Die Trapper in Arkansas – Band 2.12
Gustave Aimard (Olivier Gloux)
Die Trapper in Arkansas Band 2
Zweiter Teil – Waktehno – der, welcher tötet
Kapitel 1 – Treuherz
Die Lage der Dinge hatte sich völlig geändert.
Die Jäger, die sich einen Augenblick vorher in der Gewalt der Indianer befanden, waren nicht nur frei, sondern konnten jetzt sogar harte Bedingungen stellen.
Viele Flinten waren auf den Kanadier gerichtet worden, zahlreiche Pfeile zielten nach ihm. Aber auf ein Zeichen Adlerkopfs waren die Flinten zurückgezogen und die Pfeile wieder in die Köcher gesteckt worden.
Die Schmach, von zwei Männern überlistet worden zu sein, die ihnen mitten in ihrem Lager keck trotzten, entstammte die Herzen der Comanchen zu heftigem Zorn. Sie erkannten die Unmöglichkeit eines Kampfes mit ihren kühnen Widersachern. Was konnten sie auch jenen unerschrockenen Waldläufern, die ihr Leben für nichts achteten, anhaben?
Sie töten?
Sie würden die Gefangenen, die man retten wollte, vor ihrem Ende erbarmungslos umgebracht haben.
Bei den Rothäuten ist die Verwandtenliebe das entwickelste Gefühl.
Der wildeste Krieger wird nicht anstehen, für seine Frau und Kinder Zugeständnisse zu machen, die ihm sonst die grausamsten Martern nicht entreißen würden. Und Adlerkopf dachte, als er seine Frau und seinen Sohn in den Händen Belhumeurs sah, nur an ihre Rettung.
Die Indianer sind vielleicht diejenigen Menschen, die sich den Anforderungen einer unvorhergesehenen Lage am leichtesten fügen.
Der Comanchenhäuptling drängte den Hass und den Zorn, die ihn verzehrten, in sein Herz zurück. Er warf mit einer edlen und anmutigen Bewegung, die Decke, welche ihm als Mantel diente, zurück und näherte sich den Jägern mit ruhigem Gesicht und lächelndem Mund.
Diese, denen die Handlungsweise aus alter Erfahrung hinlänglich bekannt war, erwarteten scheinbar ruhig den Erfolg ihres kühnen Handstreiches.
»Meine bleichen Brüder«, sagte der Häuptling, »sind voll Weisheit, obgleich ihr Haar schwarz ist. Sie kennen alle Listen, deren sich große Krieger zu bedienen pflegen, sie besitzen die Schlauheit des Bibers und den Mut des Löwen.«
Beide Männer verneigten sich schweigend.
Adlerkopf fuhr fort: »Da sich mein Bruder Treuherz im Lager der Comanchen von den großen Seen befindet, so ist die Stunde gekommen, wo die zwischen ihm und den Rothäuten aufgestiegenen Wolken zerteilt werden sollen. Treuherz ist gerecht, er rede ohne Furcht. Er steht vor den berühmten Häuptlingen, welche ihr Unrecht, wenn sie ein solches gegen ihn begangen haben sollten, unbedenklich eingestehen werden.«
»Ha! Ha!«, antwortete der Kanadier hohnlachend, »Adlerkopf har ja seine Gesinnung gegen uns recht schnell geändert. Meint er, uns durch leere Worte täuschen zu können?«
Ein Blitz des Hasses leuchtete in den dunklen Augen des Indianers auf. Aber es gelang ihm, sich mit einer beinahe übermenschlichen Anstrengung zu bezwingen.
Plötzlich stellte sich ein Mann zwischen die Redenden.
Es war Eshis, der geehrteste Krieger des Stammes.
Der Greis erhob langsam die Arme.
»Hört mich an, meine Kinder«, sagte er, »alles muss sich heute aufklären, die bleichen Jäger werden die Kalumets im Rat rauchen.«
»Also sei es«, sagte Treuherz.
