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Fritz Wildaus Abenteuer zu Wasser und zu Lande 11

Friedrich Gerstäcker
Fritz Wildaus Abenteuer zu Wasser und zu Lande
Kapitel 11
Weiteres Leben auf dem Piratenschiff und wie Fritz zu einem verzweifelten Entschluss kam

Fritz, der unter der strengen Aufsicht des Kochs ein entsetzter Zeuge des ganzen furchtbaren Auftritts gewesen war, hatte schon wirklich die Absicht gehabt, über Bord zu springen und sein Leben daran zu wagen, den Unglücklichen an Bord des schwedischen Schiffes Hilfe zu bringen. Ob aber der Koch etwas Derartiges ahnte oder ihn nicht einmal der Versuchung dazu aussetzen wollte, kurz, er fasste den Knaben plötzlich besserer Sicherheit wegen beim Kragen und führte ihn, als der Schoner eben die Taue gekappt hatte, die ihn noch an dem brennenden Schiff festhielten, wieder in die Kajüte hinunter, die er nicht verlassen durfte, bis nicht eine weite Entfernung von dem Schauplatz der letzten Gräuel jeden Versuch zur Hilfe doch unnütz gemacht hätte.

Die letzte Hoffnung des Knaben war nun noch auf die verfolgende Korvette gerichtet, welcher der Schoner wieder dicht am Wind zu entgehen suchte. Diese schien sich zu bestätigen, da nicht einmal die Nacht sie aus des Feindes Bereich brachte. Der alte Brendall steuerte nämlich die Nacht hindurch den nämlichen Kurs, weil er hoffte, er würde bis nächsten Morgen genug nach windwärts gewonnen haben, um eine weitere Verfolgung unausführbar zu machen. Die Korvette lag aber fast eben so dicht am Wind wie sein Schoner und segelte besser, sodass die Verfolger jetzt schon in gar bedenkliche Nähe kamen. Die bis dahin sehr leichte Brise begünstigte nur noch den Ersteren. Der Pirat beschloss, von der nächsten Dunkelheit besseren Vorteil zu ziehen. Die zweite Nacht war denn auch kaum vollständig hereingebrochen, als der alte Pirat plötzlich dem Mann am Steuer befahl, gerade vor dem Wind wegzuhalten. So liefen sie unter dem Schutz der Dunkelheit etwa eine Stunde, bis sie sicher zu sein glaubten, das Fahrwasser ihres Verfolgers weit genug hinter sich zu haben und von dort aus nicht mehr gesehen zu werden. Dann kam der Befehl »Segel nieder!«, und fünf Minuten später lag der Hai, ohne auch nur einen Zollbreit Leinwand der frischen Brise zu zeigen, mit nackten Spieren auf dem Wasser und trieb vor Top und Tackel langsam nach Lee zu.

Am nächsten Morgen war keine Spur mehr von einem Segel am fernen Horizont zu sehen und mit rasch gehisster Leinwand hielt das Raubschiff voll nach Süden hinunter.

Wohin nun ihr Ziel lag, mühte sich Fritz vergebens ab, zu erraten, ob sich der alte Brendall nach den beiden letzten und teilweise verunglückten Verbrechen nicht mehr recht sicher im Atlantischen Ozean fühlte, oder ob er ein anderes Terrain für seine Taten aussuchen wollte. Aber er hielt sich, trotzdem dass sie in den nächsten Tagen wieder auf mehrere Segel trafen, gar nicht auf und blieb bei seinem Südkurs, den er, als sie eine gewisse Breite südlich vom Äquator erreicht hatten und die Passate allmählich verließen, mehr nach Westen richtete und nun bald keinen Zweifel mehr ließ, dass er Kap Horn zu umschiffen gedenke.

Das Leben an Bord war ziemlich eintönig geworden. Die Leute, denen jedenfalls der Plan ihres Kapitäns bekannt gemacht worden war, verrichteten eben nur mehr die allernötigsten Arbeiten. Auch der Hass gegen den Knaben schien sich bei den meisten, nur nicht bei dem Steuermann, gelegt, wenigstens gemildert zu haben. In der Erregung der letzten Tat war viel von der früheren verwischt worden und ein glücklicher Fang, den sie auf der Höhe von Buenos Aires machten, schien ihnen den alten wilden Humor völlig wieder gegeben zu haben.

