Der Totenwirt und seine Galgengäste 9
Der Totenwirt und seine Galgengäste
Eine abenteuerliche und höchst wundersame Ritter-, Räuber-, Mörder- und Geistergeschichte aus der grauen Vorzeit, um 1860
Der Ritt zum Einsiedler
Zur selben Stunde kehrte der Einsiedler Norbert, ein ehrwürdiger Greis mit schneeweißen Kopf- und Barthaaren, aus dem Wald in seine Hütte zurück.
Bisweilen blieb er stehen und betrachtete aufmerksam ein kleines Büschel Kräuter, die er, ihren unteren Teil mit Buchenlaub umwickelt, in seiner rechten Hand hielt.
»Gift«, murmelte er, »das heftigste Gift zu plötzlichem oder zu langsamem, unentdeckbaren Mord! Aber der Kundige weiß daraus Heilmittel gegen die schwersten Krankheiten zu schaffen, welche von den besten Ärzten für unheilbar erklärt sind. Schon vielen hab ich dadurch das Leben gerettet, jedoch ohne ihnen sagen zu dürfen, dass Gift in der Flüssigkeit sei, weil sie sonst wenigstens keinen Gebrauch davon gemacht und nicht gar mich als einen Giftmischer dem Gericht angezeigt hätten. Aber ein so starkes Gift habe ich noch nicht gefunden, das auch jene Krankheiten heilen könnte, die den Unglücklichen angezaubert wurden. Warum, du mein lieber Gott, hast du mir diese Gnade noch nicht verliehen, um die einzige Tochter meines edlen Wohltäters, des Grafen von Bardenfels, heilen zu können, die infolge eines höllischen Zauberwerks hilflos von den rasenden Schmerzen Tag und Nacht gefoltert wird, wie mir die Burgknechte immer vorjammern, die mir an jedem Sonnabend so reichlich Speise und Trank, die großmütige Spende des Grafen, bringen? Aber Gott ist mächtiger als teuflisches Zauberwerk und wird dieses zur rechten Zeit zuschanden machen. Gelobt sei Gott, gelobt seien Jesus Christus und die Gottesmutter!«, fügte er mit lauter Stimme hinzu.
»In Ewigkeit, Amen!«, tönte es hinter dem Einsiedler aus dem Gebüsch, durch welches der mutige Renner Hildeberts schnaubend brach.
»Gott zum Gruß!«, rief der Junker, indem er sich aus dem Sattel schwang, und das treue Tier gebiss- und zügelfrei machte, damit es nach Belieben das fette Waldgras abweiden konnte.
»Gott mit Euch, edler Junker!«, erwiderte Norbert. »Meine alten Augen haben Euch schon lange nicht mehr gesehen.«
»Wenigstens nicht so lange wie jetzt, guter Norbert. Desto öfter habe ich an Euch gedacht.«
»Ihr habt mich also nicht vergessen?«
»Gewiss nicht, die Liebe und Dankbarkeit für die geistige Pflege, womit Ihr einst für mich Sorge trugt, hat mich stündlich an Euch erinnert.«
»Lobt mich nicht zu viel, guter Junker Hildebert! Ich habe ja nur meine Pflicht getan. Doch zur Sache! Ich frage nicht, was Euch heute zu mir führt. Ich kann mir’s wohl denken und habe eben erst, bevor ihr kamt, daran gedacht.«
»Ach, die arme Hedwig!«
»Jawohl, die gefolterte, schwer geprüfte Tochter meines unermüdlichen Wohltäters.«
»Ich bitte Euch inständig, Norbert, um ein Mittel, sie zu heilen.«
»Lieber Junker, ich weiß kein solches Mittel. Um eine durch Zauberei entstandene Krankheit zu heilen, müsste ich selbst ein mächtigerer Zauberer sein, als jener, dessen teuflisches Werk jene Krankheit ist. Ich bin aber kein Zauberer.«
»Ihr kennt jedoch so viele geheime Kräfte der Natur, dass Ihr durch eine von diesen gewiss der jungen Gräfin helfen könnt.«
»Gegen Zauberei reichen die Wirkungen dieser Kräfte nicht aus.«
»Soll ich denn wirklich ohne Hilfe heimkehren müssen?«
»Nur bei Gott ist hier Hilfe zu finden.«
»So gebt mir wenigstens einen guten Rat, Gottes Hilfe zu erlangen!«
»Betet!«
»Wenn Gebete den Qualen des Fräuleins, wär es auch nur durch den Tod, ein Ende zu machen vermöchten, so wäre es längst schon geschehen. Wir alle beten seit sechs Monaten unablässig: der Graf, die Gräfin, die fromme Hedwig, ich, das ganze Burggesinde. Der Burgkaplan betet täglich drei Stunden vor dem hochwürdigsten Gut, und alles vergebens! Gott hat kein Erbarmen mit uns, und die Hölle triumphiert.«
»Frevelt nicht, Junker Hildebert, und verzweifelt weder an der Gerechtigkeit noch an der Barmherzigkeit Gottes.«
Norbert kniete an dem hohen Kreuzstamm nieder, der neben der Hütte emporragte, faltete andächtig die Hände und schaute still betend hinauf zu dem Bild des gekreuzigten Heilands. Die einzelnen Strahlen der Sonne umschimmerten sein ehrwürdiges Haupt und Antlitz wie mit einer Glorie. So lag er auf den Knien, wie schon der Erde entrückt, in höherer Verklärung wohl eine Viertelstunde lang, während Hildebert schweigend für Hedwig betete.
Dann erhob sich der Einsiedler, fasste die Hand des Junkers und führte ihn in seine Zelle, in deren Hintergrund sich ein kleiner Altar erhob.
»Hildebert«, sagte er mit einer feierlichen Stimme, »ich habe so eben Gott im Gebet um seine heilige Eingebung angefleht, ob einer von jenen äußersten Fällen durch die Krankheit der jungen Gräfin Hedwig eingetreten sei, in denen es mir erlaubt ist, von einem Mittel in höchster Not Gebrauch zu machen, das mir einst der Patriarch von Jerusalem am Heiligen Grab unseres Erlösers zum Andenken gegeben hat. Nun sieh und höre!«
Norbert trat zum Altärchen, drehte den Tabernakel und nahm etwas heraus, das einer Platte von ungefähr einer Spanne im Quadrat glich und in ein mit Ereignissen aus der Leidensgeschichte Jesu bemaltes weißes Tuch gehüllt war, welches er wegnahm und auf den Altar legte.