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Der Teufel auf Reisen 15

Carl von Kessel
Der Teufel auf Reisen
Erster Band
Ein humoristisch-satirischer Roman aus dem Jahr 1870
Viertes Kapitel – Teil 3
Eine Antwort auf eine Verleumdung

»Sie alle, meine Herren, sind mit dem Leben in den großen Städten zur Genüge bekannt – mit jener glänzenden Außenseite desselben wenigstens, die für den Uneingeweihten so viele Anziehungskraft besitzt und allen denen, welchen die Mittel zu Gebote stehen, ihre Wünsche zu befriedigen, in der Tat schon hier auf Erden die Pforten zu einem Paradies öffnet, das demjenigen nicht nachsteht, welches Mohammed seinen Gläubigen in Aussicht stellt. Aber ob Sie auch gleichzeitig einige tiefere Blicke nach einer anderen Seite hin geworfen haben, wo Kummer, Armut, Sorgen und Verlassenheit ihre grausame Herrschaft ausüben, das ist eine andere Frage. Verlassenheit und Hilflosigkeit habe ich gesagt, meine Herren, und dies bezieht sich vor allem auf mein Geschlecht, denn glauben Sie, manches gute und brave Mädchen, welches die Verhältnisse schon früh verwaist in die Welt hinausstoßen, muss sich das Stück Brot, was ihr für anstrengende und mühselige Arbeit gereicht wird, unter Seufzern und bitteren Tränen erkämpfen. Die schönen Tage ihrer Jugend gehen worüber, ohne dass sie von dem milden Hauch derselben berührt wird. Spreche mir niemand von der Tyrannei der Großen, vom Druck, welchen der Reiche auf den Armen ausüben soll. Steigen Sie in das mittlere Geschäftsleben hinunter, meine Herren, sehen Sie, wie eine hartherzige Prinzipalin die grausame Tyrannin gegenüber den armen Mädchen spielt, welche sie in ihrem Laden sitzen hat. Beobachten Sie, mit welcher Gefühllosigkeit von anderer Seite wieder so häufig auf die hilfsbedürftige Lage der armen Handarbeiterin spekuliert wird, um ihr geringes Verdienst bei jeder sich darbietenden Gelegenheit durch Abzüge zu schmälern. Erwägen Sie, in welcher Weise oft die Bedingungen ausgesprochen werden, unter welchen man bereit ist, einem hübschen Gesicht Arbeit zu geben. Ziehen Sie endlich in Betracht, wie manche arme Waise, statt eine wohlwollende, teilnehmende Pflegemutter zu finden, schon frühzeitig in die Hände einer Megäre gerät. Sie werden mir recht geben müssen, dass alle diese Übel weniger in unseren äußeren Staatseinrichtungen als in den Fehlern unserer gesellschaftlichen Zustände liegen, die nur nach und nach und erst dann beseitigt werden dürften, wenn mit der zunehmenden Bildung sich auch die Humanitätsbegriffe und das sittliche Gefühl für Recht und Billigkeit erweitern.

Doch entschuldigen Sie diese Abschweifung und lassen Sie mich zu meiner Erzählung zurückkehren. Es mögen jetzt ungefähr zwölf Jahre her sein, als in Magdeburg eine fünfzehnjährige Waise, die weder Verwandte noch Freunde hatte, in dem Haus einer Witwe, die ein Hutgeschäft besaß, als Pflegebefohlene untergebracht wurde.«

Herr von Bellfort hob bei diesen letzten Worten seinen Kopf in die Höhe und wurde plötzlich ein sehr aufmerksamer Zuhörer.

»Diese alte Frau«, fuhr die Erzählerin fort, »war gegenüber dem jungen Mädchen, welches wie ich Katharina hieß, hart und gefühllos, aber sie wurde es noch mehr durch die Einflüsterungen ihres Sohnes, der neben einem verdorbenen, zu jeder Schlechtigkeit fähigen Herzen, als Hauptzüge seines Charakters zwei sonst sich schroff entgegenstehende Eigenschaften entwickelte: eine unverkennbare, mit den Jahren immer mehr zunehmende Geldgier nämlich, und ein ehrsüchtiges Bestreben zu glänzen, welches er schon damals in seinen beschränkten Verhältnissen bei jeder Gelegenheit an den Tag zu legen bemüht war. Anton …«

Bei diesem Namen zuckte der Baron zusammen und fuhr so merklich empor, dass sich die Blicke der Anwesenden verwundert auf ihn richteten.