Sie trafen und enterten dort nämlich ein französisches Kauffahrerschiff, das bedeutende, für Montevideo bestimmte Summen an Bord hatte. Reiche Beute fiel in ihre Hände und sie begnügten sich auch, das Schiff, nachdem sie es geplündert hatten, eben nur anzubohren und der Mannschaft, von der aber die Hälfte schon im Kampf mit den Piraten geblieben war, wenigstens die Hoffnung zu geben, mit ihrem Boot entweder die ferne Küste zu erreichen oder von einem anderen Fahrzeug aufgelesen zu werden. Was kümmerte es diese Horde, ob die Unglücklichen von einem Pampero vielleicht erreicht und gesunken wären, oder auf der weiten Wasserwüste verschmachten müssten, ehe sie das rettende Land erreichten.

Tom Brendall schien aber nichtsdestoweniger seinen einmal angenommenen Kurs beibehalten zu wollen, denn sie steuerten die bisherige Richtung, als sie von dem Wrack wieder frei geworden waren, ruhig fort. Das Wetter wurde kalt und stürmisch. Schon in der Nähe der Falklandinseln bekamen sie einen tüchtigen Pampero. Sieben Tage später fanden sie sich in Schnee und Eis unweit der Staateninsel, an der südlichsten Spitze des ganzen riesigen amerikanischen Kontinents, wo der Fuß der gigantischen Wirbelsäule, die sich von dem nördlichen Eismeer bald als Felsengebirge, dann Anden und Kordilleren bis hier fast zum südlichen Eismeer nieder dehnt, ihre schroffen Klippen in das stürmisch dagegen antobende, brausende Meer hineinstreckt und dem rastlosen unermüdlichen einen Damm setzte seiner Macht und grimmen Mut.

Mit ziemlich günstigem Wind passierten sie das Kap. Den Stillen Ozean erreichend liefen sie mit allen Segeln einem wärmeren milderen Klima rasch entgegen.

Fritz war dabei recht traurig geworden. Das heimatliche Meer lag weit da hinten. In eine Menge von Verbrechern geworfen, trieb er einem neuen wilden Leben rettungslos entgegen. Wie sollte es ihm je gelingen, seinen Henkern zu entfliehen? Durfte er hoffen, dass der Rache Arm endlich einmal die blutigen Verbrecher erreichen würde? Und geschah das wirklich, war er dann nicht selber der Gefahr ausgesetzt, für einen der ihren gehalten zu werden, unter denen er mit gefangen worden war? Wer wollte ihm glauben, dass er willenlos hier an Bord gekommen, unschuldig an dem Blut sei, das die mordlustige Bande in Strömen vergossen hatte?

Und wie sollte es enden, blieb er noch länger ein Werkzeug dieser Menschen, unter denen er ja an Leib und Seele zugrunde ging? Was wurde dann zuletzt aus ihm? Ach das Herz blutete ihm, wenn er an sein armes Helenchen dachte. Was würde sie gesagt haben, wenn sie gewusst hätte, dass sein erster Ausflug in die Welt an Bord eines Raubschiffes gewesen sei?

Mit Hin- und Herkreuzen war die Zeit auch im Flug dahin gegangen. Der Schiffsalmanach zeigte den 24. Dezember.

Weihnachten! Hast du, lieber Leser, schon einmal deine ersten Weihnachten fern von Zuhause verlebt? Ich will dir’s nicht wünschen, ich will noch hoffen, dass diese frohe liebe Zeit so ungetrübt und glücklich an dir vorübergegangen ist wie damals, als du auf dem Arm der Mutter zum ersten Mal den blinkenden Lichtern die Ärmchen entgegenstreckte. Du weißt aber dann auch nicht, wie der Wald da draußen an dem Abend gerade so entsetzlich still und traurig dasteht, wie die Wolken so unheimlich schnell am düsteren Himmel vorüberjagen, wie die Wogen draußen in der See so wunderliche Weisen murmeln, rauschen, sich treiben und jagen, als ob sie es selber nicht leide in der wüsten und trostlosen Öde. Das ist die Zeit, wo alle, alle dir ach so heiß und innig gehegten Bilder der Heimat, mag sie das wilde Leben noch so sehr in seinem Schutt vergraben haben, wieder ans Freie streben und ihr Recht geltend machen, ihr altes heiliges Recht. Das ist die Zeit, wo du der Tränen nicht wehren kannst, und wenn du sie bis dahin mit eiserner Kraft in ihren Schleusen fest und trotzig eingeschlossen gehalten – die Erinnerung rüttelt an den Pforten des Herzens. Die brauchst du ihr nicht mehr zu öffnen – sie springen von selber auf. Aber trüb und traurig steht sie dann an der Schwelle, denn nur Dornen hat sie gefunden, ihr Haupt darauf zu legen – nur Dornen und Nesseln. Und doch verlässt sie an dem Abend ihr altes Haus nicht wieder. Sie bleibt und weint – und schützt am anderen Morgen ihr Gewand, langsam und traurig weiter zu ziehen, in die Welt hinein.

