einen Platz zum Schlafen – so wie sie? Obwohl ihr Leben nur Armut und Not gekannt hatte, ehe sie ins Kloster eintrat, sehnte sich Hiltraud danach, selber eine Familie zu gründen. Mit einem Mann an ihrer Seite, der ihre Sehnsucht nach Geborgenheit und Zärtlichkeit stillen konnte, was selbst ihre Liebe zu Gott nicht vermochte.

Die Mutter Oberin faltete die Hände auf der Tischplatte. Der Kerzenschein vertiefte die Falten in ihrem Gesicht. »Ich muss mit dir reden, Hiltraud«, sagte sie. »Über die Vision, die Gott dir geschickt hat.«

Also ging es um diesen Traum. Hiltraud hatte es befürchtet.

Und wenn es schlicht ein Alptraum gewesen war und keine Vision, wie die Mutter Oberin glaubte? Oder schlimmer – was, wenn nicht Gott, sondern Satanas ihr den Traum geschickt hatte? Hatte Mutter Walburga auch dies in Erwägung gezogen?

Die Oberin vernahm Hiltrauds stummen Zweifel nicht. »In drei Wochen ist die Thomasnacht. Ich möchte, dass du dieses Mal das Medium bist.«

Hiltraud klappte der Mund auf. »Aber ich dachte, Katharina soll dieses Mal …«

Seit Wochen, nein, seit Monaten hielt sich Katharina als auserkoren und deswegen als etwas Besseres. Sie würde Hiltraud hassen, wenn sie erfuhr, dass die Mutter Oberin sie bevorzugte. Ganz gleichgültig, ob Hiltraud selbst etwas dafürkonnte oder nicht.

Die Mutter Oberin schüttelte bestimmt den Kopf. »Nein, Hiltraud. Gott hat durch dich gesprochen. Irgendetwas geschieht. Bald. Etwas Gefährliches. Und du bist der Schlüssel. Nur du kannst das Medium sein.«

Hiltraud nickte ergeben. »Was muss ich tun?«, fragte sie.

»Verbringe die restlichen Tage im Gebet. Reinige deinen Körper durch Fasten und deinen Geist durch Schweigen. Alles andere wirst du dort erfahren.«

Hiltraud begriff, dass sie damit entlassen war. Doch sie blieb wie angenagelt sitzen.

Die Mutter Oberin hatte sich nach ihren letzten Worten bereits einem Schriftstück gewidmet, doch sie sah wieder auf. »Was ist, Hiltraud?« Als diese nicht antwortete, setzte sie leise hinzu: »Hast du Angst?«

Wider Willen nickte Hiltraud. Ihr Hals war zu eng zum Sprechen.

»Gott hat sich dir offenbart. Da ist nichts, wovor du dich fürchten müsstest. Nur vor dem, vor dem er uns warnt – davor musst du Angst haben. Denn es ängstigt auch mich. Irgendjemand will den Schleier zerreißen.« Die Stimme der Mutter Oberin senkte sich. »Um den Weg zu ihm zu ebnen. Zu Satanas. Um Macht zu erlangen.«

Schatten schienen sich auf einmal im dämmrigen Zimmer der Oberin zu sammeln. Sie lauerten in den Ecken wie Raubtiere, dazu bereit, die beiden Frauen anzugreifen.

»Macht?« Hiltraud erschrak darüber, wie dünn ihre Stimme klang. Fast wie der Hilferuf eines Vogels.

»Schwarze Magie, Hiltraud. Er schenkt sie seinen Jüngern. Wir müssen das verhindern. Wir müssen herausfinden, wer dahintersteckt. Und seine Absichten vereiteln.«

»Ich … verstehe.« Natürlich verstand sie das. Aber weshalb sollte ausgerechnet sie das Medium sein? Warum nicht Katharina? Die wollte es doch.

Walburga stand auf und trat um den Tisch herum auf sie zu. »Hiltraud, das ist eine Ehre für dich. Es gibt keinen anderen Weg. Du musst bereit dazu sein, alles dafür zu tun. Alles. Hörst du?«

»Aber was, wenn ich versage?« Hiltraud schlug die Hände vors Gesicht.

»Wenn du keine Antwort erhältst, wird niemand von uns sie erhalten. Gott hat dich erwählt.« Die Stimme der Mutter Oberin klang unerwartet sanft. Hiltraud glaubte schon, Walburga würde gleich tröstend die Hand auf ihre Schulter legen. »Und nun geh! Verbanne deine Zweifel!«

Hiltraud biss die Zähne zusammen und stand auf. Um Gleichmut bemüht, verbeugte sie sich. »Ich danke Euch, Ehrwürdige Mutter.«

»Geh mit Gott!« Walburga senkte leicht den Kopf.

 

***

 

Draußen auf dem Korridor blieb Hiltraud einen Moment stehen, bis sich ihre Beine wie von selbst wieder in Bewegung setzten und ihre Schritte zum Wandelgang lenkten, wo sich in einer Nische das Standbild des Erzengels Michael befand. Vor der Statue kniete sie nieder. Ihr Atem stand als weiße Wolke vor ihrem Mund. Es war kalt, doch sie fror nicht. Hier fror sie nie.

Ihr Blick glitt über die vertrauten Konturen, das ebenmäßige, schöne Männergesicht mit der aristokratischen Nase, dem sinnlichen Mund und den fein geschwungenen Augenbrauen, das von kinnlangen, sauber gekämmten Haaren umrahmt wurde. Der Oberkörper, der unter dem losen Gewand sichtbar war, glich dem eines athletischen Kämpfers. Die Rechte mit der Lanze war erhoben zum Stoß, die Schwingen des Engels halb ausgebreitet. Wenn Hiltraud schon keinen Mann an ihrer Seite haben konnte, dann war es diese Statue, der sie sich am meisten verbunden fühlte.

Hilf mir, Erzengel Michael! Hilf mir, meinen Widersachern zu widerstehen, betete sie stumm. Ich bitte dich, steh mir bei in der Stunde meiner Not.

Sie wusste nicht, wie lange sie so kniete und betete. Ihre Beine wurden steif vor Kälte, aber ihr Herz wurde leicht und froh. Bis sich Schritte näherten.

»Du hast es gewusst!« Eifersucht schwang in der weiblichen Stimme. »Gib es zu!« Katharina baute sich vor ihr auf und versperrte Hiltraud so die Sicht auf die Engelsstatue. Ihr rundes, sonst so hübsches Gesicht war verzerrt vor Wut.

Mit steifen Beinen stand Hiltraud auf. Es hatte keinen Sinn, Katharina gegenüber den Anschein zu erwecken, dass sie noch betete. Auch wenn es ihr schwerfiel, die Zweisamkeit mit dem Engel aufzugeben. »Nein, Katharina. Ich wusste nicht, dass mich die Mutter Oberin als Medium für die Thomasnacht vorgesehen hat.«

»Ach? Aber du weißt sofort, worüber ich rede!« Mit gefährlich glitzernden Augen stemmte Katharina die Fäuste in die Hüften. Ihre Stimme gellte unangenehm schrill im Wandelgang wider.

»Du solltest leiser sprechen. Die Vesperglocke hat bereits die Schweigestunde eingeläutet«, flüsterte Hiltraud.

»Glaubst du etwa, du kannst mir den Mund verbieten?«

Instinktiv sah sich Hiltraud bei den lauten Worten um und legte dann den Zeigefinger an die Lippen. »Still!«

»Wieso du?«

Hiltraud hörte erneut sich nähernde Schritte und schüttelte stumm den Kopf.

Im nächsten Moment war Schwester Pia heran. Ein funkelnder Blick traf die beiden Nonnen. »Wer hat hier so laut gesprochen?«

Katharina war aschfahl geworden. Schlagartig wurde Hiltraud klar, dass man Katharina von der Fahrt zum Donnersberg ausschließen würde, wenn sie sich jetzt einer Verfehlung schuldig machte.

»Ich«, antwortete sie leise, bevor Katharina etwas sagen konnte.

Diese starrte sie mit offenem Mund an.

Pias Miene wurde eisig. »Nun, dann finde dich morgen eine Stunde vor dem Wecken zum Bußgang ein.« Ohne die beiden Mädchen eines weiteren Blickes zu würdigen, schritt die Nonne davon.

 

Dezember 1621

Aymard zog sich das Kaskett in die Stirn, weil ihm der eisige Wind Schneeregen ins Gesicht blies. Der kurze Ritt von Herren-Flersheim nach Wormitia wurde durch das Wetter zur Tortur. Er fror erbärmlich, trotz des dicken Schoßrocks, den er über seinem Kürass trug.

Zudem hatte er in den letzten Tagen schlecht geschlafen. In der Dunkelheit hinter seinen Lidern schien etwas zu lauern, das ihn ängstigte. Selbst Gebete halfen nicht dagegen. Vielleicht tat es ja ein Gespräch mit seinem Bruder Domitian, selbst wenn sie sich dabei stritten. Früher hatte die Anwesenheit des älteren Bruders genügt, um alle Ängste zu vertreiben.

Im Halbdunkel der hereinbrechenden Dämmerung konnte Aymard einige Lagerfeuer vor einer riesigen Schar von Zelten ausmachen. Das Heer der katholischen Liga.

Besser, er umritt es in großem Bogen, bevor ihm irgendjemand dumme Fragen stellte oder gar für einen feindlichen Spion hielt. Auch wenn sein Ritt dadurch länger wurde. Doch die Männer dort hatten wahrlich mehr Grund als er, sich über das Wetter zu beklagen.

Was Domitian wohl zu seiner Entscheidung sagen würde? Aber wahrscheinlich machte sich Aymard zu viele Sorgen. Weshalb sollte sein Bruder es nicht verstehen, dass er sich als Ordonanz dem Kriegsrat von Kaiser Ferdinand II. anschließen wollte? Immerhin hatte der Hofkriegsrat von Stadion nach ihm gerufen. Das glich ebenso einer Auszeichnung, als wenn der Bischof von Wormitia Domitian um Rat anging. Aymard war ein Ritterbruder. Der Kampf war sein Leben. Das musste auch sein gestrenger und gläubiger Bruder einsehen.

Und wenn er es nicht einsah? Wenn er Aymard einmal mehr überreden wollte, ihm weiterhin als Leibwache bei seinen Hexenverfolgungen zu dienen? Nun, der Bischof hatte nicht nur Soldaten, sondern auch Kommandanten. Von Gilsa zum Beispiel würde mit Freuden Aymards Platz einnehmen und die Soldaten des Bischofs gegen die Hexen führen. Sein Platz war anderswo.

Wieder richtete er den Blick auf die Lagerfeuer und Zelte, die er hinter sich zur Linken noch von fern erkennen konnte.

Dort war sein Platz. Es war an der Zeit, dass er für seinen Glauben kämpfte. Und zwar Mann gegen Mann, anstatt gegen schwache Weiber ins Feld zu ziehen. Das konnten andere tun – wie von Gilsa.

Der Hund.

 

***

 

Die Mauern der Stadt kamen endlich in Sicht. Aymard trieb sein Pferd an. Die braune Stute gehorchte willig. Auch sie wollte schnell ins Warme und kannte den Weg von Herren-Flersheim nach Wormitia gut genug, und sie wusste, dass am Ziel ein Stall und Heu auf sie warteten.

Das Schneetreiben war inzwischen so dicht, dass Aymard kaum das Tor ausmachen konnte, das in den Bischofshof führte.

»Halt! Wer da?«, rief eine der Wachen und hielt Aymard die Lanze in den Weg.

Seufzend nahm Aymard das Kaskett ab. »Ritterbruder Aymard von Stauff, von der Kommende in Herren-Flersheim. Ich will zu meinem Bruder Domitian.«

Sofort zuckte die Lanze zurück. »Verzeihung, der Herr. Ich habe Euch im Dunkel nicht erkannt.«

Aymard zwang sich zu einem Lächeln, während er keuchend vom Pferd stieg. Eine Dampfwolke hing vor seinem Mund. »Du hast recht getan.« Er nickte dem Mann noch einmal zu, bevor er das Pferd am Zügel durch das Tor führte.

Insgeheim leistete er dem Mann Abbitte. Aymard lehnte den modischen Firlefanz mit den weiten Pluderhosen ab, allerdings war er dadurch nicht gleich als Offizier zu erkennen. Auch sein Spitzenkragen war klein, nicht so ausladend, wie es in Mode war. Nur die Stulpenstiefel liebte er.

Der Hof des Bischofs versank im Matsch. Aymards Hände waren so kalt, dass sie schmerzten. Er führte die Stute zum Stall, wo einer der Pferdeknechte sie sofort eilfertig entgegennahm.

»Reib sie gut trocken«, wies er den Jungen an und blies in seine froststarren Hände, um sie zu wärmen. »Damit sie nicht krank wird. Und gib ihr was zu fressen.« Mit eisigen Fingern schnallte er die Satteltaschen vom Rücken des Pferds, legte sie sich über die Schulter und klopfte der Stute noch einmal zum Abschied auf den Hals. »Hier«, sagte er noch und reichte dem Jungen eine Kupfermünze.

Das Gesicht des Pferdeknechts strahlte. »Danke, Herr. Ich werde mich gut um sie kümmern, dessen könnt Ihr versichert sein.« Eilig drehte er sich um und rempelte dabei einen Mann an, der an ihm hatte vorbeihasten wollen.

