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Rübezahl – Die Höllenfahrt des ungetreuen Schneiders

Rübezahl
Der Berggeist des Riesengebirges
Sagen und Schwänke neu erzählt nach R. Münchgesang
Die Höllenfahrt des ungetreuen Schneiders

In Hirschberg wohnte ein Schneidermeister, der sowohl wegen seiner Geschicklichkeit als auch wegen seiner Gesinnung im besten Ruf stand. Über seine Tür hatte er den sinnigen Spruch schreiben lassen: Üb’ immer Treu und Redlichkeit! Und namentlich jüngere Leute ermahnte er zum Guten und Schönen.

»Wenn alle Menschen ehrlich wären«, pflegte er oft zu sagen, »dann wäre alles gut, dann hätten wir den Himmel auf Erden.« Oder er sagte zuweilen mit besonderer Betonung: »Tut das Rechte, ihr lieben jungen Bürschlein, wenn der Vorteil davon auch nicht gleich sichtbar ist, und lasst euch das auch nicht so oft sagen, ihr munteren Mädchen, es ist besser so. Könnt euch drauf verlassen. Ehrlich währt am längsten!«

Durch solch ehrenhafte Gesinnung erhielt der wackere Schneidermeister nicht nur einen guten Ruf, sondern auch eine tüchtige Kundschaft. Die Bürger wählten ihn in den Rat der Stadt, und mancher Vater sagte zu seinen Buben: »Seht da den Meister Möckel, den wackeren Mann, den nehmt euch zum Muster! Der hat es weit gebracht und ist ein wohlhabender und allgemein geachteter Bürger, vor dem jeder den Hut zieht. Und wodurch, ihr Buben? Bloß dadurch, dass er ein ehrlicher Mann ist. Das merkt euch, ihr Schlingel!«

In der Stadt lebten noch ein paar andere Schneider, die waren nicht gut auf Herrn Möckel zu sprechen. Mit seiner Ehrlichkeit wäre es so und so, mancher schöne Lappen flöge in seine Hamsterecke, und überhaupt käme keiner von ihm heraus, den er nicht gründlich übers Ohr gehauen hätte.

Verständige Leute schüttelten die Köpfe, wenn sie solche Lästerungen vernahmen, und wollten genau wissen, dass nur der Futterneid der Konkurrenten aus ihnen sprach. Herr Möckel hatte nämlich die feine Kundschaft und arbeitete nur für Junker und reiche Kaufleute, während die anderen Schneider das niedere Volk und die Bauersleute bedienten, an denen wenig zu verdienen war.

Eines Tages stieg Rübezahl vom Gebirge herunter und kam in die Stadt, um die Ehrlichkeit des berühmten Schneiders zu prüfen. Er kam angefahren wie ein Junker, in einer Staatskutsche mit zwei Bediensteten hinten drauf, und war begleitet von einem Paar Windspielen. Meister Möckel wusste sich zu benehmen und kannte seine Leute, machte also einen tiefen Diener und fragte sehr zuvorkommend nach Befehlen.

Also ein polnischer Rock sollte es werden, ein Galakleid, was der Herr bestellte, und dazu hatte er nicht nur das feinste englische Lincolntuch, sondern auch goldene Schnüre und Knöpfe mitgebracht. Vor allem die Letzteren erregten des Schneiders Wohlgefallen.

Da nahm er Maß, verglich das köstliche Tuch damit, machte ein bedenkliches Gesicht, notierte und studierte und rückte schließlich damit heraus, dass der Tuchhändler zu seinem eigenen Schaden dem gnädigen Herrn zu wenig Tuch abgeschnitten habe. Das sagte er freilich jedem, der sich den Stoff nicht von ihm besorgen ließ. Nun wusste Rübezahl, dass er es weder an der Menge noch an der Güte hatte fehlen lassen, durchschaute den Schalk und sagte nur, er hoffe, dass der Meister mit dem Vorhandenen auskommen werde.