Fritz hatte zu Hause keine freundliche Heimat gehabt. Niemand hatte den Baum für ihn angezündet oder ihn mit liebender Hand zu dem mit Geschenken gedeckten Tisch geführt. Auch der Heilige Abend mochte ihm in jener Zeit wohl oft recht still und einsam vorübergegangen sein. Aber es war doch die Heimat, die ihn umgab. Selbst der sonst so finstere, verschlossene Mann, sein Pflegevater, brachte es an dem Tag nicht über das Herz, ein raues Wort zu ihm zu sagen, ließ ihm Kuchen backen und erzählte ihm aus der Zeit, in der er selbst ein Kind gewesen war – vor langen, entsetzlich langen Jahren.

Und jetzt hier? Wohl in stiller ruhiger See schaukelte ihr Schiff. Die milden balsamischen Lüfte der Südsee fächelten seine Stirn, und nicht blauer spannte sich daheim das reine Firmament über ihnen aus, als die See. Die weite sanft wogende See zu ihren Füßen ruhte, doch war es ihm an diesem Tag so weh, so unendlich weh um das arme verlassene Herz. Es kam ihm dann manchmal sogar vor, als ob er nun für jetzt und immer abgeschlossen bleiben müsse von der ganzen übrigen Welt, von allem, was ihm da draußen lieb und teuer sei, der Raubgenosse eines Kreises von Mördern und der Teilnehmer ihrer Verbrechen – ihrer Strafe.

Die nächsten Tage vergingen ihm noch eben so still und traurig. Er nahm auch an nichts teil, was um ihn vorging. Nur dann erfasste ihn jedes Mal eine peinliche Angst, wenn der Ausgucker vom Mast wieder ein Segel ausrief. Musste er nicht jedes Mal die Erneuerung jener Gräuelszenen fürchten. Nichts destoweniger verrichtete er mit größter Gewissenhaftigkeit seine ihm übertragene Arbeit und hatte sich dadurch selbst schon wieder den guten Willen des Kapitäns erworben, wenn gleich der Steuermann noch immer nichts von ihm wissen wollte, ihm das in jeder nur möglichen Art und Weise, bei jeder Gelegenheit, deutlich genug zu fühlen gab.

»Land ho!«, rief da eines Morgens einer der Matrosen, der nach oben geschickt worden war, etwas an einem der leichten Segel auszubessern. Als Fritz etwa eine halbe Stunde später an Deck kam, konnte er selbst schon von dort aus einen schmalen kurzen blauen Streifen erkennen, der gerade vor ihnen, etwas in See, auftauchte. Die Brise war aber so schwach, dass sie nur ungemein wenig Fortgang machten. Der Abend brach herein, ehe sie dem Land besonders viel näher gerückt waren. Um übrigens doch nicht zu nahe hinan zu kommen, solange es dunkel war, blieben sie die Nacht durch unter dicht gerefften Segeln, denn dem Fahrwasser ist in diesem Geburtsland der Korallenriffe eben nicht zu trauen. Manches gute Schiff hat schon da, wo es sich vollkommen sicher glauben konnte, die zu leicht genommene Gefahr mit Rumpf und Mannschaft bezahlen müssen. Noch vor Tag setzten sie aber wieder Segel bei, als die Sonne den Himmelssaum mit purpur schimmerndem Gold übergoss, waren sie so nahe an eine dieser wunderschönen Inseln angelaufen, dass sie die Kokospalmen am Ufer, hinter denen sich ein niederer langer Hügel hob, leicht schon mit bloßem Auge erkennen konnten.

»Hallo, da drüben kocht ein Walfänger seinen Tran aus«, rief da plötzlich der Steuermann, der aus alter Gewohnheit auch von dem Landstreifen ab seinen Blick über den Horizont schweifen ließ. »Ich kann den Rauch über dem Wasser erkennen.«

Tom Brendall folgte der Richtung seines Fingers mit dem Auge, beobachtete das, was der Steuermann für Rauch erklärte, kurze Zeit, ging dann kopfschüttelnd nach hinten, das Fernrohr zu holen und sich besser zu überzeugen. Eine lange Weile stand er so an Deck, nach dem fremdartigen Gegenstand hinüber zu schauen. Endlich setzte er das Glas ab und sagte es seinem Steuermann, der neben ihm stand, hinweisend.