»Dummkopf!«, herrschte dieser den Knecht an. »Kannst du nicht aufpassen?« Der Handrücken klatschte in das Gesicht des Pferdeknechts.

Im Reflex packte Aymard den Mann am Oberarm und riss ihn herum. »Das war überflüssig!«

»Der Wicht hat mich fast umgeworfen. Ich erwarte, dass er sich bei mir entschuldigt.« Der Mann riss sich wutentbrannt von Aymard los.

Jetzt erkannte Aymard das finstere Gesicht unter den dunklen Haaren. Von Gilsa. Wer sonst. »Ihr seid in ihn hineingelaufen, so kam es mir vor. Ich glaube, Ihr vergeht Euch an einem Unschuldigen.«

»Natürlich! Von Stauff. Ihr solltet Euch besser daran erinnern, wo Ihr seid, bevor Ihr so anmaßende Reden schwingt.« Von Gilsas Rechte legte sich auf den Knauf seiner Waffe. Seine Pluderhose war lächerlich weit und hinderte ihn mit ziemlicher Sicherheit am Fechten.

»Auf Gottes freier Erde?« Aymard sah den anderen lächelnd an.

Von Gilsa trat einen Schritt auf ihn zu, während der Pferdeknecht mit der Stute Richtung Stall zurückwich. Von Gilsas Zeigefinger stieß vor und deutete wie eine Dolchklinge auf Aymards Brust. »Wagt es nicht, mich zu provozieren!«

Mit einer lässigen Handbewegung wischte Aymard von Gilsas Hand beiseite. »Sonst was?«, fragte er. »Wollt Ihr mir etwa drohen?«

Von Gilsas dunkle Augen funkelten vor unterdrücktem Zorn. »O nein, von Stauff. Euch warnen! Und Ihr solltet meine Warnung ernst nehmen.« Mit diesen Worten kehrte er Aymard den Rücken und stolzierte davon.

»Herr«, wagte es der Pferdeknecht zu sagen, »es tut mir leid. Ich …«

Aymard schüttelte den Kopf. »Das hatte nichts mit dir zu tun, Junge. Kümmere dich um das Pferd. Ich werde über Nacht hierbleiben.«

»Ja, Herr.« Der Junge deutete eine Verbeugung an und zog das Pferd zum Stall. Er war sichtlich froh, dass es seinetwegen nicht zu einem heftigeren Streit gekommen war.

***

Kopfschüttelnd schlug Aymard den Weg zu den Privatgemächern des Bischofs ein. Immer wieder musste sich von Gilsa mit ihm anlegen. Obwohl … diesmal war es Aymard gewesen, der von Gilsa angegangen war. Aber hätte er tatenlos zusehen sollen, wie dieser den armen Pferdeknecht womöglich noch einmal schlug?

Seufzend stieg Aymard eine Treppe empor. Die Stufen knarrten unter seinen Schritten. Schließlich erreichte er eine Tür und klopfte zweimal an. Ohne eine Antwort abzuwarten, trat er ein.

Feuerschein empfing ihn. Gegenüber dem brennenden Kamin saß Domitian über ein Schriftstück gebeugt hinter einem Tisch, der das Zimmer dominierte.

»Was soll das?« Mit ärgerlich zusammengezogenen Augenbrauen hob Domitian den Kopf. Eine rotblonde Tonsur krönte die strengen, fast hageren Züge. Als der Mann in der Priesterkutte den Ankömmling erkannte, wandelte sich seine Miene schlagartig. »Aymard!« Mit einem freundlichen Lächeln legte er die Feder beiseite und stand auf. »Komm herein!«

Aymard war der Aufforderung bereits nachgekommen und zog die Tür hinter sich zu. Mit zwei Schritten war er bei Domitian.

Der fasste nach den Händen seines Besuchers. Im nächsten Augenblick umarmten sie sich herzlich. Wie stets kam sich Aymard in den Armen des älteren Bruders klein vor.

»Du bist ja eiskalt«, sagte Domitian und entließ Aymard aus seiner Umarmung. »Zieh den Mantel aus und setz dich ans Feuer, sonst holst du dir noch den Tod.«

Aymard wischte sich die laufende Nase am Ärmel ab. Ohne Umschweife hängte er den Schoßrock an einen Haken, zog sich einen Stuhl neben das Feuer und setzte sich darauf, um sodann Füße und Hände nach den Flammen zu strecken. Nur langsam kroch die Wärme in seine Glieder. Der Kürass trug dazu nicht unwesentlich bei. Aymard zitterte.

»Um mich musst du dir keine Sorgen machen«, sagte er. »Aber die Männer des Heerzugs, die nahe Wormitia lagern, werden frieren. Denen sollte dein Mitgefühl gelten.«

Mit einem Seufzen zog er das Kaskett ab und ließ es achtlos neben dem Stuhl zu Boden fallen. Wie stets lockten sich seine kinnlangen Haare in der Feuchtigkeit. Im Schein des Feuers wirkten sie noch röter als sonst.

Eine Glocke tönte fern, als Domitian einen Klingelzug betätigte. »Du willst doch nicht etwa diesen unsinnigen Heerzug befürworten?«

»Sollen wir etwa ruhig dabei zusehen, wie diese Protestanten unsere Dörfer und Städte bedrohen?«

In Aymards Zehen begann es zu kribbeln. Eine Schlammlache bildete sich unter seinen breitkrempigen Stiefeln. Um die Kälte zu vertreiben, begann er, den Kürass zu lösen.

»Davon habe ich nichts gesagt. Aber genug davon. Lass uns von angenehmeren Dingen reden.« Domitian trat neben Aymard und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Wie geht es dir?«

»Gut. Danke der Nachfrage.«

Das war der passende Moment, um zu erklären, dass er Flersheim verlassen wollte, begriff Aymard. Aber allein die Hand Domitians auf seiner Schulter machte aus ihm wieder den kleinen Jungen, der zu dem größeren und älteren Bruder aufsah, der um so vieles klüger war als er.

Domitian zerzauste Aymard das feuchte Haar. »Ich habe Neuigkeiten für dich. Gute Neuigkeiten. Von Greiffenclau hat mich mit einer Mission von höchster Wichtigkeit betraut. Ich wollte deswegen nach dir schicken. Aber wie es scheint, hat Gott von ganz allein deine Schritte zu mir gelenkt.«

Der Bischof. Aymard verspürte einen winzigen Stich der Eifersucht. Er wusste, wie lächerlich das war. Der Bischof war schließlich Domitians Herr. Greiffenclau hatte Domitian zu seiner rechten Hand gemacht. Er sollte stolz auf den Erfolg seines Bruders sein. So stolz, wie Domitian sein musste, wenn er erfuhr, dass von Stadion ihn als Ordonnanz abberufen wollte.

Aymard räusperte sich. »Auch ich wollte dir etwas sagen …«

Ein Klopfen an der Tür unterbrach ihn.

Domitian wandte sich herum und rief: »Herein!«

Eine Dienstmagd trat ein und machte einen artigen Knicks. »Der Herr hat geläutet.«

»Bring uns etwas angewärmten Würzwein.« An Aymard gewandt, fragte Domitian: »Hast du Hunger?« Bevor Aymard reagieren konnte, trug er der Dienstmagd auf: »Bring etwas kalten Braten, Käse und Brot und von der Pastete, falls noch etwas übrig ist. Und natürlich von der weißen Torte.«

»Wie der Herr wünschen.«

Die Magd knickste noch einmal und war verschwunden, bevor Aymard die Essensbestellung rückgängig machen konnte.

»Das war nicht nötig, Domitian. Ich habe keinen Hunger.«

»Ein junger Mann muss immer gut genährt werden«, widersprach Domitian. »Und da ich dich um etwas bitten will, ist es nur recht und billig, wenn ich mich vorher wohlwollend zeige.«

»Ich …«

Domitian schien entschlossen, seinen Bruder nicht zu Wort kommen zu lassen. »Kommen wir zurück auf das, was ich dir erzählen wollte.« Bei den Worten lehnte er sich an den Kamin. »Wir haben Kunde, dass jemand einen Spielmann für den Dienstag in einer Woche nach Tannenfels bestellt hat. Kannst du mir folgen?«

Mit einem Seufzen ließ sich Aymard in dem Stuhl zurücksinken. »Klär mich auf!«

»Nun, sag mir doch, welcher Tag am Dienstag in einer Woche ist.«

Aymard streckte die Hände wieder zum Feuer hin. »Lass mich nachdenken … der einundzwanzigste Dezember.«

»Thomastag. Die erste Rauhnacht. Samhain.«

»Ein Hexensabbat?« Oh, bitte nicht, dachte Aymard.

Ein zufriedenes Lächeln breitete sich auf Domitians Gesicht aus. »Richtig. Und wir sind darauf vorbereitet. Dieses Mal werden wir sie endlich fassen. Mit deiner Hilfe.«

»Domitian, ich …« Gott im Himmel, wie sollte er Domitian sagen, dass …

Wieder klopfte es an der Tür.

Ohne Aymards Einwand zu beachten, trat Domitian zur Tür und öffnete sie. Wie erwartet stand die Magd davor. Sie knickste.

»Der Wein und das Essen, Herr.« Sie trug einen Krug mit dampfender Flüssigkeit und zwei Becher. Eine weitere Frau hinter ihr balancierte ein vollbeladenes Tablett auf ihren Händen.

»Stellt es auf den Tisch«, wies Domitian sie an.

Die beiden Frauen gehorchten und zogen sich dann mit einem Knicks zurück.

Domitian schenkte den Wein in die beiden Becher und reichte einen Aymard. »Auf unsere erfolgreiche Jagd!«

Aymard ließ den Becher sinken. »Domitian, bitte! Ich muss dir etwas erzählen! Von Stadion …«

»Der Hofkriegsrat?« Auf einmal wirkte Domitian irritiert. »Was ist mit ihm? Will er nun tatsächlich auch noch bei diesem unseligen Heerzug mitmachen?«

»Domitian, wir müssen! Wir sind Deutschordensritter. Wir müssen Flagge bekennen und endlich eingreifen.«

»Tut von Stadion das nicht genügend, indem er sich in den Kriegsrat des Königs aufnehmen ließ? Genug, genug!« Domitian schüttelte den Kopf und hob seinen Becher. »Stoß mit mir an! Ich will mich nicht mit dir über Ordenspolitik streiten.«

»Aber …« Aymard holte tief Luft. »Domitian, ich finde, dass es richtig ist, was er tut. Wir … ich …«

»Du unterstützt ihn doch nicht etwa? Vertrau mir! Bleib in meinem Fahrwasser, und ich werde dafür sorgen, dass du Karriere machst. Wir haben Großes vor. Und du sollst dazugehören.« Domitian lächelte. »Ich kümmere mich schon um meinen kleinen Bruder.«

Wir. Damit meinte er unzweifelhaft sich und den Bischof. Wieder quälte Aymard dieser feine Stich der Eifersucht. »Ich weiß«, sagte Aymard leise.

Domitian stieß seinen Becher gegen den von Aymard. »Auf dein Wohl, Bruder. Und auf das von uns allen.«

Widerspruchslos ließ Aymard es geschehen. Wir. Das Wort peinigte ihn. »Wann soll es losgehen?«

»In ein paar Tagen. Wir müssen noch einige Dinge klären. Aber ich verspreche dir, dass wir dieses Mal erfolgreich zurückkehren werden. Und nicht mit leeren Händen wie die vorherigen Male.«

Vorsichtig nippte Aymard an dem Wein. Er war besser, als er erwartet hatte. Unzweifelhaft aus dem Keller des Bischofs. Sein Blick fiel auf das einladende Tablett. Die weiße Torte sah frisch und saftig aus. Aymard wusste, dass sein Bruder seine Schwäche für Quarktorte kannte.

»Nimm«, sagte Domitian, der seinen Blick bemerkt zu haben schien.

Seufzend griff Aymard nach einem Stück weißer Torte. Der sahnige Geschmack nach Quark und Ingwer füllte seinen Mund.

»Die Formalien erledige ich. Kann ich auf dich zählen?«, fragte ihn Domitian.

Aymard dachte noch einmal an das Heerlager und von Stadion, aber er wusste nicht, wie er Domitians Bitte ablehnen sollte. Er wusste nie, wie er die Bitten seines Bruders ablehnen sollte. »Natürlich.«

»Und nun erzähl! Weshalb bist du hier?« Domitian ließ sich in den Stuhl neben Aymard sinken, den Becher in der Hand.

Aymard biss erneut in die Quarktorte. »Um endlich wieder weiße Torte essen zu können«, sagte er. »Was sonst?«

 

21. Dezember 1621

Hiltraud war froh, endlich wieder im Warmen zu sein. Auf dem ganzen Weg nach Tannenfels hatte es geschneit, als wollte der Herrgott selbst ihre Spuren verwischen. Zwar hatte Hiltraud mit einigen anderen Nonnen im Karren gesessen, den der Esel zog, gelenkt vom alten Jonas. Aber auch die Nähe der anderen Frauen hatte die Kälte nicht aus ihren Gliedern vertreiben können.

Nun wandte sie sich dem Feuer im Kamin zu, um sich die Hände zu wärmen. Mit Grauen dachte sie an den Moment, da sie den heimeligen Ort wieder verlassen mussten. Das Bäuerinnengewand, das sie zur Tarnung trug, war ihr immer noch fremd. Gut, dass sie die einfache weiße Haube tragen konnte, denn ohne sie wäre sie sich nackt und bloß vorgekommen.