Auf einen Wink der Sonne versammelten sich die angesehensten Anführer um ihn.
Belhumeur hatte seine Stellung beibehalten. Er war bereit, seine Gefangenen auf die geringste verdächtige Bewegung zu opfern.
Als die Pfeife im Kreis, der sich um die Jäger gebildet hatte, herumgegangen war, sammelte sich der alte Häuptling. Dann, nachdem er sich vor den Weißen verneigt hatte, sprach er wie folgt: »Krieger, ich danke dem Herrn des Lebens dafür, dass er uns Rothäute lieb hat und dass er uns heute die bleichen Männer schickt, damit sie uns endlich ihr Herz öffnen. Fasst Mut, junge Leute, lasst Eure Seelen nicht schwer werden und haltet den bösen Geist fern von Euch. Wir lieben dich, Treuherz, wir haben von deiner Menschlichkeit gegenüber den Indianern gehört. Wir glauben, dass dein Herz offen ist, und dass das Blut in deinen Adern hell wie die Sonne fließt. Es ist wahr, dass wir Indianer nicht viel Verstand haben, wenn uns das Feuerwasser beherrscht, und dass wir bei verschiedenen Gelegenheiten dein Missfallen erregt haben mögen. Aber wir hoffen, dass du nicht mehr daran denken werdest und dass, solange du und wir in der Prärie sind, wir nebeneinander jagen werden, wie es Kriegern, die sich lieben und ehren, zukommt.«
Treuherz antwortete: »Ihr, Häuptlinge und übrigen Glieder der Nation der Comanchen von den großen Seen, deren Augen offen sind. Ich hoffe, dass Ihr den Worten meines Mundes Gehör schenken werdet. Der Herr des Lebens hat mir das Gehirn geöffnet und hat meiner Brust freundliche Worte eingeblasen. Mein Herz ist voll Gefühl für Euch, Eure Weiber, Eure Kinder. Und was ich Euch jetzt sage, entspringt aus meinem und meines Freundes verborgensten Gefühlen. Nie ist mein Hatto in der Prärie den Jägern Eurer Nation verschlossen worden. Warum bekriegt Ihr mich? Warum martert Ihr meine Mutter, die eine alte Greisin ist? Und warum wollt Ihr mir das Leben nehmen? Es widersteht mir, indianisches Blut zu vergießen. Denn, ich wiederhole es, trotz des Bösen, das Ihr mir zugefügt habt, eilt Euch mein Herz entgegen.«
»Oah!«, unterbrach ihn Adlerkopf, »mein Bruder redet gut, aber die Wunde, die er mir beigebracht, ist noch nicht vernarbt.«
»Mein Bruder ist ein Narr«, antwortete der Jäger. »Hält er mich für so ungeschickt, dass ich ihn nicht hätte töten können, wenn das meine Absicht gewesen wäre. Ich werde Euch beweisen, wessen ich fähig bin und wie ich den Mut eines Kriegers auffasse. Es kostet mich nur einen Wink, und jene Frau und jenes Kind haben aufgehört zu leben.«
»Ja«, bekräftigte Belhumeur.
Ein Zittern durchlief die Reihen der Versammlung.
Adlerkopf fühlte, dass ihm der kalte Schweiß auf der Stirn stand.
Treuherz schwieg einen Augenblick und heftete seinen Blick, dessen Ausdruck unbeschreiblich war, auf die Indianer. Dann zuckte er verächtlich die Achseln, warf seine Waffen zu seinen Füßen und, die Arme über seiner breiten Brust kreuzend, wandte er sich zu dem Kanadier.