»Das ist kein Wallfänger, das ist ein Dampfer, der noch dazu gerade auf uns zuhält.«

»Dampfer?«, brummte der Steuermann, ungläubig mit dem Kopf schüttelnd. »Wo zum Henker soll hier in der Südsee ein Dampfer herkommen? Der Wind treibt den Rauch von den Blubberkesseln nach Lee zu und das bildet wahrscheinlich den langen Streifen.«

»S’ist bei Gott ein Dampfer«, beharrte aber der Kapitän mit einem Fluch.

Der Steuermann, der lange und aufmerksam durch das Glas sah, sagte endlich: »Und meinetwegen – Dampfer sind mir verdammt gleichgültige Fahrzeuge. Denen kann man nicht beikommen, denn wenn sie eine Kugel kriegen, gehen sie frisch in den Wind auf, und lassen einem das leere Nachsehen. Hol sie alle der Teufel.«

»Aber wenn’s nun ein Kriegsdampfer wäre«, brummte der Kapitän noch einmal nach dem fremden Fahrzeug, das sich in der Tat rasch näherte, hinüberschauend. »Ich glaube wahrhaftig, dass es einer sein muss, denn was hätte ein Kauffahrten- oder Postschiff sonst wohl hier an der Grenze des gefährlichen Archipels zu suchen.«

»Und wenn’s nun auch ein Kriegsdampfer wäre«, sagte der Steuermann lachend, »unsere Papiere sind so vortrefflich in Ordnung, dass wir uns ruhig überprüfen lassen können, vorausgesetzt, dass er wirklich die amerikanische Flagge führt, sonst würde er sich auch gar nicht viel um uns kümmern.«

»Das Beste ist’s aber doch, wir halten uns so dicht wie möglich an die Inseln da«, entgegnete sein Vorgesetzter nachdenklich – »unsere Papiere sind vortrefflich nachgemacht und soweit in Ordnung, aber – besser ist besser. Die Schufte an Bord eines solches Dampfers haben ja überhaupt weiter nichts zu tun als umherzuschnüffeln und ihre Nasen gerade immer dahin zu stecken, wo sie am allerwenigsten verlangt werden. Sind wir aber dicht unter den Riffen oder gar zwischen ein paar solchen Inseln drin, so müssen sie uns schon zufriedenlassen. Tun sie’s nicht, haben wir im schlimmsten Fall doch immer die Aussicht, ihnen in dem engen und gefährlichen Fahrwasser entgehen zu können. In offener See ist das nicht möglich.«

Da der Schoner übrigens auch bis dahin diesen Kurs gesteuert hatte, brauchte er an seiner Richtung nur wenig zu verändern. An Segeln war auch schon alles auf, was ziehen wollte. Sie liefen vor einer frischen Brise rasch der mehr und mehr auftauchenden Küste näher, die sie, wenn der Wind nur noch ein paar Stunden anhielt, ohne weitere Mühe vor dem herbeilaufenden Dampfer erreichen konnten.

Der Kapitän hatte übrigens vollkommen recht vermutet. Das ankommende Fahrzeug war wirklich ein Kriegsdampfer unter englischer Flagge, zu den Inseln gesandt, die französischen Ansprüche, die neuerdings erhoben worden waren, zu überwachen. Piraten waren in damaliger Zeit auch etwa keineswegs selten in jenen Meeren, in denen sie sich hier und da selbst jetzt noch zeigen, die Kriegsschiffe aller Nationen dazu angewiesen, verdächtig aussehende Fahrzeuge anzuhalten und zu untersuchen.

Der Hai sollte aber dieses Mal nicht den schützenden Bereich der Riffe gewinnen. Die Brise wurde schwächer und schwächer, schwerfällig slappten bereits die Segel an ihren Spieren und die See bekam jenen bleiernen, toten Glanz, der ihr in der Windstille so eigen ist. So nahe waren sie aber doch schon an die nächsten Riffe hinangelaufen, dass eine Kugel recht gut hinübergetragen hätte. Tom Brendall, so gern er auch aus dem Bereich des Dampfers gekommen wäre, durfte nicht wagen, weiter darauf zu halten, da bei vollkommener Windstille die dort stets nach Westen setzende ziemlich starke Strömung sein Fahrzeug jedenfalls auf die Riffe getrieben haben würde, wo es rettungslos verloren gewesen wäre. Es blieb ihm in der Tat nichts anderes übrig, als dem Dampfer jetzt recht in die Zähne, gerade nordwärts aufzuhalten, wo die Riffe nach Westen abzulaufen schienen und eine Einfahrt gestatteten, denn nach Süden dehnten sie sich in unabsehbarer Linie nieder. Das Auge konnte sogar weiter unten der südöstlich vorstreckenden weiß schäumenden Brandung folgen. Es war überhaupt hier ein recht fataler Platz, einem stärkeren Feind zu begegnen. Tom Brendall rückte unruhig seinen Wachstuch überzogenen Hut hin und her, wenn er die Blicke bald zum rasch herankommenden Dampfschiff bald nach der drohenden Klippenreihe hinüber schweifen ließ.