Elisabeth, die zusammen mit ihrer Schwester Cäcilia und deren Mann Karl in dem kleinen Haus lebte, lächelte ihr zu und drängte sich neben Hiltraud zum Feuer, um den Deckel von dem Kessel zu nehmen, der darüber hing. Der Geruch würziger Brühe füllte mit einem Mal den Raum.

Hiltrauds Magen knurrte vernehmlich.

Ein Lachen entrang sich Elisabeth. »Darf ich Euch von der Suppe anbieten? Ich habe mir schon gedacht, dass ihr alle bestimmt hungrig und durchgefroren sein werdet, wenn ihr hier ankommt.«

»Danke. Gerne.« Scheu lächelte Hiltraud zurück.

Schon holte Elisabeth Näpfe, füllte sie und reichte sie herum. Die Mutter Oberin erhielt natürlich den ersten, den zweiten bekam der alte Jonas. Erst der dritte wanderte in Hiltrauds Hände, die sich dem Inhalt dankbar widmete. Katharina mied immer noch Hiltrauds Blick, selbst als diese ihr die Suppe reichte. Nach und nach wurde jeder der Anwesenden bedacht. Stille kehrte ein, die sich nach und nach mit Essensgeräuschen füllte. Unauffällig sah Hiltraud sich um.

Das Haus war klein und einfach, aber reinlich. Die fünf Nonnen wirkten trotz ihrer Bäuerinnengewandung fehl am Platze. Nur die Mutter Oberin strahlte immer noch Würde und Autorität aus. Ganz anders als Elisabeth, deren Rundungen pure Lebensfreude verströmten, während sich ihre Schwester Cäcilia stumm im Hintergrund hielt.

Die Tür klappte, und Karl kam herein, Cäcilias Mann, der den Esel und den Karren im Stall verstaut hatte. Seine Statur glich im vom Schnee bedeckten Mantel einem Bären, und Hiltraud bestaunte erneut seine riesigen Pratzen, während er fröhlich den Schnee von sich klopfte. Unweigerlich fiel ihr Blick auf die große Axt neben der Tür, die ihn als Holzfäller auswies. Kein Beruf hätte besser zu ihm passen können.

Geräuschvoll widmete er sich dem Napf mit dem Eintopf, den Elisabeth ihm reichte, bevor sie sich endlich selbst etwas von der Suppe nahm. »Wollt ihr gleich weiter?«, fragte Karl zwischen Schlürfen und Schmatzen.

Die Mutter Oberin warf ihm einen missbilligenden Blick zu, nickte dann aber. »Der Schnee hat uns aufgehalten. Wir haben nicht mehr viel Zeit, und es ist noch eine gute Strecke Wegs.«

»Es muss ja heute sein. Verfluchter Schnee!«

Die Mutter Oberin zuckte bei Karls Worten merklich zusammen. »Wir sollten Gott dafür danken, dass er so willig unsere Spuren bedeckt. Wenn Ihr dann so freundlich wärt …«

»Einen Moment, Ehrwürdige Mutter.« Elisabeth stellte ihren Napf auf den Tisch. »Falls ich Eure Hilfe in Anspruch nehmen dürfte. Eine Frau im Dorf liegt in den Wehen. Das Kind hat sich nicht gedreht. Wie ich hörte, vermögt Ihr …«

»Wie lange?«

»Seit dem Morgen. Gegen Mittag verließen sie die Kräfte. Ich habe ihr etwas Tee gegeben, um die Wehen zu unterbinden, bis Ihr kommt. Ich hatte gehofft …«

Die Mutter Oberin stand auf und warf sich den Mantel über. »Führt mich zu ihr. Sobald wir zurück sind, machen wir uns auf den Weg.« Sie wartete kaum, bis Elisabeth bei ihr an der Tür anlangte, dann ging sie hinaus.

Elisabeth folgte ihr. »Es wird nicht lange dauern«, sagte diese noch. Danach war auch sie fort.

Hiltraud starrte auf die Tür. Erst nach einem Weilchen begriff sie, dass sie gern mitgegangen wäre. Sie hatte noch nie eine Geburt erlebt und konnte sich nicht vorstellen, was es Schöneres geben könnte, als bei der Geburt eines neuen Erdenbürgers dabei zu sein.

Danach warteten sie. Die Dunkelheit senkte sich auf die Hütte. Der alte Jonas hatte es sich neben dem Kamin bequem gemacht. Bald verriet lautes Schnarchen, dass er schlief. Auch die anderen beiden Nonnen dösten. Cäcilia und Katharina sammelten die Näpfe ein, und Hiltraud half ihnen dabei, sie zu säubern und wegzuräumen. Aber beide Frauen schienen nicht gewillt, sich mit ihr zu unterhalten.

Karl gab ein paar Geschichten aus seinem Leben als Holzfäller zum Besten. Da ihm aber niemand zuzuhören schien, verstummte er schließlich und lehnte schweigend neben Jonas am Kamin.

Hiltraud war fast froh, als die Tür wieder geöffnet wurde und die Mutter Oberin mit Elisabeth hereinkam.

»Es ist ein Mädchen«, verkündete Elisabeth mit strahlender Miene. Ihre Augen leuchteten. »Ein rundes, gesundes Mädchen. Was für ein Wonneproppen. Ach, Cäcilia! Du musst sie dir anschauen!«

»Eilt Euch!«, unterbrach die Oberin Elisabeth. »Die anderen werden schon da sein.«

Als habe sie nur darauf gewartet, stand Cäcilia auf. »Karl?«

Es war das erste Wort, das sie sprach.

Der Mann nickte und stand ebenfalls auf. Wie selbstverständlich zog er sich den Mantel an und griff nach der Axt. »Folgt mir!«

Niemand widersprach ihm.

 

***

 

Der Weg durch den nächtlichen Wald war unheimlich. Es schneite immer noch. Dicke Schneehauben bedeckten die Tannen. Karls große Gestalt glich mehr denn je einem Bären, wie er ihnen im Dunkel den Weg wies. Die Mutter Oberin, die hinter ihm ging, wirkte gegen ihn wie ein Zwerg.

Es ging steil bergan, immer im Zickzack, damit die Steigung überhaupt zu bewältigen war. Zwischen Tannen hindurch und an Felsen vorbei. Bis der Weg endlich ebener wurde, war Hiltraud völlig außer Atem. Die kalte Luft biss in ihre Lungen.

Vor einem Dickicht hielt Karl inne. »Hier ist es.«

Die Mutter Oberin trat neben ihn und hob die Hand. Es war, als würden die schneebedeckten Büsche beiseiteweichen. Eine Lücke war auf einmal entstanden, dort, wo die Oberin hinwies. Als wäre nichts geschehen, trat diese hindurch.

Elisabeth und die anderen Frauen folgten ihr. Als Letztes schloss sich Karl an.

Hiltraud hatte gewusst, wie mächtig die Mutter Oberin war. Aber das war mehr, als sie je erwartet hatte. Staunend sah sie sich um. Eine Lichtung öffnete sich hinter der Lücke im Gestrüpp, trotz des Schneefalls, der sie bis hierher begleitet hatte, beleuchtet von einem klaren Sternenhimmel. In der Mitte der Lichtung brannte ein Feuer. Etliche Frauen umstanden es, als warteten sie auf jemanden. Einige drehten sich um, als die Mutter Oberin sich näherte.

Eine Handvoll kam ihr entgegen. »Ehrwürdige Mutter«, sagte eine von ihnen und küsste Walburgas Hand. Drei andere folgten ihrem Beispiel. Nur eine der Frauen, ein altes Weib, beugte nicht ihr Haupt. Abwartend, nahezu hoheitsvoll sah sie die Mutter Oberin an.

»Verzeiht, dass wir nicht mit der Begrüßung und dem Aufnahmezeremoniell gewartet haben«, sagte die erste der Frauen.

Walburga nickte wohlwollend. »Schnee und eine Geburt hielten uns auf. Wir haben uns für unser spätes Erscheinen zu entschuldigen.«

»Da gibt es nichts zu entschuldigen«, erwiderte die andere Frau. »Ihr seid hier. Das ist alles, was zählt.«

»Sind wir sicher?« Walburgas Miene wurde ernst.

»Wir haben den Spielmann abbestellt. Es gibt Zeichen …«

Die Alte unterbrach die Sprecherin. »Wer ist es?«, fragte sie nur, während ihr Blick über Hiltraud und ihre Schwestern wanderte.

Ein leeres Gefühl breitete sich in Hiltrauds Magengegend aus.

Die Oberin drehte sich zu ihr um und winkte. »Hiltraud!«

Mit steifen Knien trat Hiltraud vor.

Begutachtende Blicke trafen sie. Die Alte runzelte die Stirn. »Und Ihr seid Euch sicher?«

Die Mutter Oberin nickte. »Absolut. Gott hat sie als Medium bestimmt.«

»Dann soll es so sein. Komm, Kind«, sagte die Alte. Ohne sich umzudrehen, schritt sie, für ihr Alter erstaunlich behände, zu einem Platz neben dem Feuer.

Hiltraud folgte ihr mit klopfendem Herzen.

»Knie dich hin, Kind. Und bete.« Die Alte deutete auf den Schnee neben dem Feuer.

Hiltrauds Blick irrte noch einmal zu den anderen und fand Katharina, die ihn voller Grimm erwiderte. Niemand schien es zu bemerken. Hiltraud fröstelte unwillkürlich.

»Gib mir dein Blut, Kind.« Die knochigen Finger griffen nach Hiltrauds rechter Hand.

Hiltraud erschauerte unter der Berührung. Sie widerstand dem Wunsch, der Alten ihre Hand zu entziehen. Reglos sah sie zu, wie diese ein schmales Messer zückte und mit der anderen Hand ihren Unterarm bloßlegte.

Ein Keuchen drang aus Hiltrauds Mund, als die Klinge ihre Haut berührte. Die Kälte schien bis in ihre Knochen zu schneiden. Blut quoll aus dem feinen Schnitt und tropfte von der glitzernden Klinge in den Schnee.

Wortlos entblößte die Alte nun ihren eigenen linken Unterarm und tat auch da einen Schnitt. »Videte!«, rief sie mit ihrer heiseren Altfrauenstimme. Den Unterarm mit dem hervorquellenden Blut gen Himmel gereckt, gab sie die Klinge an die nächste Frau weiter.

Eine nach der anderen machte es ihr gleich. Der Schnee unter den Füßen der Frauen färbte sich rot. Bis das Blut einer jeden anwesenden Hexe die Klinge und den Ritualplatz bedeckte.

Die Alte wischte mit den Fingern ihrer rechten Hand das Blut von der Klinge, dann berührte sie mit den Kuppen Hiltrauds Stirn und zeichnete ein Kreuz darauf. »Siehe unser Opfer, Herr, und erweise dich deiner Dienerinnen gnädig.«

Eine nach der anderen knieten die Frauen um das Feuer nieder. Im Chor sprachen sie die Worte der Alten nach.

Ein Schauer rann über Hiltrauds Rücken. Sie war die Falsche. Sie hatte dieses Vertrauen nicht verdient.

Als habe sie ihre Gedanken erraten, sah die Alte sie an. »Leere deine Gedanken, Kind. Lass von dir alles weltliche Streben.« Die knorrigen Finger berührten Hiltrauds Augenlider.

Gehorsam kniete Hiltraud nieder und schloss die Augen.

Die Finger der Alten verharrten. Wie eine riesige Spinne lastete ihre Hand auf Hiltrauds Kopf.

Hiltraud konnte ihr Atmen hören, das mit jedem Mal langsamer wurde. Und es war, als würde sie davon mitgezogen. Langsamer und tiefer. Hinab. Fort. Weit fort.

Bis sie schwebte. Einem Vogel gleich flog sie über den Platz. Sie sah sich selbst, sah die Alte, die neben ihr stand. Sah die Frauen, die um das Feuer knieten, im Gebet versammelt.

Sie fand Elisabeth in ihrer Nähe und die Mutter Oberin und dahinter Karl. Ein düsterer Wächter mit einer Axt. Und er war nicht der Einzige. Hiltraud entdeckte weitere Männer, die den Ritualkreis bewachten. Sieben an der Zahl. Jeder von ihnen war bewaffnet. Als erwarteten die Hexen einen Angriff.

Höher und höher wurde sie gezogen. Hinein in die Kälte zwischen den Sternen, die sie glitzernd umzingelten. Erstaunt wanderte ihr Blick wieder nach unten, und sie fand sich hoch über dem Donnersberg. Das Feuer mit den Hexen war nur noch ein rotgoldener Fleck im Weiß.

Hiltrauds Blick richtete sich nach Osten. Es war, als würde sie von einer fremden Macht angezogen, obwohl die Berührung sie zusammenzucken ließ, so fremd war sie.

Wie an einer Schnur gezogen, raste sie darauf zu. Sah Bäume und Häuser unter sich vorbeihuschen. Ortschaften und Wälder. Bis eine Stadt vor ihr auftauchte. Ein Dom beherrschte sie. Hiltraud erkannte ihn. Es war der Dom von Wormitia.

Daneben im Bischofspalast klaffte ein Loch. Schwarz und bedrohlich.

Hiltraud krümmte sich unwillkürlich zusammen.

Die Schwärze wurde auf sie aufmerksam. Streckte sich nach ihr. Glutrote Augen sahen sie an.