Da seufzte der Ehrenmann, schüttelte den Kopf, und schwer rang es sich aus seiner Brust heraus: »Ich will sehen und mein möglichstes tun.«

Dann wurde der Preis festgesetzt. Rübezahl beglich die Summe im Voraus, und der Tag, an dem das Gewand abgeholt werden sollte, wurde festgelegt. Endlich sah ihn der Berggeist sehr lange und scharf an und sagte: »Ich hoffe ehrlich bedient zu werden.«

»Daran braucht der gnädige Herr nicht zu zweifeln«, antwortete der Schneider sehr demütig, »ich möchte nicht leben ohne Ehrlichkeit.«

Dann verabschiedete er den Herrn unterwürfig. Als dieser weg war, machte er ihm eine lange Nase, sprang in der Stube umher und sagte: »Drei Ellen schinde ich heraus! Die fliegen in meine Hamsterecke.«

»Recht ist’s nicht«, meinte der Lehrbub, »ich machte mir ein Gewissen daraus.«

»Eine Weste nach neuem Pariser Muster mache ich mir daraus, du dummer Junge!«, antwortete er, »und dafür wüsste ich auch schon einen Käufer. Unsereiner muss seinen Vorteil wahrnehmen, sonst kommt keiner auf einen grünen Zweig. Ehrlichkeit hin, Ehrlichkeit her, das sagt man so den Leuten, weil es ihnen just gefällt; seine innersten Gedanken verrät keiner. Die reichen Leute müssen bluten, die haben’s, die können’s. Und frag doch einmal, ob einer unter ihnen das viele Geld so ganz auf ehrliche Weise errungen hat! Wo viel Vermögen ist, da ist mindestens die Hälfte davon zusammengestohlen. Die Hauptsache ist, dass einer sich nicht erwischen lässt, wenn er im Trüben fischt.«

Als der Tag der Ablieferung kam, sandte Rübezahl, wie verabredet, einen Diener.

»Ah«, rief ihm der Schneider zu, »Mosjö Schang, der Vertraute des gnädigen Herrn, beliebt den Rock in Empfang zu nehmen!

Viel Ehre, Mosjö Schang. Hier ist er. Meine Empfehlung an den gnädigen Herrn!«

Der Bedienstete, der schließlich kein anderer war als Rübezahl selber, besah das Kleidungsstück und fand die Ausführung sehr unordentlich und fehlerhaft. Dann fasste er den Schneider fest ins Auge, sodass der Spitzbube eine Ähnlichkeit mit dem Blick Rübezahls herausfand und unruhig wurde.

»Hat der Stoff gereicht?«, fragte Rübezahl.

»Knapp, Mosjö Schang, ich habe freilich meine ganze Kunst zusammennehmen müssen. Es war wirklich nicht leicht, mit so wenig Tuch etwas Rechtschaffenes zuwege zu bringen, aber der gnädige Herr hatte es ja nun einmal so befohlen.«

»Sind das die nämlichen goldenen Knöpfe, die Ihr von dem Herrn erhalten habt, Meister?«, fragte Rübezahl weiter und ließ dabei den Schelm nicht aus dem Auge.

»Freilich, Mosjö Schang, ich hatte keine anderen sonst.«

Als Rübezahl gegangen war, sagte der Lehrjunge. »Meister, der Junker wird tüchtig schelten, dass Ihr ihm seinen Rock mit der heißen Nadel genäht habt.« Er meinte damit, dass das Gewand ziemlich unordentlich angefertigt sei.

»Du Dummerjan, das verstehst du wieder nicht«, antwortete er. »Es ist ein großer Unterschied, ob man für arme oder reiche Leute zu liefern hat. Wenn es die Armen sind, so sehen sie sich jeden Stich genau an und mäkeln darüber; denn so ein Wams soll dem Mann halten, solange er lebt, und sich dann noch auf den Sohn oder Enkel vererben, aber mit den Reichen ist das eine andere Sache. Die sehen nicht so genau hin, und haben sie ein solches Stück einige Male getragen, so ist es ihnen leid. Sie hängen es in den Schrank und lassen es von den Motten zerfressen.«

Bei diesen Reden war es dem Betrüger aber doch nicht so ganz wohl. Der Junker als auch sein Diener hatten ihn so merkwürdig angesehen, als ob sie auf den Grund seiner Seele sehen wollten.

Unter anderen Betrügereien hatte der Schelm den Handel bald vergessen und schickte sich an, seine große Sommerreise zu machen. Er ging dann regelmäßig nach Aupa zu seiner Schwester und machte sich da gute Tage. Den Hirschbergern aber machte er weis, dass er nach Paris gehe.