»Anton also«, erzählte Frau Walden weiter, indem sich ihren Blick fest auf Bellfort heftete, »Anton hasste die junge Katharina, denn sein Geiz glaubte sich durch sie beeinträchtigt. Er grollte über jeden Bissen, welchen sie zum Munde führte und erzitterte bei dem Gedanken, dass es seiner Mutter bei einem Anfall von Reue am Ende noch in der letzten Stunde einfallen könnte, der schlecht behandelten Waise zur Beruhigung ihres Gewissens ein kleines Legat auszusetzen. Aus diesen Gründen sann der verworfene Mensch täglich auf Mittel, die arme Katharina aus dem Haus zu vertreiben. Er glaubte dies am ehesten zu erreichen, wenn er versuchte, ihr das Leben möglichst zu verbittern. Die Mittel hierzu wusste er in der raffiniertesten und grausamsten Weise ausfindig zu machen.

Im strengsten Winter, bei einer Kälte von zwanzig Grad, musste das arme Kind im ungeheizten offenen Laden bis spät in die Nacht sitzen. Mit von Frost aufgeschwollenen Händen wurde sie von dem Buben in seiner Nichtswürdigkeit, unter dem Vorwand, ihre Handschrift zu verbessern, sogar zu kalligrafischen Übungen mitten in dieser Eisregion gezwungen. Wenn sie dann endlich nach beendetem Geschäft spät am Abend in das gemeinschaftliche Wohnzimmer zurückkehrte, wurde sie von dem jungen Tyrannen, unter der Behauptung, dass sie ihre Arbeiten nachlässig gemacht habe, mit Schimpfworten empfangen, die sich mitunter sogar bis zu körperlichen Misshandlungen steigerten.«

Hier hielt Frau Walden einen Augenblick inne. Man sah es ihr an, wie sie mutig ein paar Tränen hinunter zu kämpfen suchte. Die Blicke der sechs Herren aber richteten sich in so drohender Weise auf den Baron, dass dieser kreideweiß wurde und verlegen seinen Hut in den Händen zerknitterte.

»Was die Waise diesen Misshandlungen entgegenzusetzen vermochte«, fuhr die Dame fort, »waren einsam vergossene Tränen und stille Gebete zu Gott um Erlösung aus dieser Hölle. Nach zwei Jahren starb endlich Frau Wilhelmi.«

Bei diesem Namen zuckte Bellfort abermals heftig zusammen und stierte Frau Walden wie eine Erscheinung aus einer anderen Welt an. Diese hatte keineswegs die Wirkung außer Acht gelassen, welche ihre Worte bei dem kühnen Glücksritter hervorriefen, aber sie tat so, als bemerke sie es nicht und fuhr mit bewegter Stimme in ihrer Erzählung folgendermaßen fort:

»Das Erste, was der junge Tyrann tat, war, dass er die Waise auf die Straße stieß. Mit einem leichten Bündel unter dem Arm, das seine ganzen Habseligkeiten enthielt, verließ das junge Mädchen das Haus, in dem sie so vieles hatte erdulden müssen. Diesmal rollten keine Tränen über seine Wangen, denn so verlassen es auch dastand, so dankte es doch den Himmel für die Befreiung aus solcher Knechtschaft. Seine Brust hob sich leichter, denn es befand sich ja jetzt nicht mehr in der Gewalt seines rohen, gefühllosen Zuchtmeisters. An der Straßenecke blieb Katharina stehen und richtete den Blick noch einmal auf das unheimliche Haus, aber kein Fluch ging über ihre Lippen, sondern ein stilles Gebet um Besserung für den Elenden. Dann schritt sie mit gesenktem Haupt durch die belebten Straßen und suchte einen alten Bekannten ihrer verstorbenen Eltern auf, der sich stets als ein anständiger und rechtlicher Mann bewiesen hatte. Das war ein Weg, den ihr Gott zeigte. Von nun ab änderte sich ihr Schicksal. Durch die Vermittlung dieses würdigen Greises erhielt die Waise einen Platz im Haus von dessen Schwester, die in einer großen Fabrikstadt wohnte. Dort lernte sie einen recht schaffenden Mann kennen, der ihr freilich an Jahren weit voraus war, der aber das edelste Herz von der Welt besaß. Er bot ihr seine Hand an, und dem Zug ihres Herzens und der Stimme der Vernunft folgend, zögerte sie nicht, ein Band zu schließen, welches sich von der ersten bis zur letzten Stunde ihrer Ehe als das glücklichste bewährte. Als Katharina heiratete, besaß ihr Gatte nur wenige Webstühle, aber Gott segnete ihren Eingang in sein Haus. Aus dem Dutzend Webstühlen wurden bald fünfzig, dann hundert, dann eine große schöne Fabrik, und nach acht Jahren war sie die Frau eines der geachtetsten Gewerbetreibenden der Gegend. Katharina reiste mit ihrem Gatten, dessen Gesundheit schwankend zu werden begann, ins Bad. Die Zeit hatte aus dem zarten, nur halb entwickelten, schüchternen Mädchen eine sicher auftretende Frau gemacht. Die ehemalige Waise in dem bescheidenen Kattunkleid ließ sich in der Dame von Welt und Tournüre, die den neuesten und geschmackvollsten Moden huldigte, nicht wieder erkennen, zudem war ihr von Natur dunkles Haar noch dunkler geworden und der glatte, anspruchslose Scheitel hatte einer Fülle von Locken weichen müssen.

»Eines Tages befand sich die Dame mit ihrem Mann im Spielsaal und sah dem Roulette zu. Plötzlich zuckte sie zusammen und ein Frösteln überlief sie, denn ihr gegenüber stand Anton, er, der ihre erste Jugend so grausam vergiftet, der sie misshandelt, der sie endlich aus dem Haus gestoßen hatte.«

Herr von Bellfort begann von Neuem auf seinem Stuhl unruhig hin und her zu rücken.

»Ich fürchte, Sie langweilen sich, Herr Baron«, sagte Frau Walden, indem sie sich mit einem Blick kalten Spottes an den armseligen Wicht wandte, der sonst so anmaßend und dreist, nun jedoch vor diesem Blick mutlos erbebte. -»Widmen Sie mir nur noch auf einige Augenblicke Ihre Aufmerksamkeit und verzeihen Sie, wenn meine Erzählung nicht nach Ihrem Geschmack ist.«

Der Baron vergaß so weit alle Politesse, dass er es unterließ, auf diese verfänglichen Worte nur mit einer Silbe zu antworten.

»Wenn ich Ihnen versichere, meine Herren«, fuhr Frau Walden fort, »dass der armen Katharina zumute war, als ob sie von einer Viper gebissen worden wäre, als sie diesen verhassten Menschen erblickte, so dürfen Sie solches wörtlich nehmen. Sie blickte noch einmal zu dem von ihr so tief Verachteten hin. Daraufhin kehrte ihr Widerwille im verstärkten Maße zurück. Es war ihr, als ob sie einem garstigen Basilisken in sein giftgetränktes Antlitz blickte.«

Dieses Mal warf der Baron der schönen Witwe einen Blick zu, der dem ausgelerntesten Banditen die größte Ehre gemacht haben würde.

»Was die ehemalige Waise noch einigermaßen hinsichtlich ihrer Entdeckung in Zweifel ließ«, fuhr Frau Walden fort, »war die völlige Veränderung, welche in dem Äußeren dieses Menschen vorgegangen war. Seine Kleidung zeigte Eleganz und huldigte dem neuesten Geschmack. Er bemühte sich, gewisse aristokratische Manieren zur Schau zu tragen und beschäftigte sich sehr viel mit seinem Haar … in Form und Schnitt genau wie das Ihre, Herr Baron«, fügte die junge Frau scharf betont hinzu.