Ein Schrei löste sich aus Hiltrauds Kehle – und sie floh zurück. Doch die Schwärze folgte ihr, flutete über das Land und erreichte mit ihr den Ritualplatz. Als habe Hiltraud ihr den Weg gewiesen.

 

21. Dezember 1621

Aymard war froh darum, dass er die Beinplatten in Wormitia gelassen hatte. Der Kürass verströmte auch so schon genug Kälte, obwohl er ein dickes Wams darunter gezogen hatte. Er und Domitian hatten die Pferde zurückgelassen, um das letzte Stück Weg zum Ritualplatz zu Fuß zurückzulegen. Nicht nur, dass die Beinplatten hinderlich gewesen wären bei der steilen Kletterei den Berg hinauf durch Gestrüpp, Schneewehen und über glatten Fels. Sich anzuschleichen wäre damit schlicht unmöglich gewesen.

Domitian neben ihm hob keuchend die Hand. Immer noch wehte ihnen der Wind dicke Schneeflocken entgegen. Domitians Gesicht war gerötet von der Kälte. Seltsamerweise schien er genau zu wissen, wo ihr Ziel war. »Es ist nicht mehr weit.«

Mit einer Handbewegung bedeutete Aymard seinen Männern, innezuhalten. »Wo genau? Beschreib es mir!« Sein Atem ging zwar schneller, aber er fühlte sich immer noch frisch genug für einen Kampf. Selbst gegen gut bewaffnete Gegner statt gegen hilflose Frauen.

Domitians Blick irrte den Hang hinauf. »Hundert Schritt. Mehr nicht.« Er rang nach Atem. »Oben. Auf dem Gipfel.«

Aymard schätzte die Entfernung. Mit einem knappen Nicken holte er einen der Soldaten zu sich heran. »Noch hundert Schritt den Hang hinauf. Leise.«

Der Mann kehrte zu seinen Kameraden zurück.

Aymard musste nur winken, dann folgten ihm alle Soldaten weiter den Hang hinauf. Wieder fiel ihm der Eselkarren ein, der sie auf dem Weg hinter Kirchheim überholt hatte. Ein alter Mann und eine alte Frau hatten auf dem Kutschbock gesessen. Aymard wunderte sich immer noch, was die alten Leute mitten im Schneetreiben auf die Straße getrieben hatte. Ihre Spur hatte sich im Neuschnee verloren.

Endlich langten sie oben an. Aymard hob die Hand, um die Soldaten zum Halten zu bringen. Fragend sah er Domitian an.

Mit gerunzelter Stirn betrachtete dieser die Umgebung. Sein Blick blieb auf einem Gestrüpp zu ihrer Linken hängen. »Dort.«

Er wirkte so sicher, dass Aymard sich wunderte, woher der Bruder sein Wissen bezog. Er wollte schon danach fragen, als er sich daran erinnerte, wie Domitian am Fuße des Donnersbergs einen Tiegel herausgekramt und eine farblose Paste auf seine Stirn gestrichen hatte. Seitdem schien er blind den Weg zu kennen.

Domitian wusste offenbar nicht, dass er es bemerkt hatte. Vielmehr hatte Aymard den Eindruck gehabt, dass er es vor ihm hatte verheimlichen wollen. Das war Grund genug, sich unwohl zu fühlen. Er konnte sich nicht daran erinnern, dass sie jemals Geheimnisse voreinander gehabt hatten. Nicht dieser Art.

»Bist du dir sicher?«

Domitian nickte. »Innerhalb der Hecken dort.«

Aymard beschrieb mit der Rechten einen Kreis in der Luft und deutete auf das Gestrüpp. Das bedeutete »Ausschwärmen und das Gestrüpp umstellen«. Mehr bedurfte es nicht. Die Zeichen genügten, damit seine Männer wussten, was sie zu tun hatten.

Aus den Augenwinkeln beobachtete Aymard, wie die Soldaten ihre Position veränderten, um seinem Befehl nachzukommen. Der Tagesmarsch war ihnen anzumerken. Aber er hatte wenigstens für eine Mittagsrast mit ausreichend Verpflegung im Warmen gesorgt. Nicht nur, damit sie abends noch über genügend Kraft verfügten, sondern auch, weil er als seine Pflicht ansah, für sie zu sorgen.

Aymard sog tief die kalte, klare Luft ein und sah den Bruder an. »Was erwartet uns?«

Eine Spur von Irritation zeigte sich in Domitians Miene, in der sonst so viel Selbstbewusstsein zu lesen war. »Wieso fragst du mich das?«

»Weil ich glaube, dass du mehr weißt, als du mir zu sagen gewillt bist. Und das gefällt mir nicht. Verzeih mir, falls ich mich irre. Aber ich trage Verantwortung für diese Männer. Sie vertrauen mir. Wenn es also etwas gibt, das ich wissen sollte, wäre dies der Zeitpunkt, es mir zu sagen.«

»Wie kommst du darauf?«

Wieder dachte Aymard an die Paste. »Woher kanntest du den Weg?«

»Ein Spielmann hat ihn mir … Verzeih! Er hat ihn dem Bischof beschrieben. Daher kenne ich den Weg. Genügt dir das?«

Nein, hätte Aymard am liebsten gesagt. Aber das hieße, Domitian zu misstrauen, und das fiel ihm noch schwerer, als zu glauben, sein Bruder habe ihn belogen.

Nach einem Moment des Zögerns nickte Aymard. »Dann los. Du gibst das Zeichen.«

Obwohl Domitian bisher vorausgegangen war, übernahm nun Aymard die Führung. Vor der Hecke blieb er stehen. »Sieht nicht so aus, als kämen wir hier hindurch.«

Aber bevor er die Worte zu Ende flüstern konnte, hob Domitian die Hand, und lateinische Worte kamen ihm über die Lippen. Zu schnell und zu leise, als dass Aymard sie verstehen konnte. Doch vor Aymards staunenden Augen rückten die Büsche einen Spaltbreit auseinander.

»Wie …?« Aymards Stimme versagte.

»Komm!«, sagte Domitian.

Starr vor Schreck, blieb Aymard stehen.

Doch Domitian schritt weiter, durch die Lücke hindurch, hinter der sich eine Lichtung öffnete, über der sich ein sternenklarer Himmel spannte und in deren Mitte ein Feuer loderte.

Aymard blinzelte. Das musste ein Traum sein. Nein, das war Magie.

Eine Frauenstimme schrie hoch und gellend auf und kündigte ihr Kommen an wie eine Fanfare. Die Hexen, die um das Feuer gekniet hatten in einer ketzerischen Nachahmung der christlichen Eucharistiefeier, sprangen auf und folgten mit ihren Blicken dem Finger, der auf Aymard und Domitian wies.

»Angriff!«, schrie Aymard. Ohne darüber nachzudenken, stellte er sich schützend vor Domitian und zog den Degen. Zuerst dachte er, bei seinen Gegnern handele es sich nur um Frauen, dann aber sah er zwei Männer, die mit Sense und Axt auf ihn zustürmten.

»Zurück!« Die Frauenstimme war alt, aber befehlsgewohnt.

In den Hecken knackte und krachte es. Das mussten die Soldaten sein, die den Ritualplatz umstellt hatten. Einige der Hexen kreischten vor Angst.

»Fugite, milites!«, rief die Frauenstimme.

Im Reflex parierte Aymard die Sense, deren Schneideblatt auf ihn zusauste, und wich dem Axthieb aus.

Das Krachen und Knacken im Gestrüpp entfernte sich. Dazu gesellten sich die angsterfüllten Schreie der Soldaten. Die Alte hatte seinen Männern befohlen, zu fliehen, begriff Aymard.

»Du!« Eine Greisin löste sich aus dem Gewimmel und trat auf Domitian zu. Anklagend zeigte ihr Finger auf ihn. Ihre Stimme war alt und zittrig. Nicht die derjenigen, die so befehlsgewohnt geklungen hatte.

Aus den Augenwinkeln bemerkte Aymard, wie Domitian den geschützten Platz hinter seinem Rücken verließ, um der Alten entgegenzugehen. »Flagra, malefica!«, donnerte er.

Eine rundliche Frau mit langen blonden Zöpfen wollte sich ihnen in den Weg stellen. Aber eine andere Frau hielt sie fest. Das nutzte die Alte, um sich an ihr vorbeizudrängen.

»Consiste, Satanas!«

Als sie auf Domitian zeigte, brach der mit einem Keuchen in die Knie. Mit vor Schmerz verzerrtem Gesicht wollte er sich wieder auf die Beine kämpfen. Aber mit jedem Wort der Alten wurde er wieder zu Boden geworfen.

Hinter ihr öffnete eine andere Frau die Hecken, so dass die ersten Hexen bereits fliehen konnten. Eine befehlende Stimme lenkte sie dabei. Sie schien der Frau zu gehören, die ihnen den Rückzug ermöglicht hatte.

»Hört auf!«, schrie Aymard der Greisin entgegen. Ein Tritt von ihm schleuderte den Mann mit der Sense zu Boden, und mit dem Mut der Verzweiflung stürzte Aymard auf die Alte zu.

Da tauchten zwei weitere Männer neben ihr auf, und Aymard begriff auf einmal, dass er den Hexen und ihren Helfern alleine gegenüberstand. Und dass sie gut vorbereitet waren auf einen Angriff. Denn er sah weitere Bewaffnete, die den Rückzug deckten.

Instinktiv wehrte er zwei Angriffe ab. Blut spritzte, als einer der Männer mit einem Röcheln zu Boden sank, und in der Drehung fällte Aymard den anderen. »Hört auf!«, schrie er noch einmal.

Die Stimme der Alten wurde bedrohlich. Glich immer mehr dem Meckern einer Ziege. Nein, eines Ziegenbocks. Satanas persönlich.

Drei weitere Männer drängten auf ihn ein. Es war, als würde ihnen von der Buckligen Kraft zufließen. Hinter sich hörte Aymard Domitians Stöhnen. Da sah er den einzelnen Mann, der sich seitlich hinter seinen Bruder schlich. Er erkannte die Situation so klar, als könne er sie von oben in Ruhe studieren.

Sein Schlag fällte den mittleren der drei, mit der Rückhand parierte er. Die Sense streifte sein Bein. Er registrierte den Schmerz, ohne ihn wirklich zu spüren. Ließ den Degen vorschnellen, und die Klinge fand einen Körper. Weit aufgerissene Augen starrten ihn an, ehe ihr Blick brach. Sie gehörten einer rundlichen Frau mit blonden Zöpfen.

Die Frau, die sie zuvor festgehalten hatte, schrie auf. Aymard sah noch, wie sie neben der Leiche auf die Knie sank. Dann wirbelte er herum, sah wieder den Mann, der sich hinten an Domitian heranschlich und einen Speer auf dessen Rücken richtete. Ohne nachzudenken, griff Aymard den Mann an und entleibte ihn.

Jemand brüllte, tief und tierhaft. Aymard wirbelte herum, sah den Axthieb noch kommen, der ihm galt. Aber es war zu spät, um zu reagieren.

Die Axt traf ihn an der Hüfte. Aymard fühlte nichts. Nur Zorn und gelindes Staunen, dass er getroffen war. Das Bein unterhalb der Hüfte schien nicht mehr zu existieren. Im Reflex riss Aymard den Degen hoch und stieß die Klingenspitze in die Kehle des bärenhaften Mannes. Der fiel wie ein Sack Mehl und rührte sich nicht mehr.

Wie durch Nebel bemerkte Aymard den Mann mit der Sense, den er zu Beginn des Kampfes mit einem Tritt zu Boden geschickt hatte. Keuchend rappelte dieser sich auf und näherte sich Domitian, die Sense in beiden Händen.

Aymard erreichte ihn, bevor die Sense den Bruder berühren konnte, und trieb dem Mann den Degen in die Brust.

Nach Atem ringend, blieb er stehen. Um sich herum sah er nur Tod und Blut.

Vor ihm kniete Domitian im Schnee mit aschfahlem Gesicht. »Vade, malefica«, brüllte er.

Seine Worte wurden von einer Druckwelle begleitet. Wind blies in Aymards Gesicht. Er schwankte.

Eine Frauenstimme schrie hoch und gellend auf.

»Vade!«, brüllte Domitian erneut.

Aymard stürzte, als das Bein unter der Hüftwunde nachgab. Schmerz überschwemmte ihn.

Domitian richtete sich auf. Seine Augen schienen zu glühen, als würde in ihnen ein Feuer brennen. Beide Hände über Aymard hinweg auf die Alte gerichtet, brüllte er noch einmal: »Vade, Satana!«

Ein Sturm aus Schnee und kleinen Ästen begleitete seine Worte und beendete das Wehklagen der Frauen.

Dann fiel Aymard in bodenlose Schwärze.


2. Kapitel

Dezember 1621

Nur langsam klärte sich Hiltrauds Sicht. Taumelnd kam sie auf die Füße. Sie war allein.

Panik kroch in ihr hoch. Da traf sie ein Schlag im Rücken. Er war so hart, dass sie mit einem Keuchen wieder zu Boden stürzte. Sie roch Moder, kalte Nässe kroch in ihre Kleidung. Bevor sie sich aufrappeln konnte, packte jemand ihren Arm und drehte ihn ihr grob auf den Rücken.

