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Sagen der mittleren Werra 1

Sagen-der-mittleren-Werra

C. L. Wucke
Sagen der mittleren Werra nebst den angrenzenden Abhängen des Thüringer Waldes und der Rhön
Band – Rechtes Werra-Ufer
Salzungen 1864

Vorwort

Es ist gewiss eine lohnende Aufgabe, in dem großen Sagenschatz des deutschen Volkes der Entstehung der verschiedenen Sagen nachzuspüren, die alten Überlieferungen aus vorchristlicher Zeit zu erkunden sowie die späteren Einflüsse geschichtlicher Ereignisse nachzuweisen. Und wie förderlich für die Aufgabe der Kulturgeschichte ist es nicht, die der Sage zugrunde liegende sittliche Anschauung zu erörtern, zu erfahren, wie bald der Wunsch nach unverhofftem Glück durch Hebung eines Schatzes, bald die scheue Furcht vor unheimlichen Mächten oder das Vertrauen auf hilfreiche Beschützer, bald aber, und das wohl am meisten, der ehrwürdige Glaube an eine allwaltende, sühnende Gerechtigkeit in dieser Poesie des Volkes zum Ausdruck kommt. Nach diesen und ähnlichen Gesichtspunkten die mannigfaltigen Sagen zu gruppieren, die örtlichen Ab- und Umänderungen derselben zu bezeichnen und zu schildern, ist eine höchst verdienstliche Arbeit. Bevor dieselbe aber in vollständiger und gründlicher Weise ausgeführt werden kann, müssen die sorgfältigsten Sammlungen in den einzelnen Gegenden des großen Vaterlandes angestellt werden.

Eine solche Sammlung von Sagen aus einem bestimmt abgegrenzten Teil unseres Vaterlandes, dem so sagenreichen Werratal von Meiningen bis Vacha nebst den angrenzenden Terrassen des Thüringer Waldes und der Rhön, tritt nun hiermit in die Öffentlichkeit.

Der Schwierigkeiten und Mühen, welche mit einem derartigen Werk in einer Zeit verbunden sind, die das Licht der modernen Kultur in alle Winkel der Erde trägt, dabei aber manch gutes Stück der alten Kultur wie den Gegenstand dieses Buches in die Rumpelkammer wirft, war sich der Verfasser wohl bewusst. Aber er darf in Wahrheit behaupten, weder Mühe noch Opfer gescheut zu haben, um zu dem einmal gesteckten Ziel zu gelangen.

Sein mannigfach bewegter Lebensgang, der ihn mit den verschiedensten Ständen in Berührung brachte, hat ihn wohl mehr als manch anderen befähigt, sich dem schlichten Mann des Volkes zu nähern und denselben zutraulich und mitteilsam zu machen. Denn es ist nicht leicht, was Volkssagen betrifft, das Vertrauen der Landbewohner zu gewinnen. Sie sind misstrauisch und fürchten von dem sogenannten Gebildeten »zum Besten gehabt« zu werden.

Und wenn auch ein guter Teil derselben noch fest an den Inhalt der Sagen glaubt, so ist man doch meist ängstlich bemüht, den Schein des Glaubens zu vermeiden, weil man fürchtet, durch den Sagensammler bloßgestellt oder wohl gar auf irgendeine Weise verdächtigt zu werden.

Ehe der Verfasser seine bezüglichen Wanderungen antrat, suchte er sich womöglich genaue Kenntnis des zu sondierenden Terrains zu verschaffen und über etwa vorhandene Burgruinen, Denkmäler, alte Bäume, Seen und Quellen und dergleichen eingehende Kunde zu erwerben. Hauptsächlich forschte er nach solchen Leuten, Greisen, Hirten, Waldhütern, Kräuterweibern, welche ihm die gewünschten Mitteilungen zu machen imstande schienen.

Sodann näherte er sich denselben in ihre Sphäre niedersteigend vertrauensvoll, suchte sie bei ihrer Berufsarbeit im Feld, im Wald oder auch in der Dorfschenke auf, strebte durch Mitteilung von bereits Bekanntem und Fragen, die sich auf Realitäten bezogen, Anknüpfungspunkte und dadurch zugleich das Interesse der Erzähler zu gewinnen und hatte in den meisten Fällen die Genugtuung, alles, was ihnen zu Gebote stand, rückhaltlos gegeben zu sehen.