Herr von Bellfort würde in diesem Augenblick wer weiß was darum gegeben haben, wenn er sein Haar unter einer Perücke hätte verbergen können.

»Was Katharina endlich noch mehr in Erstaunen setzte, war, dass der auf diese Weise metamorphosierte Ritter sich mitunter in sehr vertraulicher Weise zu einer beleibten älteren Dame herabbeugte, die mit Gold und Edelsteinen überladen war und sich stark am Spiel beteiligte. Ich muss Gewissheit haben, dachte Katharina, und im Augenblick war ihr Entschluss gefasst. Eine dicht gedrängte Gesellschaft umgab das Roulette und alle folgten mit Spannung den Wechselfällen des Spiels. Ohne dass es auffiel, gelang es ihr daher, bis in die unmittelbare Nähe des Abenteurers zu kommen. Plötzlich rief sie scharf und artikuliert ›Anton!‹, schlüpfte aber sogleich hinter dem Rücken zweier Herren hinweg. Meine List gelang vollständig, denn sobald dieser Ruf das Ohr meines ehemaligen Tyrannen erreichte, zuckte er zusammen, als wäre ihm ein Schlag mit einer Elektrisiermaschine beigebracht worden und sah sich bestürzt um. Ich stellte mich ihm hierauf wieder gegenüber, blickte ihm scharf ins Gesicht und bemerkte zu meiner Freude, dass er in mir die arme kleine Waise von ehemals nicht im Entferntesten vermutete. Zu meinem Erstaunen redete ihn die dicke, mit Gold überladene Dame als ›Chevalier Hautcour‹ an, doch drang eines Tages das Gerücht zu meinen Ohren, dass dieser falsche Chevalier, welcher einst in Magdeburg Hüte verkauft und ausgebügelt hatte, von seiner Protektorin, der Witwe eines ehemaligen Armee-Lieferanten, plötzlich wegen eines erheblichen Mankos in der ihm anvertrauten Kasse den Abschied erhalten habe.«

Herr von Bellfort fasste bei diesem überraschenden Schluss der Erzählung möglichst geräuschlos in seine Brusttasche, um sich zu überzeugen, ob er auch seinen Pass bei sich habe, den er für unvorhergesehene Fälle stets mit sich führte.

»Sie sehen also, meine Herren«, fuhr die Witwe fort, »wie wenig es noch immer in der Macht der guten Gesellschaft liegt, sich vor der Berührung mit solchen Schwindlern zu hüten, wenn auch ihre Rolle in der Regel nur von kurzer Dauer ist und sie schließlich doch in den meisten Fällen der wohlverdienten Strafe anheimfallen.«

»Jedenfalls gebietet es die Pflicht, derartige Subjekte, deren Wappenbrief meist ein falscher Pass ist, unnachsichtig den Händen der Polizei zu überliefern«, bemerkte Warrens mit unverkennbarer Schärfe.

Der falsche Herr von Bellfort erhob sich bei diesen bedeutungsvollen Worten halb von seinem Sitz und brachte sich in eine Position, die es ihm möglich machte, nötigenfalls mit einem Sprung zur Tür hinaus zu sein.

»Hat die Gesellschaft einmal das Unglück gehabt, sich von einem solchen Menschen düpieren zu lassen«, bemerkte Frau Walden, »so halte ich es noch immer für das Zweckmäßigste, denselben auf stille und geräuschlose Weise von dem Schauplatz seiner Taten verschwinden zu lassen. Sind Sie nicht auch dieser Meinung, Herr Baron?«

»Unbedingt! Unbedingt!«, rief der Abenteurer, indem er sich mit seinem Taschentuch den Schweiß von der Stirn trocknete.

»Und Sie finden auch, dass meine Erzählung recht viel Lehrreiches enthält?«, fragte die junge Frau mit der Strenge eines unerbittlichen Inquirenten weiter.

»Sehr viel Lehrreiches in der Tat!«, stöhnte der falsche Baron.

»Sie bekennen also, dass Sie mir für das Ihnen gewährte Rendezvous Dank schuldig sind?«

Statt einer Antwort schlug sich der entlarvte Anton diesmal vor die Stirn und nannte sich laut einen Esel.