»Hab ich dich, Hexe!« Die Stimme war heiser vor Anstrengung und Hass und unverkennbar männlich. Hiltraud erkannte sie sofort wieder. Sie gehörte dem Mann, der mittels Magie gegen die Oberhexe gekämpft hatte. »Steh auf!«

Entgegen den Worten riss Hiltrauds Peiniger ihren Arm noch etwas weiter nach oben, so dass sie keine Möglichkeit hatte, der Aufforderung nachzukommen.

Sie keuchte und versuchte, die Muskeln zu entspannen, um dem Griff keinen unnötigen Widerstand zu leisten.

»Steh auf!« Der Mann zerrte sie hoch.

Ein Stich fuhr durch Hiltrauds Schultergelenk. Sie biss sich auf die Lippen, um nicht aufzustöhnen, und kam taumelnd auf die Füße.

»Los!«

Der Mann hielt ihren Arm umklammert und lenkte sie über den Ritualplatz, der nun einem Schlachtfeld glich. Überall lagen die blutigen Leichen der Verteidiger mit teils verrenkten Gliedern.

Unwillkürlich sah sich Hiltraud nach Soldaten um. Da entdeckte sie im Schnee den reglosen Körper Elisabeths. Der tote Mann daneben musste Karl sein. Ihr Mörder lag unmittelbar neben ihnen. Blut bedeckte seine Hüfte knapp unterhalb des Kürasses.

Beim Anblick der Toten wurden Hiltrauds Augen feucht. Sie ballte die eine Hand zur Faust und blieb einen Herzschlag lang stehen, bis sie weiter vorangetrieben wurde. Blind vor Tränen, ließ sie sich zu dem Mann im Kürass lenken, neben dem sie auf die Knie gezwungen wurde.

»Hilf ihm!«, erklang es hinter ihr. »Ich weiß, dass du es kannst. Also lüg mir nichts vor.«

Hiltrauds Blick glitt über den Mann vor ihr. Er … lebte noch, aber er war schwer verwundet. Blut färbte seine linke Seite auf Höhe der Hüfte. Viel Blut. Viel zu viel Blut. Seine linke Hand lag auf der Wunde, die andere hielt immer noch die Waffe umklammert. Sein Atem ging schnell und flach, das Gesicht war aschfahl, die fuchsroten, kinnlangen Haare lockten sich in der Nässe.

An seiner Klinge klebte das Blut von Elisabeth und Karl.

Hiltraud hatte die Hände so fest geballt, dass sie schmerzten. »Nein.«

Der Mann hinter ihr kniete sich ebenfalls hin. Sein Atem streifte ihre Wange. Dann berührte die kalte Schneide eines Dolchs ihre Kehle. »Hilf ihm!«

»Warum tut Ihr es nicht selbst?«, keuchte Hiltraud.

Der Mann sog zischend die Luft ein. »Ich sage es kein drittes Mal. Rette ihn, oder du bist tot.«

Hiltraud schnaubte. »Wozu? Ihr werdet mich ohnehin töten.«

Brutal riss der Mann sie zu sich herum. »Du willst verhandeln?«

»Verhandeln?« Ein Lachen lauerte in Hiltrauds Kehle. »O nein. Lieber sterbe ich, als diesem … diesem Mörder zu helfen.«

Der Mann mahlte mit den Kiefern, so fest, dass Hiltraud das Knirschen seiner Zähne hörte.

»Na schön! Dann sorg dafür, dass er lebend nach Wormitia kommt, und ich lasse dich gehen. Heil und unversehrt.«

»Schwört es! Bei Gott!«

Der Mann keuchte. Eine Pause entstand, in der nur sein angestrengter Atem zu hören war.

»Domitian …«

Ein mühsames Flüstern war zu hören. In den Augenwinkeln konnte Hiltraud sehen, dass der Verwundete versuchte, den Kopf zu heben.

»Ich schwöre.« Die Stimme ihres Peinigers war heiser. »Ich schwöre dir bei Gott, dass ich dich laufenlasse, wenn Aymard Wormitia lebend erreicht.«

»Domitian …«, keuchte der Verletzte.

»Zufrieden?«, knurrte der Domitian Genannte. An den Verwundeten gewandt, fügte er hinzu: »Ich bin hier, Aymard. Ich bin hier. Alles wird gut. Bleib liegen.«

Der Verwundete entspannte sich und schloss die Augen. Langsam, Finger für Finger, löste sich seine Hand vom Griff des Degens.

»Dann lasst mich los!« Unwillig schüttelte Hiltraud die Hände ihres Peinigers ab.

Als sie sich umdrehte, erkannte sie, dass er eine Priesterkutte trug. Er hatte ein hageres Gesicht und eine rotblonde Tonsur. Die Ähnlichkeit mit dem Verwundeten war nicht zu übersehen.

Der Priester rückte von ihr ab, als sei er erleichtert darüber, endlich Abstand zwischen sich und sie bringen zu können. Den Blick auf Hiltraud gerichtet, rutschte er auf Knien zu dem Verwundeten und bettete dessen Kopf in seinem Schoß. Sanft strich er dem anderen Mann die nassen Haare aus dem Gesicht.

»Worauf wartest du?«, blaffte er in Hiltrauds Richtung.

Hiltraud beugte sich über den Verletzten … und erstarrte. Denn sie sah in das Gesicht des Erzengels Michael!

Ja, der junge Mann hatte die gleichen ebenmäßigen Gesichtszüge wie die Engelsstatue im Kloster, was durch seine wächserne Blässe noch betont wurde. Mit dem Unterschied, dass der marmorne Engel im Wandelgang des Klosters weder rotblonde Bartstoppeln noch Sommersprossen hatte.

Ein Zufall, mehr nicht, beschwichtigte sich Hiltraud. Dennoch ertappte sie sich dabei, dass sie erwartete, Marmor zu ertasten, als sie den Mann berührte. Doch ihre Finger fanden Haut und kalten Schweiß. Er war keine Statue, sondern ein Mensch aus Fleisch und Blut, der atmete und schwitzte und Schmerzen litt.

Sie untersuchte die Wunde an seiner linken Seite. Die schmal geschnittenen Beinlinge und das Hemd darunter waren nahezu auf zwei Handlängen aufgerissen. Blut strömte heraus. Hiltraud erkannte, dass ein Axthieb die Wunde geschlagen haben musste. Wahrscheinlich war das Karl gewesen.

»Gebt mir Euer Messer«, forderte sie den Priester auf.

Der schnaubte abfällig. »Für wie dumm hältst du mich?«

Hiltraud zuckte mit den Schultern. Ihr Blick streifte noch einmal das blasse Gesicht des Verwundeten. Dann erweiterte sie mit einem Ruck den vorhandenen Riss an der Kleidung. Der Verletzte stöhnte leise und warf den Kopf zur Seite. Sanft hielt der Priester ihn fest und sah Hiltraud finster an.

»Tu ihm noch einmal weh …«

»Dann gebt mir Euer Messer!« Hiltraud hielt ihm fordernd die offene Handfläche hin.

Nach kurzem Zögern legte der Priester tatsächlich das Messer hinein.

Hiltraud verbarg ihr Staunen und legte zügig die Wunde frei. Ein langer Riss klaffte in der Seite des jungen Mannes. Das Wundfieber war ihm sicher, sofern er nicht fachkundig versorgt wurde. Vordringlich galt es jedoch, die Blutung zu stoppen, sonst würde er binnen kurzem verbluten.

Hiltraud zögerte. Dieser Mann mochte wie ein Engel aussehen, doch er hatte Karl getötet und die arme Elisabeth und sechs weitere Männer. Er war ein Mörder, ein Schlächter. Er war es nicht im mindesten wert, gerettet zu werden.

»Domitian«, wisperte der Verletzte, »mir ist so kalt …«

»Alles wird gut.« Der Priester legte die Hand auf die Stirn des Jüngeren. »Ich bringe dich nach Wormitia. Der Leibarzt des Bischofs wird sich um dich kümmern. Dann wird alles wieder gut. Ich verspreche es dir, Aymard. Hörst du mich, Bruder?«

»Kalt …« Aymards Stimme war nur noch ein Hauch.

Der Priester sah auf, und Hiltraud erschrak über die Verzweiflung, die in seinen Augen lag.

»Hilf ihm!« Dieses Mal war es kein Befehl, sondern ein Flehen.

Wormitia. Natürlich! Der Priester arbeitete für Bischof von Greiffenclau.

Hiltrauds Blick irrte von dem Priester zu dem Verletzten. Da war genug Blut für das, was sie vorhatte. Warum zögerte sie noch? Aus welchem Grund sollte Gott ihr den Verwundeten geschickt haben – wenn nicht zu diesem Zweck?

Behutsam legte sie endlich die Hände auf die Wunde und ignorierte dabei das leichte Zucken des Verwundeten. Ihr Geist war selten klar.

Mit dem Entweichen des Atems schloss sie die Augen und horchte in sich hinein.

Gott. Hörst du mich?

Sie öffnete ihren Geist, stieß sich ab und stürzte in die Leere zwischen den Sternen. Wurde zum Funken in der Schwärze. Bis sie auf Licht stieß. Eine Flut aus Wärme, Geborgenheit und Liebe ergoss sich über sie. Sie fing sie ein, lenkte sie um und hinein in den Körper des Verwundeten. Durch die Augenlider hindurch konnte sie das Schimmern erkennen, das von ihren Händen in die Wunde sickerte. Sie lächelte. Als das Licht erlosch, öffnete sie wieder die Augen und atmete ein. Prüfend musterte sie den Verwundeten.

Sein Atem ging kräftiger, und ein Hauch von Farbe war in sein Gesicht zurückgekehrt. Er schien zu schlafen. Die Hand des Priesters lag auf seiner Schulter. Lauernd sah er sie an.

»Wir brauchen eine Trage für ihn«, sagte Hiltraud. Mit geschickten Fingern riss sie Streifen aus ihrem Unterrock und verband damit notdürftig die Wunde.

Der Priester streifte sich den Mantel ab, rollte ihn zusammen und bettete Aymards Kopf vorsichtig darauf, dann stand er auf. »Ich kümmere mich darum.« Er hielt Hiltraud die Hand hin.

Sie verstand und gab ihm das Messer zurück. Verwundert bemerkte sie, dass ihre Hände zitterten. Ihr Blick glitt zurück zu dem Verwundeten.

Warum nur glich er mehr denn je der Statue des Erzengels Michael?

 

21. Dezember 1621

Aymard fror – trotz des Mantels und der Decke, die auf ihm lagen. Die Kälte schien alles zu durchdringen. Seinen ganzen Körper bis zum letzten Knochen. Domitian hatte ihm den Kürass ausgezogen, und er lag auf einer Schlepptrage. Der verschneite Wald glitt an ihm vorbei. Schnee rieselte auf ihn nieder, wenn die Trage zu nah an einem Ast vorbeigezogen wurde. Jede Unebenheit des Bodens jagte einen Stich durch Aymards Seite, als wolle jemand einen glühenden Schürhaken hineinbohren. Er musste alle Willenskraft aufbieten, um nicht immer wieder laut zu stöhnen.

Warum nur ließen sie ihn nicht einfach liegen? Wieso hatte Gott ihn nicht zu sich gerufen, damit es endlich aufhörte? Hatte er nicht genug Grauen erleben müssen? Sein Bruder hatte Magie gewirkt. Er war des Satans. Wie sollte er das jemals vergessen?

Es ging bergab. So steil, dass sein Kopf tiefer lag als seine Beine. Plötzlich ging ein Ruck durch die Trage. Ein Fluch ertönte, und ein Stein schlug in Aymards Rücken. Mit dem Schlag kam der Schmerz, so unerwartet, dass nun doch ein lautes Stöhnen über seine Lippen brach. Schwärze überflutete ihn.

Er rutschte. Schnee stob in sein Gesicht. Äste schlugen gegen seinen Kopf, immer neue Schläge trafen seinen Rücken. Er fühlte heiße Tränen auf seinen Wangen, während seine Finger vergeblich nach einem Halt tasteten.

Unaufhaltsam ging die Fahrt weiter, und immer mehr Schnee häufte sich auf ihm, drang ein in seine Kleider, in seine Ohren, seine Nase und seinen Mund. Aus dem Schmerz wurde Angst und schließlich Panik. Er wollte schreien und um sich schlagen. Aber alles, was er zustande brachte, war ein klägliches Wimmern.

Bis die Fahrt abrupt endete. Er fühlte noch einen Schlag gegen den Kopf, Schmerz, der durch seinen gesamten Körper raste und ihn in die Schwärze stieß.

Aus der Schwärze wurde Kälte, die auf ihm lastete wie ein Leichentuch. Schnee füllte Nase und Mund und raubte ihm die Luft zum Atmen. Im Reflex wollte sich Aymard freistrampeln, aber er war zu schwach dazu, und mehr als ein Zucken seiner Glieder brachte er nicht zustande. Die Dunkelheit kam wieder heran.

Da schaufelte eine Hand endlich den Schnee von seinem Gesicht, hob seinen Kopf an und wischte Mund und Nase frei. Am ganzen Leibe zitternd, rang er nach Atem. Aus den keuchenden Atemzügen wurde ein Stöhnen.

»Scht«, machte der Jemand neben ihm. Die Stimme klang weiblich. Mehr Schnee wurde von ihm heruntergeschoben, bis der Jemand Aymards Oberkörper an seine Brust zog.