»Ein Schneidermeister wie ich«, sagte er jedem, der es hören wollte, »muss immer das Neueste und Beste haben, wenn er sich die feine Kundschaft erhalten will. Und woher bekommt man die neuesten und geschmackvollsten Muster, wenn nicht aus der herrlichsten Hauptstadt der Welt? Dort habe ich gute Freunde, die mich jedes Jahr schon mit Schmerzen erwarten und mir die schönsten Schnitte und Muster aufheben, die kein anderer sonst bekommt. Ja, es muss eben einer auch verstehen, mit den Leuten umzugehen. Sie wissen eben, dass sie es mit einem ehrlichen Geschäftsmann zu tun haben.«

Da dachte mancher: Meister Möckel ist doch ein Schneider, wie er sein muss. Geht nach Paris, um sein Geschäft in die Höhe zu bringen. Ganz Schlesien kann stolz auf ihn sein.

Der ehrliche Schneider reiste allein zu Fuß und kam so auf die Höhe des Gebirges mit munterem Tralala und Hopsasa.

»Ich bin doch der klügste Kerl!«, rief er übermütig in das Gebirge hinein. »Die anderen sind mir alle zu dumm.«

Da wurde ihm auf einmal die rosige Laune verdorben, denn Rübezahl kam geradewegs auf einem Geißbock ihm entgegengeritten und versperrte ihm den Weg. Der Schneider sah zu seinem Entsetzen, dass er jenen vornehmen Herrn vor sich hatte, der vor einiger Zeit schändlich von ihm betrogen worden war, denn er trug den verpfuschten polnischen Rock und jene strengen Gesichtszüge, die ihn damals erschreckt hatten, und blitzschnell kam ihm die Erkenntnis, dass der Gebirgsherr jetzt mit ihm abrechnen wolle.

»Kommst du endlich in mein Gehege!«, donnerte ihn Rübezahl an, »ich habe lange auf dich gewartet. Oder meinst du, ich würde es ungestraft hinnehmen, dass du mich wie so viele andere mit dem Tuch betrogen, dass du mir Messingknöpfe angenäht hast statt der goldenen, die ich dir gab, und mir für den höchsten Preis ein liederlich gestepptes Gewand gearbeitet hast?«

Der Schneider zitterte bei diesen Worten wie Espenlaub und bat um Gnade.

»Ungestraft kommst du mir nicht davon«, fuhr Rübezahl fort, »ich will dir deine Reise nach Paris versalzen und dir zeigen, wer der Klügere von uns beiden ist. Hier steigst du auf und reitest dahin, woher du gekommen bist, und nicht eher kommst du wieder mit den Füßen auf die Erde, bis du bekennst, dass du ein Schelm und Dieb gewesen bist und dich aufrichtig bessern willst.«

Ehe sich’s der Schneider versah, war Rübezahl abgestiegen und hob ihn mit starker Hand auf den Geißbock. Da saß Meister Möckel fest wie angeschmiedet. Der Berggeist klatschte in die Hände, und nun ging die Reise durch Busch und Dorn, über Hügel und Felder, durch die Lüfte nach Hirschberg hinein. Da trabte der Bock mit dem verzweifelten Schneider durch alle Gassen, hinterher zog ausgelassen die gesamte Jugend der Stadt, denn die Schule war eben aus. Hintendrein zog das übermütige Marktvolk, schließlich folgte alles, was Beine hatte, dem Schneider, und jauchzend rief es aus allen Kehlen: »Holdrio! Jetzt geht’s nach Paris!«

Der Schneider, der nicht imstande war, von seinem unseligen Reittier herunterzukommen, sah schließlich keine andere Rettung, als nach Rübezahls Vorschrift zu handeln.

So rief er denn laut in die Menge hinein: »Hört, Leute, ihr habt mich bisher für einen ehrlichen Mann gehalten, aber ich sage euch: Sehr mit Unrecht, und dafür straft mich jetzt der Herr vom Berge. Von jetzt ab soll es aber anders werden, und ich verspreche allen, dass ich die Ehrlichkeit nicht nur im Munde führen, sondern mit der Tat beweisen will.«

Sobald dieses Sündenbekenntnis heraus war, merkte der Schalk, dass seine Füße wieder den Erdboden berührten, und zugleich war das unheimliche Reittier verschwunden. Keiner hat dieses mehr beobachtet und gesehen. Es war wie vom Erdboden verschluckt. Der Schneider aber hielt Wort und wurde ehrlich und rechtschaffen. Kein Stück Tuch flog bei ihm fortan in die Hamsterecke, und mit den Reisen nach Paris war es ein für alle Mal vorbei.