Fritz aber klopfte das Herz vor Freude, als er das stattliche Schiff mehr und mehr herankommen sah. Der Gedanke stieg plötzlich in ihm auf, dass er sich, sollte wirklich jemand von dort zu ihnen an Bord kommen, unbekümmert um die Folgen unter dessen Schutz stellen und dies Schiff und Leben verlassen wolle. Mochte aber der Steuermann, der ihn nicht leicht aus den Augen ließ, etwas Derartiges in seinen Augen gelesen oder auch nur gefürchtet haben, er kam ihm zuvor. Als bald darauf wirklich ein Boot von Bord des Dampfers niedergelassen wurde und zu ihnen herüber ruderte, schickte er den Knaben mit einem der Leute als Wache vorn ins Logis hinunter. Die Warnung, die der alte Bursche, der zu Fritzes Hüter ausersehen worden war, ihm gab, sich hübsch ruhig zu verhalten, verriet ihm, unter welch strenger Aufsicht er stehe, wie gut seine Gefängniswärter selber wussten, dass ihm jetzt gerade ein Ausweg zur Flucht und Rettung offenstehe.

Die Logiskappe oder die Klappe, die bei schlechtem Wetter über das Logis gezogen wird, war natürlich nicht geschlossen, ein Luftsack oder Windfang aber der Hitze wegen hineingehangen, der die schwache Brise so viel wie möglich auffangen und in den unteren sonst entsetzlich schwülen Raum führen sollte. Dieser füllte die schmale Treppe auch fast aus und verdunkelte das Vorkastell derart, dass man ohne Licht selbst am hellen Tage unten nichts sehen konnte. Die Lampe war aber jetzt ausgelöscht – die Leute von dem fremden Schiff sollten auch hier unten nichts entdecken können.

Fritz hörte bald darauf das Anrufen des Schoners und die lang gezogenen Töne der Antwort ihres Kapitäns. Der Name der Turteltaube war wieder über den Hai gespannt, das Fahrzeug ging unter der unschuldigen harmlosen Decke eines Yankee-Händlers, der hier in die Südsee gekommen war, gegen allerlei Kleinigkeiten Kokosnussöl und Perlmuttmuscheln oder auch wohl Spermazetitran von den Walfängern einzutauschen. Fritz vernahm dann deutlich, wie das Boot längsseits kam, wie die Fremden an Deck traten und hinten mit dem Kapitän in die Kajüte gingen.

Bill, der Matrose, der mit Fritz im Logis war, hätte übrigens auch gern gesehen, was oben vorging, drückte sich daher neben dem Windfang vorbei, blieb oben in der Treppe stehen. Der arme Knabe fand sich dadurch von jeder Hoffnung auf Flucht vollständig abgeschnitten und setzte sich still auf eine der Kisten hin, die, den Leuten gehörig, überall umherstanden, seinen Tränen freien und ungestörten Lauf zu lassen.

Eine halbe Stunde mochten die Fremden wohl an Bord sein. Deutlich konnte er, gar nicht weit von ihnen entfernt, den Dampfer hören, der aus seinen Sicherheitsventilen den Dampf ausblies. Ja sogar das Aufschlagen der Radbretter auf das Wasser ließ sich unterscheiden. Das Kriegsschiff konnte keinen Büchsenschuss von ihnen entfernt liegen.

»Na endlich«, brummte da Bill, dem da oben auf der Treppe die Zeit schon herzlich lang geworden war. »Haben sich die Schnüffelhunde nun genug vorlügen lassen? Puh, s’ist alles ordentlich blau geworden.«

Draußen im Boot hörte Fritz das Einlegen der Ruder. Dicht am Bug vorbei kehrte die Jolle wieder an Bord des Kriegsdampfers zurück. Bill stieg an Deck, um ihnen nachzusehen. Aber in dem Knaben rang auch ein gewaltiger Entschluss. Jetzt oder nie, flüsterte er leise in sich hinein, hielt sich mit beiden Händen das Herz, als ob er fürchte, dass es ihm die Brust zersprengen müsse.

Lange überlegen durfte er aber ebenfalls nicht. Noch war das Boot in nur kurzer Entfernung von dem Schoner. Doch jeder Ruderschlag trieb es weiter ab und ließ ihn rettungslos zurück.