Aymard schlotterte vor Schwäche und Kälte. Tränen zogen heiße Spuren über sein Gesicht.

»Scht«, flüsterte die weibliche Stimme immer wieder, während er sich sanft gewiegt fühlte, »scht«. Sie schaffte es, dass das elende Zittern langsam nachließ.

Ein Keuchen drang wie durch Watte an seine Ohren.

»Wie geht es ihm?« Domitians Stimme. Eine Hand strich über Aymards Wange. »Aymard!«

Wider Willen riss Aymard beim Klang der vertrauten Stimme die Augen auf. Eine fremde Frau hielt ihn in den Armen, über ihm schwebte Domitians besorgtes Gesicht.

Während Aymard ihn noch verwirrt ansah, fühlte er, wie Domitian die Arme unter seine Schultern und Knie schob und ihn hochhob. Neuer Schmerz durchzuckte Aymards Körper, der ein Ächzen aus seinem Mund lockte. Erschöpft schloss er die Augen. Sein Kopf fiel gegen Domitians Schulter.

Ruhe. Er wollte nichts anderes als Ruhe. Endlich still liegen. Und sich der Dunkelheit ergeben.

»Ihr könnt ihn so nicht lange tragen«, sagte die Frau.

»Es ist nicht mehr weit bis nach Tannenfels.« Domitians Stimme klang heiser.

»Und Ihr glaubt tatsächlich, dass jemand Euch dort noch helfen wird, nach dem, was Ihr getan habt?«

»Ich bin Priester, Hexe!«, fauchte Domitian. »Wer vor mir die Tür zuschlägt, den wird Gott einst ebenfalls der Tür verweisen!«

»Wenn Ihr Euch dessen so sicher seid, dann kommt. Dort entlang.« Die weibliche Stimme entfernte sich.

»Wagt nicht zu fliehen, Hexe!« Der Schnee knirschte unter Domitians Schritten. Jeder jagte eine Welle schmerzhafter Erschütterungen durch Aymards Körper.

»Wir hatten eine Abmachung.«

»Und die ist noch nicht erfüllt, Hexe.«

Aymard fühlte sich mit jedem Schritt, den Domitian tat, entzweigerissen. Aus seinem angestrengten Atmen wurde ein Stöhnen. Er wunderte sich über die elenden Laute, die an sein Ohr drangen, bis er begriff, dass sie von ihm stammten. Die Dunkelheit kam näher, hüllte ihn endlich ein.

»Aymard!« Domitians Stimme schien von weit her zu kommen.

Dann nichts mehr.

 

***

 

Das Nächste, was er fühlte, war, dass ihn jemand auf einen trockenen Untergrund bettete. Von weit entfernt drang das Prasseln von Flammen an seine Ohren.

»Hol Er Hilfe«, bellte Domitian. »Und wehe, Er eilt sich nicht! Wenn mein Bruder stirbt, bevor Er mit Hilfe zurückkehrt, werde ich Seine Seele der Verdammnis anempfehlen. Das schwöre ich.«

»Ja, mein Herr. Nein, mein Herr«, winselte eine männliche Stimme.

»Hört auf«, mischte sich die Frau ein.

Doch Domitian donnerte: »Schweig!«

Danach herrschte Stille, die erst wieder gebrochen wurde, als jemand die Finger auf eine Seite von Aymards Hals legte. »Er lebt. Ich sagte es Euch doch. Er lebt. Er hat nur das Bewusstsein verloren.«

Aymard zwang seine Augen auf – und blickte in das Gesicht eines Engels mit schwarzen Haaren und eisgrauen Augen. Er blinzelte, aber der Engel blieb, bewegte sich und legte die Hand auf seine Stirn. Dann wurde er abrupt durch das Antlitz Domitians ersetzt.

»Wie geht es dir?«

Aymard mühte ein Lächeln auf seine Lippen und schloss erschöpft wieder die Augen.

»Vor den Kamin«, befahl die Frauenstimme. »Wir müssen ihn wärmen. Und dann lasst mich nach der Wunde sehen.«

Aymard fühlte sich getragen, die Welt schwankte und kam direkt neben einem brennenden Kamin wieder zur Ruhe. Der Untergrund war unerwartet weich.

»Zieht ihm die Stiefel aus und massiert seine Hände und Füße, bis sie warm sind.« Wieder die Frauenstimme. »Ich sehe derweil nach der Wunde.«

Seltsamerweise schien Domitian ihrem Befehl Folge zu leisten, Aymard fühlte, wie jemand ihm tatsächlich die Stiefel auszog. Gleichzeitig schälte ihn jemand aus den Decken und Mänteln. Ein Messer blitzte, und dann fühlte Aymard den kalten Hauch des Winters auf seiner nackten Haut.

Er begann sofort zu zittern. Im nächsten Augenblick durchschoss ein heißer Stich seine Seite. Tränen traten ihm in die Augen. Ein lautes Stöhnen entrang sich ihm, dann war da wieder die gnädige Finsternis, die ihn umhüllte.

 

***

 

Als er erneut erwachte, war die Kälte durch Wärme ersetzt worden. Sie durchdrang ihn von den Zehenspitzen bis zum Scheitel. Zurückgeblieben waren Durst und ein heißer, pochender Schmerz in seiner Seite. Mühsam öffnete er die Augen.

Feuerschein erhellte einen dunklen, kleinen Raum, dessen Wände aus Brettern bestanden und der nur eine Tür, ein einfaches Bett und einen Kamin aufwies. Auf dem Bett lag Domitian und schlief, während Aymard neben dem brennenden Kamin auf und unter etlichen Decken und Fellen ruhte. Er fühlte, dass er weder Stiefel noch Rüstung trug.

Eine Stimme drang durch das Knacken der Holzscheite und das Prasseln der Flammen an sein Ohr. Sie gehörte der Frau mit dem Gesicht eines Engels, die mit geschlossenen Augen neben ihm kniete und zu beten schien. Eine ihrer Hände lag dabei auf seiner Stirn und die andere auf seiner Brust über dem Herzen. Hitze ging von den Händen aus, gepaart mit einem seltsamen Kribbeln. Als würden Ameisen aus ihren Fingern krabbeln und sich in seine Haut graben.

Im Reflex wollte er die Hand heben, um die der Frau von sich zu wischen. Aber er war zu schwach, um auch nur einen Finger zu rühren. Er spürte, dass sich Schweiß auf seiner Stirn und seiner Brust sammelte.

Die Frau öffnete die Augen und sah ihn an. In ihrem Blick lagen Bedauern und Entschlossenheit.

»Silentium«, flüsterte sie. »Et audi! Meus es. Meus es. Meus es.«

Das Kribbeln, das von ihren Händen ausging, wurde zu einem Brennen, das seine Haut zu durchdringen schien, in sein Hirn und sein Herz fuhr, all sein Wollen und Streben auslöschte und durch etwas Neues ersetzte. Eine Glut, die in ihm loderte und ihn verzehrte.

Ein Laut wand sich über seine Lippen, halb Wimmern, halb Schluchzen. Er wollte sich wehren, sich regen, schreien, irgendetwas tun – allein nur dieser Laut verließ seinen Mund. Zu leise, um Domitian zu wecken. Starr vor Entsetzen, sah er die Frau an.

Sie beugte sich über ihn. Ihre Lippen berührten fast sein Ohr. Der heiße Atem bescherte ihm eine Gänsehaut.

»Geh nach Wormitia, ins Haus des Bischofs. Such nach dem Geheimnis seiner Macht. Such nach Beweisen der Intrige, die er plant, und finde die Namen seiner Helfer heraus. In der letzten Rauhnacht werde ich vor den Toren seines Palastes auf dich warten. Sprich zu niemandem darüber. Und achte darauf, dass niemand dein Tun bemerkt. Hast du mich verstanden?«

Die eisgrauen Augen fixierten ihn.

Wider Willen nickte er. Die Luft schien auf ihm zu lasten wie ein tonnenschweres Gebirge.

»Dann schwör es mir. Jetzt. Sprich mir nach: Tuus sum. Tibi obaudio. Tuus sum. Tibi obaudio. Tuus sum. Tibi obaudio.«

Er presste die Lippen aufeinander, um sich zu widersetzen. Schweiß benetzte vor Anstrengung sein Gesicht, und ihm wurde die Kehle eng, so dass er kaum noch Luft bekam. Bis seine Lippen sich gegen seinen Willen öffneten und seine Zunge die Worte formte.

»Tuus sum. Tibi obaudio.«

Die Schwere auf seiner Brust wich. Tränen rannen über seine Wangen.

Wieder beugte sich die Frau über ihn. »Wenn du nicht gehorchst, wird dein Herz verbrennen, während es noch in deiner Brust pocht, und deine Seele wird in die untersten Verliese der Hölle fahren. Hast du mich verstanden?«

Wieder nickte er.

Sie wischte mit einer Hand über sein Gesicht und nahm Schweiß und Tränen auf. Dann legte sie die Hand auf die andere, die rot war von seinem Blut, und rieb beide Hände aneinander, wieder und wieder. Danach malte sie mit zwei Fingern, die verschmiert waren von seinem Schweiß, seinen Tränen und seinem Blut, ein Kreuzzeichen über ihrer Stirn, ihren Lippen und über ihrem Herzen und tat es bei ihm gleich.

»Sancitum est.«

Die Kreuzzeichen schienen sich in Aymards Stirn, Lippen und Herz zu brennen. Er wollte schreien, Gott um Hilfe flehen. Aber kein Laut wollte sich aus seiner Kehle entringen.

Es war still. Nur die Scheite im Kamin knackten.

Alles in ihm strebte danach, Domitian zu wecken, damit dieser die Hexe erschlug und ihn so von ihrem Bann erlöste. Aber allein bei dem Gedanken schienen sich glühende Eisen in sein Fleisch zu brennen, an den drei von ihr gezeichneten Stellen seines Körpers. Er kämpfte gegen den fremden Willen und den Schmerz, gegen Schwäche und Ohnmacht an. Ballte die Hände zu Fäusten, während er versuchte, seine Stimme zurückzuerlangen. Tränen strömten ihm über die Wangen, ein heißer Stich durchbohrte erneut seine Seite, wurde zu einem warmen Strom aus Blut. Bis das Feuer sein Denken erreichte und es auslöschte.

Schweißnass erwachte er wieder. Ein frischer Verband lag um seinen Leib und ein nasses Tuch auf seiner Stirn. Als er zitternd die Lider aufschlug, fasste jemand danach und wischte ihm damit sanft den Schweiß und die Tränen vom Gesicht.

Der Engel beugte sich erneut über ihn. Das, was zuvor geschehen war, kam ihm auf einmal wie ein Alptraum vor.

Ein Alptraum, sicherlich! Der Kampf gegen die Hexen, die Magie, die der Bruder gewirkt hatte – all das war ein Alptraum gewesen. Ein Alptraum, aus dem er nur erwachen musste, damit alles wieder gut war. Wie sonst war das, was geschehen war, zu erklären?

»Hab keine Angst«, sagte der Engel. »Ich will dir nichts Böses. Nur habe ich keine Wahl. Das musst du mir glauben.«

Aymards Gaumen war wie ausgetrocknet.

»Wasser«, flüsterte er.

Wortlos holte sie eine Schale mit Wasser, hob seinen Kopf an und half ihm zu trinken. Danach ließ sie seinen Kopf vorsichtig wieder auf die Decken sinken. Er keuchte leise vor Anstrengung.

»Schlaf«, sagte sie und strich über seine Lider.

Er gehorchte. Doch während er wegdämmerte, wusste er, dass sie nicht mehr da sein würde, sobald er erwachte.

 

22. Dezember 1621

Mitleid. So groß, dass Hiltraud fast versucht war, zu bleiben. Er würde Wundfieber bekommen, wenn sie sich nicht weiter um ihn kümmerte.

Ihr Blick hing auf seinem blassen, schweißnassen Gesicht. Er hatte die Augen geschlossen. Sein Atem ging flach und schnell. Sie ertappte sich dabei, dass sie ihm über die Stirn streichen wollte.

Er hat Karl und Elisabeth getötet, erinnerte sie sich. Ihre Hand zuckte zurück. Langsam stand sie auf.

Hatte sie nicht einst geschworen, mit ihren Kräften stets ihren Mitmenschen zu helfen, wann immer das vonnöten war? Aber … das hatte sie doch getan. Sie hatte ihn gerettet, den Mörder Karls und Elisabeths.

Und ihn an sich gekettet. Die Mutter Oberin hatte ihr schließlich aufgetragen, jedes Mittel einzusetzen, um den Ort des Übels zu finden.

Der Priester seufzte im Schlaf und drehte sich auf die andere Seite.

Hiltraud zuckte zusammen. Dieser Domitian würde keine Zeit damit verschwenden, über ihre Schuld oder Unschuld zu spekulieren. Für ihn war sie eine Hexe, die auf dem Scheiterhaufen brennen musste. Und war das, was sie erlebt hatte, nicht schrecklich genug, dass sie jetzt noch zögern konnte?

Zeit zu gehen.

Auf Zehenspitzen huschte Hiltraud zur Tür. Ein letzter Blick traf den Verletzten. Sie hatte alles getan, was sie für ihn tun konnte.

Und einen Blutbann auf ihn gelegt.

Leise schloss Hiltraud hinter sich die Tür. Als könne sie damit die Schuld einsperren, die sie belastete.