War zum Beispiel in der Schenke irgendeiner erst so weit gebracht, dass er erzählte, so wirkte dies in der Regel gleichsam wie ein Zauber auf alle Anwesenden. Schlafende Erinnerungen wurden bei dem und jenem geweckt. Dieser erzählte das, der andere jenes, was er von Eltern und Großeltern gehört. Die eifrigsten Spieler legten oft ihre Karten nieder und sammelten sich als Erzähler oder Zuhörer um den Verfasser, der dann freilich auch manches Unbrauchbare geduldig mit in Kauf nehmen musste. Ehe er jedoch eine der gewonnenen Sagen in seine Sammlung aufnahm, hat er sich durch strenge Prüfung zu überzeugen gesucht, ob die Sage dort im Volk auch wirklich lebe oder gelebt habe, indem er dieselbe noch anderen an Ort und Stelle wohnenden Leuten andeutete und von ihnen nochmals erzählen ließ.

Auf diese Weise entstand diese Sagensammlung. Sie ist nicht die Erste auf diesem Gebiet. Namentlich ging ihr Bechsteins verdienstvolles Werk Der Sagenschatz und die Sagenkreise des Thüringer Waldes voraus. Nichtsdestoweniger glaubt der Verfasser, dass seine anspruchslose Sammlung auch neben erwähntem Werk seines verstorbenen Freundes einige Berechtigung habe. Indem er sich auf ein engeres Gebiet beschränkte, war ihm eine durchgängig persönliche Durchforschung der im Volk lebenden Sagen möglich. Diese setzte ihn in den Stand, einesteils eine bedeutende Anzahl neuer Sagen zu bringen, anderenteils schon durch Bechstein mitgeteilte wieder unmittelbar aus dem Munde des Volkes heraus zu überliefern, wobei nicht selten die Entdeckung mannigfaltiger Abweichungen von der Bechstein’schen Darstellung die Mühe des Sammlers belohnte.

Die Ordnung des reichhaltigen Sagenstoffes geschah nach dem rein lokalen und geografischen Gesichtspunkt. In dieser Hinsicht stimmt der Verfasser mit C. Haupt (Sagenbuch der Lausitz) vollkommen überein, wenn dieser meint: »Jede Sage ist mehr oder weniger lokal gebunden, während Mythos und Märchen heimatlos wie das Volkslied über die Lande vagabundieren. Die Sage wandert wohl auch und manchmal recht wunderbar weit, aber immer doch hat sie die Tendenz, ihr Dasein an einen Ort anzuknüpfen und Heimatrecht zu erwerben. Sagen sind wie die Vögel, die man nicht eher zu Schuss bekommt, als bis sie sich irgendwo niedergelassen haben.«

Die Sagen einer Gegend erscheinen wie die Flora derselben, sie gehören zu ihr wie die Blumen, welche eine Burg umblühen, und aus dem Interesse, welches eine Gegend dem Einheimischen oder Fremden bietet, entspringt das für ihre Sagen.

So verfolgte der Verfasser neben dem höheren Zweck, einen kleinen Stein zu einem planmäßig gefügten deutschen Sagengebäude zu liefern, auch den besonderen, nahen und fernen Freunden der Heimat dieser Sagen ein Buch in die Hand zu geben, welches den Reiz der von ihnen besuchten Punkte erhöht und ihnen zugleich eine angenehme Unterhaltung gewährt.

Möge seine Mühe nicht vergebens gewesen sein und der Leser sich ähnlichen Genusses erfreuen, wie ihn der Verfasser beim Aussuchen der hier getreu wiedergegebenen Sagen gehabt hat.

Salzungen, im Oktober 1864

C. L. Mucke


Vom Eschloch bei Welkershausen

Im Muschelkalk des Eschberges, wie ein Teil der Spitzberge genannt wird, die sich von Welkershausen an dem rechten Werraufer talwärts hinziehen, hat sich ziemlich oben am Plateau ein tiefer Trichter gebildet, das Eschloch. Von ihm geht folgende Sage:

Während sie drunten im Dorf Welkershausen vor Zeiten das Sommersonnenwendfest feierten, weidete droben am Eschberg, wo im Schatten der Eibe der Seidelbast und die Haselwurz mit der Küchenschelle, dem blauen und roten Leberblümchen, der Blasenkirsche, dem weißen Diptam und dem blauen Enzian wie um die Wette blühen und duften, ein junger Schäfer seine Schafe, Da war’s ihm, als tönte vom Eschloch her eine gar liebliche Weise zwischen das Herdengeläute. Er spitzte die Ohren und richtig – es war so. Und bald war er auf dem Weg zu dem Loch. Wie aber erstaunte er, als er an jener Stelle ein prächtiges Schlösschen erblickte, aus dessen Inneren ihm jene wunderbare Weise entgegen klang. Eine Weile lauschte der Schäfer noch den lieblichen Tönen. Dann aber vermochte er es nicht länger über sich. Er trat durch das offene Tor und befand sich bald in einem kostbaren Zimmer. Da lockte die Stimme ihn weiter und immer weiter, bis er in dem letzten der Gemächer sich der auf einem kostbaren Lager ruhenden Sängerin gegenüber befand. So etwas Schönes aber hatte er in seinem Leben noch nicht gesehen. Die Jungfrau schien zu schlafen oder vielleicht wollte sie den staunenden Schäfer in seinem Anschauen nicht stören. Doch, nun fing sie an zu reden, und um die Herzensruhe des Schäfers war es geschehen, denn sie hatte ihm gesagt, dass sie ihn schon lange gekannt, dass seine Wiege aus einer Esche gezimmert, die in genauer Beziehung zu ihr gestanden, und dass er, wenn er wolle und den Mut dazu habe, sie beide glücklich machen könne.

Der Schäfer vermochte kein Wort hervorzubringen, sondern nickte nur immer freudig zustimmend. Und die Jungfrau fuhr fort und bat ihn nun, sie am nächsten Johannistag hier wieder aufzusuchen, wo sie ihm, freilich nicht in ihrer jetzigen wahren Gestalt, sondern als ein abschreckendes Ungeheuer erscheinen dürfe. Er solle sich nur nicht fürchten, sie vielmehr in der Gestalt des Tieres dreist umarmen und auf die Stirn küssen, und dies drei Johannistage nacheinander wiederholen. Denn dann erst würde sie erlöst, und sie beide die Glücklichsten unter der Sonne sein.

Der Schäfer war außer sich vor Freude, und als er dies alles zu tun gelobt, verschwand mit einem furchtbaren Krachen das Schloss, er aber stand verdutzt und schaute noch eine Zeit lang in die Tiefe des Eschloches. Und der Schäfer hielt Wort. Am nächsten Johannistag durchschritt er wieder die Gemächer des Schlosses, auf der Schwelle des Letzten jedoch blieb er vor Entsetzen wie gebannt einen Augenblick stehen. Denn statt der herrlichen Jungfrau zischte ihm jetzt von deren Lager ein scheußliches Gewürm entgegen. Schon wollte er Reißaus nehmen, da fielen ihm die Worte der Jungfrau wieder ein. Er fasste sich ein Herz, trat ein, packte die Schlange und küsste sie auf die Stirn. Und mit einem furchtbaren Krachen war das Schloss wieder verschwunden. Doch aus der Tiefe des Eschloches erkannte er der Jungfrau Stimme an dem »Hab’ Dank«, das sie ihm zurief. Ebenso erging es ihm am nächsten Johannistag, nur mit dem Unterschied, dass er anstatt der Schlange ein blutgieriges Raubtier zu küssen hatte und die Jungfrau ihm ein zweimaliges »Hab’ Dank« nachsandte. Mit verstärktem Mut schritt unser junger Schäfer das dritte Mal hinauf zum Eschloch. Doch diesmal fasste ihn ein solches Entsetzen vor dem gräulichen Lindwurm, der ihm Feuer speiend von dem prächtigen Lager entgegen sprang, dass er vor Bestürzung weder an die schöne Jungfrau noch an ihre Worte dachte und Hals über Kopf aus dem Schloss rannte. Das verzauberte Schloss sank krachend in die Tiefe, aus der jetzt der Schäfer durch das Wimmern der Jungfrau zu spät an deren Worte und sein Versprechen erinnert wurde. Seit jener Zelt war es aus mit dem Schäfer. Und als sie drunten im Dorf das nächste Sommersonnenwendfest feierten, da fanden sie den Schäfer entseelt droben am Eschloch. Um seine Schläfe war ein Kranz von blauem Enzian gewunden. Als sie ihn zu Grabe trugen, da umflatterte ein bunt gefiedertes Vögelein, das gar wunderbare Weisen sang, den Sarg. Und als sie ihn auf dem Friedhof einsenkten, da entschwebte das Vögelein hinauf zu dem Eschloch.