Bill war oben von der Treppe getreten. Das volle Aufblähen des Luftsacks verriet dem Knaben, dass er die Kappe jedenfalls verlassen hatte. Aber oben auf der Back hörte er Stimmen. Ein Teil der Mannschaft stand jedenfalls dort, dem Boot nachzusehen. Oh, nur einen Blick hätte er hinaustun mögen ins Freie. Einmal aber mit dem Bewusstsein frei werden zu können, trieb es ihn auch mit einer, ihm später selber unbegreiflichen Gewalt einem entscheidenden Schritt entgegen. Das kleine Messer, das er im Gürtel trug, zog er und fasste es krampfhaft mit der Hand. Im Nu hatte er sich die Schuhe von den Füßen gestreift, die Jacke abgeworfen und mit wenigen Sätzen war er oben an der Treppe. Die Bahn war frei, aber an der Schanzkleidung stand der Koch mit dem Steuermann – auf der Back vier oder fünf andere mehr. Es galt ihm gleich, er musste hinüber, wenn es sein Tod und Verderben gewesen wäre, nur fort von hier. Mit einem Sprung war er hinüber an der Schanzkleidung und hinauf.

»Halt ihn!«, schrie da Bill, der auf der anderen Seite gestanden und den er gar nicht gesehen hatte. »Halt ihn!«

Der Steuermann fuhr in demselben Augenblick herum, die ausgestreckten Finger berührten schon sein Bein, aber mit gellendem Aufschrei warf sich der, jetzt zum Tode erschreckte, aber auch zur Verzweiflung getriebene Knabe vom Bord nieder und wenige Sekunden später schlug die Flut über ihm zusammen.

Das Boot des Kriegsschiffes hatte den Schoner kaum über zweihundert Schritt verlassen, als die Ruderer, die mit dem Rücken nach vorn zugekehrt sitzen, den Sprung des Knaben ins Wasser sahen und wie auf Kommando ihre Riemen hochhielten.

»Was gibt’s?«, fragte der Leutnant, der das Boot befehligte.

»Mann über Bord am Schoner, Sir!«, sagte der eine der Matrosen.

Der Leutnant schaute sich rasch nach dem Fahrzeug um, die Bewegung seiner Hand lenkte den Bug des scharf gebauten Bootes rasch wieder dem Schoner zu, wo es sich gar nicht verkennen ließ, dass etwas Außerordentliches vorgegangen war.

Der Steuermann raste in wilder Wut, war auf die Back gesprungen und sein breites Messer aus der Scheide reißend, schleuderte er es in blindem Hass nach dem Kopf des eben wieder auftauchenden Knaben. Kaum einen Zollbreit von seinem Nacken entfernt zischte es harmlos in die Flut und sank in die Tiefe. Der blutgierige Strolch, dem auch wohl die Gefahr vorschwebte, der sie jetzt entgegengingen, der nur Rache haben wollte an dem, den er einen Verräter nannte, schrie nach einer Büchse, dem mit aller Kraft dem fremden Boot zuschwimmenden Knaben den Schädel zu zerschmettern.

Bill versuchte zu gleicher Zeit ein anderes Mittel, den Flüchtling einzuschüchtern und an Bord zurückzutreiben.

»Ein Hai … Fritz … ein Hai!«, schrie er aus Leibeskräften. »Hier nimm das Tau … da drüben ist er.«

Fritz hörte aber die Rufe gar nicht oder achtete ihrer nicht, denn selbst die fürchterlichen Zähne eines Hais hatten in diesem Augenblick ihre Schrecken für ihn verloren. Fort, fort von hier war der einzige Gedanke, der ihn belebte und bewusstlos fast, nur mit dem einen instinktartigen Gefühl des Schwimmers, sich über Wasser zu halten, dem Ziel zustrebend, das ihm, wenn auch unbestimmt, in dem dunklen Schatten des Bootes vor den Augen flimmerte, trieb es ihn diesem entgegen.

»Zurück!«, tönte der Befehl des Offiziers im Boot.

Die sechszehn Riemen des Bootes fielen mit einem Schlag zurück ins Wasser und im nächsten Moment schoss der scharfe Bug auf den Schwimmer zu.

»Eine Büchse … eine Büchse!«, schrie, das Deck stampfend in wilder Wut der Steuermann, und einer der Leute reichte ihm in demselben Moment ein geladenes Gewehr, als das Boot schon fast den Flüchtling erreichte.