 

***

 

Es schneite immer noch. Was, wenn hier noch irgendwo Soldaten lauerten? Sie musste die anderen erreichen, bevor diese ohne sie den Rückweg nach Spira antraten. Hiltraud begann zu laufen.

Sie folgte ihrem Gespür, zurück durch den nächtlichen Wald. Die Kälte biss in ihre Lungen, während sie über Wurzeln und Steine stolperte, die unter dem Schnee verborgen waren. Trotz der eisigen Kälte waren ihre Wangen erhitzt von der Anstrengung. Bis sie endlich innehielt.

Keuchend wirbelte Hiltraud im Schnee einmal um ihre Achse. Hier war der Treffpunkt. Sie war sich dessen sicher. Einen Tag, so hieß es, würde man dort auf Verirrte oder Versprengte warten. Im Dunkel der Nacht sah die verschneite Waldlichtung verlassen und unheimlich aus. Abgesehen von ihren eigenen Spuren, war die Schneedecke unberührt.

Unwillkürlich drehte sich Hiltraud um in jene Richtung, aus der sie gekommen war. Aber nichts regte sich in der Finsternis. Sie wagte trotzdem nicht zu rufen, aus Angst, Verfolger auf ihre Spur zu locken.

Plötzlich umfassten zwei Hände ihre Oberarme. »Ruhig!« Die Stimme war vertraut.

Hiltraud zuckte dennoch zusammen und wollte sich im ersten Reflex losreißen, aber dann klärte sich ihre Sicht. Die Mutter Oberin stand vor ihr. »Wo warst du so lange?«

»Er … der Priester … er hat mich niedergeschlagen … er wollte mich nach Wormitia bringen, aber … aber ich konnte fliehen … ich …«

Hiltraud wusste nicht mehr weiter und schlug die Hände vors Gesicht. Die durchstandene Angst ließ ihre Knie zittern.

»Komm«, sagte Mutter Walburga und nahm Hiltrauds Hand.

Sie machten nur einen Schritt. Auf einmal war das Schnauben eines Tiers zu vernehmen, und der Karren, der sie nach Tannenfels gebracht hatte, stand neben ihnen. Drei ihrer Mitschwestern saßen darauf, eine davon war Katharina. Der alte Jonas hielt den Esel am Zügel. »Es wird Zeit«, krächzte er.

Ohne eine Frage zu stellen, stieg Hiltraud auf und kauerte sich neben Katharina auf den Boden des Karrens, während sich Mutter Walburga zu Jonas auf den Bock setzte. Jonas schnalzte mit der Zunge, und der Karren setzte sich in Bewegung.

Hiltraud wusste, dass sie keine Spur hinterlassen würden; dafür sorgte die Mutter Oberin. Sie sprachen während der ganzen Fahrt kein Wort. Katharinas kalte Miene drückte Ablehnung aus. Aber auch die anderen schienen nicht mit Hiltraud reden zu wollen.

Wie ein Geist tauchte sein Gesicht im Dunkel der Nacht vor ihr auf. Schrecken und Entsetzen verzerrten die ebenmäßigen Züge zu einer Maske der Pein. So viel Angst und Schmerz.

Das hatte sie nicht gewollt. Sie hatte ihm nicht weh tun wollen. Nicht so! Aber das schmerzverzerrte Gesicht ließ sich nicht vertreiben. Sie sah Tränen aus seinen Augenwinkeln rinnen. Hörte den stummen Schrei, den sie in seiner Kehle erstickte.

Sie war ein Monster. Nicht er war der Schlächter, sondern sie war es.

Die Gedanken quälten sie die ganze Fahrt. Erst als es dämmerte, erreichten sie Spira. Niemand hatte ihren Weg gekreuzt, als hätte Gott behütend seine Hände über sie gehalten.

Wie erstarrt stierte Hiltraud in die beginnende Morgendämmerung. Das Geschaukel des Karrens verebbte. Erst als jemand sie am Arm berührte, bemerkte sie, dass sie allein im Karren saß. Sie befanden sich im Innenhof des Klosters. Mutter Walburga sah sie besorgt an. »Folge mir«, sagte sie nur.

Willenlos gehorchte Hiltraud. Im Schreibzimmer setzte sie sich auf einen Stuhl. Zwei dampfende Becher mit Tee wurden neben ihr auf ein Tischchen gestellt.

»Was ist passiert?«, fragte Mutter Walburga, die neben ihr stand. Der Schrecken und die Anstrengungen, die sie durchlitten hatte, waren ihr nicht anzumerken.

»Ich habe gesündigt.« Hiltrauds Worte waren nur ein Flüstern.

»Dann beichte mir.«

Hiltraud hob den Kopf. Die hellen Augen der Mutter Oberin fixierten sie. »Ihr habt gesagt, dass ich alles tun muss. Alles. Damit wir herausfinden, wer dahintersteckt.«

»Was hast du getan?« Die Stimme klang kühl.

»Ich … ich habe einen Bann gewirkt. Einen Blutbann.« Hiltraud fröstelte bei den Worten.

»Auf wen? Den Priester?«

Hiltraud schüttelte den Kopf. »Auf den Anführer der Soldaten. Den jungen Ritter. Ich glaube, er ist der Bruder des Priesters.«

»Und was hast du ihm aufgetragen?«

Weshalb rügte die Mutter Oberin sie nicht? Ein Blutbann war schwarze Magie. Sie hätte niemals …

»Was hast du ihm aufgetragen?«

»Dass … dass er nach dem Geheimnis der Macht des Bischofs suchen soll. Und dass er mich in der letzten Rauhnacht vor den Toren treffen soll.«

»Dass er schweigen soll?«

»Selbstverständlich.«

»Und vorsichtig sein soll?«

»Auch das.«

»Gut.« Mutter Walburga schien befriedigt und griff nach einem der Becher mit Tee.

»Aber … Ihr heißt es gut?« Hiltraud starrte sie an.

Die Mutter Oberin ließ sich langsam auf ihren Stuhl hinter dem Arbeitstisch nieder. »Gott verlangt Opfer von uns. Du hast ihm eines gebracht. Erweise dich seiner Gnade als würdig.«

»Opfer?«

Behutsam stellte die Mutter Oberin den Becher auf den Tisch. »Du hast dein Leben mit dem seinen verbunden. Wenn er leidet, wird es für dich das Fegefeuer sein. Wenn er deinetwegen stirbt, wirst du der Verdammnis anheimfallen. Welch größeres Opfer hättest du bringen können? Noch dazu, da er Satan dient.«

Langsam sickerte Begreifen in Hiltrauds Bewusstsein. »Aber ich dachte, es ist schwarze Magie …« Sicherlich rechtfertigte der Zweck nicht die Mittel.

»In dem Moment, in dem du dein Opfer vergisst und dich von ihm abwendest. In diesem Moment ist es schwarze Magie. Nur jemand, der leichtfertig einen Blutbann spricht, ohne das Leben dessen zu achten, den er an sich bindet, wird verdammt werden.«

»Ich verstehe.«

»Denk daran, den Bann zu lösen, sobald du diesen Mann nicht mehr brauchst.«

Den Bann lösen … Hiltraud glaubte zu fallen. »Wie?«, flüsterte sie mit erstickter Stimme.

»Mit der Löseformel, die du gewirkt hast.«

»Und … wenn es keine gibt?«

»Kann nur Gott allein euer beider Leben wieder trennen.«

Hiltraud starrte auf das Kreuz, das hinter der Mutter Oberin an der Wand hing.

»Du kannst gehen«, hörte sie die Oberin.

»Aber …«

»Gibt es noch irgendetwas, was du mir sagen möchtest?«

»Aber dann muss ich in der letzten Rauhnacht nach Wormitia. Er wird auf mich warten. Ich muss doch den Bann lösen. Wer weiß, was passiert, wenn er umsonst auf mich wartet …«

»Du wirst auf keinen Fall nach Wormitia gehen.«

»Aber Ihr habt doch selbst gesagt, dass ich den Bann lösen muss.«

Die Mutter Oberin hob ihre dünnen Brauen. »Du irrst dich, Hiltraud. Das habe ich nicht gesagt. Dass er dich gesehen hat, ist schlimm genug. Doch da du klug genug warst, den Blutbann auf ihn zu legen, um ihn so zum Schweigen zu zwingen, wird er dich nicht erkennen und beschreiben können. Das ist das Gute daran. Ich werde also bestimmt nicht erlauben, dass du nach Wormitia gehst, um dich erneut der Gefahr der Entdeckung auszusetzen, was uns immerhin alle betreffen könnte. Nicht für einen Mann, der uns angegriffen und so viele von uns in den Tod geschickt hat.«

Hiltraud war sprachlos.

»Und nun geh! Ich habe dir nichts mehr zu sagen.« Die Oberin wies auf die Tür.

»Was, wenn er dort auf mich wartet und dabei entdeckt wird? Ich kann doch nicht einfach hier …«

»Genug!« Die Mutter Oberin stand auf. »Kein Wort mehr.«

»Das könnt Ihr doch nicht tun!«

»Du hast einen Fehler gemacht, Hiltraud. Und ich werde sicherlich nicht erlauben, dass du dem ersten einen zweiten hinzufügst«, sprach die Oberin nun ihre wirkliche Meinung über Hiltrauds Tun aus. »Er ist es nicht wert. Denk immer daran! Und jetzt geh! Oder soll ich Stubenarrest verhängen?«

Hiltraud biss die Zähne zusammen. Demütig neigte sie das Haupt. »Nein, Mutter Oberin. Ich werde mich Eurem Willen beugen.«

Mit regloser Miene setzte sich die Mutter Oberin wieder. Ihr Blick wies so unzweifelhaft zur Tür, dass Hiltraud keinen Augenblick länger zögerte. Sie schritt hinaus, die Treppe hinunter, und wie von selbst lenkten ihre Schritte sie Richtung Wandelgang.

Der Engel sah sie an, als habe er auf sie gewartet. In diesem Augenblick war die Antwort einfach.

Sie würde gehen. Sie musste wenigstens versuchen, den Bann zu lösen. Auch wenn dieser Mann dem Bischof diente. Sie war es ihm schuldig.

 

Dezember 1621/Januar 1622

Aymard glaubte zu schweben. Der Schmerz war zwar noch da, aber weit entfernt, als wäre er der von jemand anderem. Er lag in einem weichen, warmen Bett. Jemand tupfte ihm die Stirn mit einem feuchten Tuch ab, während Stimmen an sein Ohr drangen. Er hörte ihnen eine Weile zu, ohne den Sinn dessen zu verstehen, was gesprochen wurde.

»Preiset den Herrn … noch lebt … Domitian … Leben … seidenen Faden … Fieber nicht sinkt … das Schlimmste.« Der Sprecher räusperte sich.

Die Stimme gehörte einem kleinen Mann mit dem Gesicht eines Frettchens und einem Monokel auf dem linken Auge, den Aymard nicht kannte. Sein Räuspern kam Aymard vage vertraut vor. Als hätte er es bereits öfter gehört, ohne sich erinnern zu können, wann das gewesen war.

Die Hexe … Da war doch eine Hexe gewesen? Sie hatte ihn geheilt. Nein, das alles war nur ein wirrer Traum gewesen, der dem Fieber entsprungen war! Denn sonst würde das bedeuten, dass er Zeuge gewesen war, wie sein Bruder … Magie gewirkt hatte!

»Dann tut etwas.« Diese Stimme hätte Aymard unter Tausenden wiedererkannt. Nur Domitians Stimme klang, obwohl leise und beherrscht, noch so bedrohlich.

»Ich habe alles getan, was in meiner Macht steht. Euer Bruder hat das Wundfieber.«

»Es muss doch etwas geben, ihn zu retten. Irgendetwas …«

Erneut ein Räuspern. »Ich habe ihn bereits geschröpft. Er hat ohnehin schon viel Blut verloren. Wenn ich ihn noch einmal zur Ader lasse, bringe ich sein Leben nur noch mehr in Gefahr.«

»Und sonst wisst Ihr nichts?«

Wieder das Räuspern. »Es gibt die Theorie, nach der sich die giftigen Säfte in der Wunde sammeln und dass ein Aufschneiden derselben sie entweichen lässt. Manchmal sinkt dann das Fieber.«

»Wenn dem so ist, worauf wartet Ihr noch? Tut es!«

»Manche der solcherart Behandelten sterben allerdings auch während der Behandlung. Wenn Ihr es aber wünscht …« Ein erneutes Räuspern beendete die Worte.

Die Hand, die Aymards Stirn abtupfte, verhielt. »Aymard.« Domitians Stimme war mit einem Mal sanft. »Hörst du mich?«

Mühsam öffnete Aymard die Augen. Er versuchte ein Lächeln. »Ja.« Aymard erschrak darüber, wie angestrengt seine Stimme klang.

Domitians Hand strich sanft mit dem Tuch über Aymards Wange. »Tut es«, verlangte er.

Mit einem Mal entstand Betriebsamkeit um Aymards Bett. Er schloss wieder die Augen, um der Hektik zu entgehen, und versank nahezu augenblicklich in samtener Dunkelheit. Kälte weckte ihn. Er lag halb bloß, ohne Verband. Das Frettchengesicht beugte sich über seine Verletzung. Er sah Stahl blitzen. Hände griffen nach ihm. Jemand schob ihm einen Stoffknoten in den Mund. Und dann schnitt ihn ein heißer Schmerz in zwei Hälften. Er bäumte sich noch auf, dann fiel er zurück in die Schwärze.