»Belhumeur«, sagte er in ruhigem und vollkommen klarem Ton, »gib den zwei armen Geschöpfen die Freiheit wieder.«
»Was fällt dir ein?«, rief der Jäger ganz verblüfft aus. »Das wäre dein Todesurteil!«
»Ich weiß es.«
»Nun?«
»Ich bitte dich darum.«
Der Kanadier antwortete nicht. Er fing an, durch die Zähne zu pfeifen, zog sein Messer und durchschnitt mit einem Zug die Fesseln seiner Gefangenen. Diese sprangen wie Jaguare und eilten mit Freudengeschrei unter ihre Freunde, um sich zu verbergen. Belhumeur steckte hierauf sein Messer wieder in den Gürtel, warf seine Waffen weg, stieg vom Pferd und stellte sich entschlossen neben Treuherz.
»Was tust du da?«, rief dieser aus. »Rette dich, mein Freund!«
»Mich retten, warum das?«, antwortete der Kanadier sorglos, »mit Nichten. Da man endlich doch sterben muss, ist es mir eben so lieb, ich sterbe lieber heute als morgen, vielleicht bietet sich mir keine so gute Gelegenheit wieder.«
Beide Männer schüttelten sich kräftig die Hand.
»Jetzt, Häuptlinge«, sagte Treuherz mit ruhiger Stimme zu den Indianern gewandt, »sind wir in Eurer Gewalt, handelt, wie Euch gut dünkt.«
Die Comanchen sahen sich einen Augenblick betroffen an. Die stoische Entsagung dieser beiden Männer, die durch die kühne Tat des einen von ihnen in der Lage waren, nicht nur sich zu retten, sondern auch Bedingungen zu stellen, und die, anstatt diesen ungeheuren Vorteil zu benutzen, ihre Waffen von sich warfen und sich in ihre Hände gaben, schien ihnen die berühmtesten Heldentaten, deren man sich bei ihrem Volk erinnern konnte, zu übertreffen.
Es folgte eine ziemlich lange Pause, während welcher man die Herzen der eisernen Männer hätte können in ihrer Brust klopfen hören, denn durch ihre urwüchsige, ganz auf das Gefühl wirkende Erziehung sind sie befähigter, als man glauben sollte, alle wahren Empfindungen und wirklich edlen Handlungen zu würdigen.
Endlich warf Adlerkopf nach einigem Zögern seine Waffen weg. Sich den Jägern nähernd, sagte er mit bewegter Stimme, welche gegen die gleichgültige und unbewegte Stimme, die er vergeblich beizubehalten suchte, seltsam abstach: »Es ist wahr, Ihr Krieger der Bleichgesichter, dass Ihr vielen Verstand besitzt, welcher die Worte, die Ihr zu uns redet, mildert, und das hören wir alle. Auch wissen wir, dass die Wahrheit Eure Lippen geöffnet hat. Es fällt uns Indianern, die wir nicht die Einsicht der Weißen besitzen, sehr schwer, nicht zuweilen tadelnswerte Handlungen zu begehen. Aber wir hoffen, dass Treuherz die Haut von seinem Herzen ziehen werde, damit es klar sei, wie das unsere, und dass zwischen uns das Beil so tief vergraben werde, dass die Söhne unserer Enkel es nach tausend Monden und noch hundert dazu, nicht wiederfinden können.«
Hierauf legte er dem Jäger die Hände auf die Schulter und küsste ihn auf die Augen, indem er fortfuhr: »Treuherz möge mein Bruder sein!«
»Es sei!«, sagte der Jäger, über diese Entwicklung erfreut. »Ich werde für die Comanchen von nun an so viel Freundschaft hegen, wie sie mir bisher Misstrauen eingeflößt haben.« Die indianischen Häuptlinge drängten sich um ihre neuen Freunde, welche sie mit der Naivität, die unverdorbenen Charakteren eigen ist, mit Zeichen der Freundschaft und Ehrerbietung überhäuften.
Die beiden Jäger waren unter dem Stamm der Schlange längst bekannt und ihr Ruf war begründet. Die Berichte von ihren Taten hatten oft die jungen Leute, denen sie nachts am Feuer von den alten Kriegern erzählt wurden, mit Bewunderung erfüllt.