»Hallo da, Sir!«, rief ihm der Offizier zu, der mit Erstaunen sah, dass jemand an Bord des Schoners das Gewehr aufgriff, wirklich nach dem Knaben zu schießen.

»Halt ein da, wir kriegen den Burschen, wenn er etwas verbrochen hat.«

Seine Worte waren kaum den Lippen entflohen, als der helle Strahl aus dem Rohr zuckte. Die furchtbare Aufregung des Zielenden ließ den sonst sicheren Schützen aber sein Ziel verfehlen und so nahe war das Boot gekommen, das sie denselben Riemen traf und durchbohrte, den einer der Leute dem Schwimmenden hinüber hielt.

»Pest und Gift, was ist das?«, fluchte aber der Leutnant, ärgerlich nach dem Schoner hinüberschauend, »nehmt ihn ins Boot, ihr Leute, ich will doch sehen.«

Sechs starke Arme streckten sich nach dem Flüchtling aus, aber noch hatten sie ihn nicht aus dem Wasser, als er mit vor Erschöpfung und Aufregung fast erstickter Stimme rief:

»Der Hai … Sir … der Hai

»S’ist kein Hai hinter dir, mein armer Bursche«, entgegnete der Leutnant lachend, der natürlich vermuten musste, es habe sich dieser von einem Ungeheuer der Tiefe bedroht geglaubt, »aber ein schlimmerer Feind als der schickte dir einen Todesboten nach.«

»Schlimmerer Feind?«, rief der Knabe, jetzt vollständig hineingehoben in das Boot, entsetzt zurückschauend, »das ist der Schlimmste!« Auf den Schoner deutend bat er mit wilder angstvoller Stimme: »Fort von hier … fort … sie richten schon ihr Rohr nach uns … das ist der Hai … das ist der Hai! … Das der furchtbare Pirat, der mich gefangen gehalten hat als seinen Knecht.«

»Der Hai?«, fuhr der Offizier schnell und überrascht empor, »das der Hai! Beim Himmel, die Schufte sind, glaub’ ich, töricht genug, auf uns zu schießen«, setzte er aber schnell hinzu, denn eine Bewegung vorn an Bord schien allerdings etwas Derartiges zu verraten, des Knaben Behauptung zu bestätigen. Ehe er auch nur in seiner ersten Unschlüssigkeit wusste, was er tun sollte, ob er an Bord des Räuberschiffs zurückkehren und aufgrund der Anzeige hin noch einmal die Untersuchung beginnen, oder rasch an Bord seines eigenen Schiffes rudern, machte der Pirat selber seinen Zweifeln ein rasches Ende.

»Sie feuern bei Gott!«, schrie einer der Seeleute und in demselben Augenblick fast, wo sie den gelben Strahl herüberzucken sahen, schmetterte eine Kugel zwischen sie hinein und drei Mann brachen tot zusammen, als im nächsten Augenblick auch schon die See über dem sinkenden Boot zusammenschlug.

Ein Triumphgeschrei vom Bord des Hai folgte dem gelungenen Schuss, aber nur von einem Teil der Mannschaft, denn der alte Tom Brendall, der noch nicht einmal von der Flucht seines Jungen wusste, stürzte mit einer rasch aufgegriffenen Pistole nach vorn, den, der, wie er glaubte, sein Schiff solcher Art verraten, selber niederzuschießen. Aber der nächste Augenblick brachte nötigere Arbeit für sie selber, als Einzelrache, denn fast wie der Widerhall dieses Schusses tönte es vom Bord des Dampfers herüber, die erste Kugel von dort schlug zwischen ihren beiden großen Segeln durch, die Vorstengenpardune zerschneidend, dass das schwere Tau wie eine zersprengte Kette an Deck schlug.

Der alte Brendall war ein zu alter Seemann und in der Schule der Verbrechen zu sehr ergraut, um nicht zu wissen, dass ihm jetzt, was auch geschehen sein mochte, seine spätere Rache oder Strafe zu fordern, nicht ein anderer Augenblick bleibe, sein Schiff aus der drohendsten Gefahr zu retten, in der es je gewesen war. Der Kampf war einmal begonnen und musste unterhalten werden, denn ein glücklicher Schuss konnte eben so leicht die Maschine des feindlichen Schiffes erreichen und gefahrlos machen. Während daher seine ersten Befehle der Regierung des Schoners selber galten, die Spieren herumzuwerfen und Flucht in der einzigen Richtung zu versuchen, die ihm noch einen Schatten von Möglichkeit bot, richtete sein zweiter Ruf den langen Lauf seiner Drehbasse wieder in verzweifeltem Mut dem Dampfer zu. Er hatte die Genugtuung, seinen eisernen Boten dort drüben einschlagen und die Splitter umherschleudern zu sehen.