Er schwebte immer noch, als er das nächste Mal erwachte. Der Schmerz war dennoch deutlicher als das letzte Mal. Seine Kehle war so trocken wie Zunder. »Wasser«, bat er leise. Jemand hob seinen Kopf an und gab ihm zu trinken. Dann dämmerte er wieder fort.

Die Dunkelheit blieb, wurde ab und an unterbrochen durch lichte Momente, in denen jemand ihn versorgte. Und der Schmerz rückte langsam wieder ferner, mit jedem Mal, bei dem er erwachte.

Sein Blick traf das Fenster, als er die Augen wieder öffnete. Draußen war es diesig oder dämmrig. Aymard konnte es nicht unterscheiden. Domitian saß neben seinem Bett in einem Sessel und schien zu schlafen. Der gleiche Domitian, der Magie gewirkt hatte, um gegen die Hexen zu kämpfen.

Unwillkürlich fröstelte Aymard.

Domitian schrak zusammen und starrte ihn an. Sein hageres Gesicht strahlte plötzlich. »Du bist wach.«

Aymard konnte den Bruder nur anstarren.

»Sag doch etwas, kleiner Bruder!«

Sacht strich Domitian die schweißfeuchten Haare aus seiner Stirn. Aymard erschauerte unter der Berührung.

»Was ist mit dir? Hast du noch Schmerzen?«

Aymard horchte in sich hinein.

»Kaum.«

War es wirklich real gewesen, an was er sich erinnerte?

»Meine Männer«, würgte er hervor.

Domitian lächelte. »Mach dir keine Sorgen. Sie sind alle wohlbehalten in Wormitia eingetroffen. Die Hexen haben sie nur in die Flucht geschlagen.«

Wenn dieser Teil seiner Erinnerung real gewesen war, dann … Aymard brach der Schweiß aus.

»Du …«

Wollte er den Bruder wirklich der Hexerei anklagen?

»Was?«

»Da … da war ein Sturm … und … und …«

Domitian lächelte. »Du hast recht. Als wir angriffen, zog ein fürchterlicher Sturm auf. Möglicherweise hat die Hexe ihn beschworen. Aber wer weiß das schon so genau?«

Der Bruder würde ihn nicht belügen. Er hatte ihn noch nie belogen. Und falls er log, waren die Implikationen so ungeheuerlich, dass es leichter und wohl auch besser war, ihm einfach zu glauben.

»Was sonst sollte es gewesen sein«, sagte Domitian.

Ja, was sonst sollte es gewesen sein?

»Du hast recht.«

»Dann schlaf noch ein wenig. Ich bin im Nebenzimmer, wenn du mich brauchst.«

Da kroch eine Erinnerung in Aymards Bewusstsein. »Welches Datum haben wir?« Seine Stimme war heiser.

»Den fünften Januar. Weshalb fragst du?«

Die letzte Rauhnacht … Morgen. Morgen war die letzte Rauhnacht.

»Ich muss …« Was? Etwas suchen. Das war es. Das Geheimnis des Bischofs.

Domitian legte die Hand auf Aymards Schulter. »Schlaf noch etwas, Bruder. Du hast über eine Woche im Delirium gelegen.«

»Morgen …«

Nein, er durfte nicht darüber reden. Er musste schweigen.

Aymard starrte an Domitian vorbei zum Fenster, durch das die Dunkelheit der Nacht hereinzusickern begann.

»Geh«, sagte er zu Domitian mit heiserer Stimme. »Ruh dich aus. Es … es geht mir gut.«

Mit einem Seufzen stand Domitian auf. »Ich glaube, du hast recht, kleiner Bruder. Es ist wahrlich an der Zeit, dass ich mir ein wenig Ruhe gönne und Gott dafür danke, dass du noch lebst.« Domitians Hand legte sich schwer auf Aymards Schulter. Er lächelte müde. »Schlaf gut. Ich bin nebenan. Falls du etwas brauchst, musst du nur den Klingelzug benutzen.«

»Wo … wo sind wir?«

Hoffentlich nicht im Haus des Bischofs. So einfach durfte das Schicksal es ihm nicht machen.

»Im Haus des Bischofs. Er hat uns als seine Gäste eingeladen, solange sein Leibarzt dich behandelt.« Bei den Worten trat Domitian zur Tür. »Gute Nacht, Aymard.« Dann ging er hinaus und schloss hinter sich die Tür.

 

***

 

Aymard war allein. Mit brennenden Augen starrte er zum Fenster. Die Nacht … er musste die Nacht abwarten.

Doch die Nacht überraschte ihn. Die Zeit riss, und als er wieder die Augen aufschlug, war es stockfinster im Raum.

Geh nach Wormitia, ins Haus des Bischofs. Such nach dem Geheimnis seiner Macht. Such nach Beweisen der Intrige, die er plant, und finde die Namen seiner Helfer heraus …

Klar und deutlich hörte er die Worte der Hexe. Als stünde sie vor ihm.

Aymard biss die Zähne zusammen. Alles in ihm sträubte sich dagegen. Ganz sicherlich plante der Bischof keine Intrige. Der Bischof war ein gottesfürchtiger Mann. Und wenn, dann wäre Domitian sicherlich eingeweiht, und der würde Aymard niemals derartig hintergehen. Ganz bestimmt nicht.

Dann wollte er also wirklich glauben, was Domitian ihm gesagt hatte? War er wirklich dazu bereit, all das, an was er sich erinnerte, als Hirngespinst abzutun?

Vielleicht hatte die Hexe doch recht. Vielleicht war der Bischof Teil einer Intrige und hatte Aymards Bruder dazu verführt, ihn dabei zu unterstützen. Natürlich würde der Bruder ihn heraushalten wollen – zu seinem eigenen Schutz. War es da nicht Aymards Pflicht, nach Beweisen gegen den Bischof zu suchen? Allein schon, damit er wusste, dass er sich irrte.

Mühsam quälte er sich hoch. Nach Atem ringend, blieb er auf dem Rand des Bettes sitzen. Ein frisches Hemd bedeckte seinen Körper, stellte er dabei fest.

Bei Gott, er konnte kaum stehen. Wie sollte er das schaffen? Zudem wusste er nicht einmal, wo sich das Arbeitszimmer des Bischofs befand.

Erneut zögerte er. Und wenn er Hinweise dafür fand, dass die Hexe recht hatte? Wollte er seine Zweifel wirklich beseitigt sehen? Was, in Gottes Namen, sollte er dann tun? Den Bischof anklagen?

Dennoch stemmte er sich auf. Schwankend blieb er stehen, die Hand gegen seine verwundete Seite gepresst. Er keuchte. Schritt für Schritt kämpfte er sich zur Tür, obwohl sich jede Faser seines Körpers dagegen sträubte.

Mit zusammengebissenen Zähnen öffnete er sie. Es war, als ob sein Körper nicht mehr ihm gehörte. Als würde ihn jemand anders steuern, und er war dazu verdammt, untätig dabei zuzusehen.

Sich mit einer Hand an der Wand abstützend, taumelte er den Korridor entlang. Auf die doppelflügelige Tür zu, die am Ende wartete. Er hoffte, nein, betete, dass sie verschlossen sein möge. Doch die Tür öffnete sich und gab den Blick in ein Arbeitszimmer frei. Mondlicht erhellte den Raum.

Vor Wut und Enttäuschung hätte Aymard am liebsten geschrien. Aber auch das war ihm verwehrt. Achte, dass niemand dich bemerkt, hatte sie gesagt. Nur ein leises Keuchen verließ seine Kehle. Mit brennenden Augen taumelte er zum Arbeitstisch. Die Kräfte verließen ihn. Fast wäre er gestürzt. Er konnte sich gerade noch am Schreibtisch festhalten. Schwer atmend blieb er stehen.

Sein Blick fiel auf diverse Schriftstücke, die dort lagen. Wahllos griff er nach einem Brief. Das Licht war zu schlecht, um ihn lesen zu können. Mit zitternden Händen entzündete er die Kerze, die auf dem Tisch stand. Die Schrift verschwamm vor seinen Augen. Mit dem Handrücken versuchte er, den Schleier wegzuwischen, der ihn am Lesen hinderte, und spürte Nässe an seinen Fingern. Weinte er etwa?

Benommen blickte er wieder auf den Brief. Er war von Pater Wilhelm Lamormaini unterschrieben, dem Berater und Beichtvater von Kaiser Ferdinand II. Mit gerunzelter Stirn begann Aymard zu lesen. Er las ihn noch einmal und ließ ihn mit bebender Hand sinken. Wie betäubt starrte er ins Nichts.

Der letzte Papst war ermordet worden? Das konnte nicht sein. Niemand tötete den Papst, weil dessen Ziele ihm im Wege waren. Kein gottesfürchtiger Mann würde etwas Derartiges tun, erst recht kein Jesuitenpater. Er musste sich irren, musste irgendetwas in dem Brief missverstanden haben.

Wie von selbst tasteten seine Finger nach einem anderen Schriftstück. Noch ein Brief. Wieder von Lamormaini.

Ich fürchte, der neue Papst dient unseren Zielen genauso wenig wie der vorherige. Von Stadion rät dem Kaiser zur Besonnenheit. Aber Besonnenheit bringt uns nicht weiter. Wenn wir erfolgreich sein wollen, müssen wir die Fackel des Hasses gegen die Protestanten entzünden.

Aymard schwankte.

Fiebrig griff er nach einem weiteren Schriftstück. Eine Aufstellung … die Zahlen verschwammen vor seinen Augen. Mühsam riss er sich zusammen. Er las Zahlungen und Namen, alle mit Datum versehen. Nach kurzem Zögern legte er das Schriftstück zurück, nahm wieder den Brief und las weiter.

Eine Stelle weiter unten fiel ihm besonders ins Auge:

Ich hoffe, Ihr seid im Kloster Lorsch endlich fündig geworden.

Das Kloster Lorsch war von den Spaniern geschleift worden. Was wollte von Greiffenclau dort?

Verwirrt las er weiter:

Das Magisterium könnte die entscheidende Wende bringen. Dann werden wir nicht nur den Kaiser, sondern auch den Papst bestimmen. Gebe Gott, dass Bruder Domitian einen Weg findet, uns den Durchbruch zu bringen.

Ein Geräusch im Korridor ließ ihn zusammenzucken. Er erschrak so sehr, dass ihm das Papier aus der Hand fiel. Im Reflex legte er die Hand auf die Flamme der Kerze und brachte sie zum Erlöschen. Sein Herz hämmerte.

Eine Tür knarrte und wurde geschlossen. Am ganzen Leibe zitternd, lauschte Aymard in das Dunkel des Zimmers.

Er träumte. Das war des Rätsels Lösung. Ganz sicherlich war es so. Er hatte wieder einen seiner Fieberträume, und morgen würde er aufwachen, und nichts davon war wahr.

Eine Tür wurde aufgerissen. »Aymard? Aymard, wo bist du? Aymard!« Schritte eilten durch den Korridor, näherten sich. »Aymard!«

Zitternd löste sich Aymard vom Schreibtisch und stolperte Richtung Tür. Ob er sie schließen wollte oder dem Bruder entgegeneilen, wusste er nicht. Aber bevor er sie erreichte, gaben die Beine unter ihm nach. Er fiel. Ein harter Schlag traf ihn auf der Seite und presste ein Stöhnen aus ihm heraus. Erst in diesem Moment begriff er, dass er am Boden lag.

Da wurde die Tür aufgerissen. Das Licht einer Kerze flutete den Raum. »Aymard!« Domitian sank neben ihm auf die Knie, stellte die Kerze ab und zog ihn hoch in seine Arme. »Was tust du hier? Das ist das Arbeitszimmer des Bischofs.«

»Ich habe nach dir gesucht. Ich … ich wusste nicht mehr, wo ich bin …« Der Schmerz würgte ihm den Atem ab. Gott, was geschah nur mit ihm? Er wollte den Bruder doch gar nicht anlügen.

Behutsam fasste Domitian ihn unter den Achseln, schob seinen Arm über seine Schulter und stemmte sich mit Aymard wieder auf die Füße. »Halt dich an mir fest!«

Aymards Beine gehorchten ihm nicht. Doch bevor er fallen konnte, fühlte er sich aufgefangen und fand sich auf Domitians Armen wieder. »Es tut mir leid«, flüsterte er. »Verzeih mir, bitte.«

»Wofür?«, fragte Domitian, während er ihn durch den Korridor zurück in sein Zimmer trug. Bevor Aymard es verhindern konnte, betätigte Domitian den Klingelzug. Seine Hand legte sich auf Aymards Stirn. »Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Ich hätte dich nicht allein lassen dürfen.«

Aymard tastete nach Domitians Hand. Warme Nässe breitete sich an seiner Seite aus. Die Wunde war wieder aufgebrochen, begriff er. »Verzeih mir.« Dann wurde es dunkel um ihn.

Veröffentlichung der Leseprobe mit freundlicher Genehmigung des Verlages und der Autorin

(wb)

Show 1 footnote

  1. Hausarchiv Schloss Vollrads, Gr. 15, 1616, 11.10. – 1627, 5. 3. Nr. 6 f. lr, ein einzelnes Briefblatt ohne Datum; vermutlich um 1620, Brief an den Bruder Heinrich bezüglich der gemeinsamen Erbschaft und Teilung