Die Versöhnung zwischen Treuherz und Adlerkopf war aufrichtig gewesen, keine Spur des früheren Hasses bestand mehr unter ihnen.
Der Heldenmut des weißen Jägers hatte den Groll des Kriegers der Rothäute überwunden.
Beide Männer saßen vor dem Eingang einer Hütte und plauderten friedlich miteinander, als ein lauter Schrei ertönte und ein Indianer, mit vor Schreien entstellten Zügen, sich in das Lager stürzte.
Jeder drängte sich um den Mann, um die Neuigkeit zu hören. Aber als der Indianer Adlerkopf erblickte, trat er zu ihm.
»Was geht vor?«, fragte der Häuptling.
Der Indianer richtete einen wilden Blick auf Treuherz und Belhumeur, welche so wenig wie die anderen begreifen konnten, woher der panische Schrecken komme.
»Gebt wohl acht, dass die beiden Bleichgesichter nicht entkommen. Wir sind verraten«, sagte er, infolge seines Laufens mit abgebrochener, atemloser Stimme.
»Mein Bruder spreche deutlicher«, befahl Adlerkopf.
»Alle weißen Trapper, die langen Messer des Westens haben sich vereinigt. Sie bilden einen Kriegstrupp von mehr als hundert Mann. Sie rücken heran und haben ihre Kräfte so verteilt, dass sie das ganze Lager von allen Seiten zugleich einschließen können.«
»Weißt du gewiss, dass die Jäger als Feinde kommen?«, fragte der Häuptling wieder.
»Wie könnte man anders glauben?«, antwortete der indianische Krieger. Sie kriechen wie Schlangen im hohen Gras, mit vorgestreckter Flinte und das Skalpmesser zwischen den Zähnen haltend. Häuptlinge, wir sind verraten. Jene beiden Männer sind in unsere Mitte geschickt worden, um unsere Wachsamkeit zu täuschen.«
Adlerkopf und Treuherz wechselten ein Lächeln, dessen Ausdruck unbeschreiblich war und welches für andere als für sie ein Rätsel blieb.
Der Häuptling der Comanchen wandte sich zu dem Indianer. »Hast du«, fragte er, »denjenigen gesehen, der die Jäger anführt?«
»Ja, ich habe ihn gesehen.«
»Und ist es Amick – der Schwarze Hirsch – der erste Wächter der Biberfallen Treuherz’?«
»Wer könnte es sonst sein?«
»Gut, entferne dich!«, sagte der Häuptling und verabschiedete den Boten mit einer Kopfbewegung. Dann wandte er sich zu dem Jäger.
»Was ist zu tun?«, fragte er ihn.
»Nichts«, antwortete dieser, »das ist meine Sache, mein Bruder, lass mich allein handeln.«
»Mein Bruder kann tun, was er will.«
»Ich gehe den Jägern entgegen«. Adlerkopf mag seine jungen Leute bis zu meiner Rückkehr im Lager behalten.«
»Das soll geschehen.«
Treuherz warf seine Flinte über die Schulter, gab Belhumeur einen Händedruck, lächelte dem Comanchenhäuptling zu und schritt mit dem ihm eigentümlichen sicheren und zugleich ruhigen Schritt dem Wald zu. Er verschwand bald hinter den Bäumen.
»Hm!«, sagte Belhumeur, idem er seine indianische Pfeife anzündete, »du siehst, Häuptling, dass es in dieser Welt zuweilen keine schlechte Spekulation ist, wenn man sich von seinem Herzen leiten lässt.«
Nachdem er diese philosophische Sentenz ausgesprochen hatte, die ihm überaus treffend vorkam, hüllte sich der Kanadier selbstzufrieden in eine dicke Rauchwolke ein.
Alle an den Grenzen des Lagers verstreuten Schildwachen wurden auf Befehl des Häuptlings zurückbeordert.
Die Indianer erwarteten angstvoll das Resultat der von Treuherz ergriffenen Maßregel.