Sein Triumph sollte aber nicht lange dauern, denn während der Bug, dem Steuer gehorchend, die neue Bahn suchte zwischen die Riffe hinein, zischte es von drüben herüber in schwerer Salve. Noch ehe der Schlag der Geschützstücke an ihr Ohr dröhnte, riss eine Kugel die Drehbasse von ihrem Aufbau, während eine andere den Vormast gerade im Herzen traf und mit dem Druck der Segel im Nu über Bord sandte.

Der Hai war ein Wrack und eine zweite Salve, die ihn an mehreren Stellen zwischen Wind und Wasser fasste, besiegelte sein Schicksal.

»Hallo ho, meine Burschen!«, schrie aber der alte Brendall, dessen Grimm mit der Gefahr wuchs, die ihn bedrohte. »Her zu mir, wir wollen dem Schuft da drüben doch zeigen, dass wir wie Männer zu sterben wissen und nicht daran denken, seine Rahnocken zu zieren. Er mag uns holen, wenn er uns haben will. Pest noch einmal, ich wollte, ich könnte dem zweiten Boot da drüben noch eine Kugel hinüberschicken.«

Der Ausruf galt dem anderen Boot des Dampfers, das fast in derselben Minute niedergelassen wurde, als des Steuermanns Kugel in so verräterischer Weise das erste traf und die schwimmenden Kameraden mit dem Knaben, der sich an die treibenden Trümmer geklammert hatte, auffischte.

»Mit der Jolle können wir ihnen vielleicht noch den Rückweg abschneiden!«, schrie der Steuermann, der von vieren der Leute gefolgt nach hinten sprang. »Sie haben keine Waffen mit. Schwer geladen, wie sie sind, können sie sich gar nicht verteidigen.«

»Das ist Wahnsinn!«, rief aber der Kapitän, während der Steuermann jedoch schon das kleine Boot niederließ und ein Gewehr aus der Waffenkiste riss. »Lasst das Boot oben, wer weiß, ob wir’s nicht noch zur Rettung brauchen.«

»Das wissen wir eben«, rief aber der Steuermann lachend zurück, während die Leute, mit denen er sich schon jedenfalls vorher besprochen hatte, wie die Katzen von Bord hinunterglitten und die Jolle abstießen, sprang er nach. Die rasch eingelegten Ruder sowie die Richtung, die er nahm, zeigten nur zu bald, dass er keineswegs gesonnen sei, den törichten Kampf mit dem ihnen dreifach an Zahl überlegenen Boot aufzunehmen, sondern sein Heil in der Flucht suchen und die Kameraden, über deren Köpfe er hauptsächlich das rasche Gericht der Rache herbeigerufen, schmählich verraten und ihrem Schicksal überlassen wolle.

»Hund!«, schrie der Kapitän in voller Wut, als er die Absicht seines Ersten Offiziers erriet. Nach den Gewehren springend riss er eines empor und drückte auf den Flüchtigen ab. Die Kugel streifte dessen Arm, fuhr aber harmlos durch den Bootsrand. Ehe er eine zweite Waffe holen konnte, war das kleine scharf gebaute Fahrzeug aus dem Bereich jedes Flintenschusses und bald daraus auch zwischen der Brandung der Riffe, in die hinein es jedenfalls seine Bahn gefunden, verschwunden.

Der Dampfer kam heran und der Ruf, sich zu ergeben, schallte von dort herüber.

Der alte Brendall selber holte als Antwort eine weiße Flagge und zog sie am Gaffelfall empor, als aber ein vollbemanntes Boot von dem Engländer herübergesandt wurde. Den Piraten in Besitz zu nehmen, empfing die Leute eine volle Musketensalve und tötete sieben oder acht von ihnen.

Als Antwort auf solche nichtswürdige Verräterei krachte eine volle Salve herüber. Als sich der Rauch verzog, sank das Räuberschiff langsam, von den gewaltigen Kugeln zerrissen, in die Tiefe. Aber nur wenige der Truppe konnten von den danach ausgesandten Booten lebendig eingefangen werden. Noch im Wasser kämpften sie mit ihren Messern wie Verzweifelte. Sie wussten, welches Los ihrer harrte und zogen den ehrenvollen Tod im Wasser dem vor, der ihnen an Bord des Kriegsschiffes als nur zu wohl verdienter Lohn ihrer Taten geworden wäre.

Der alte Brendall hatte seinem Leben selbst mit einer Pistolenkugel ein Ende gemacht.