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Im Goldlande Kalifornien 8

Sophie Wörishöffer
Im Goldlande Kalifornien
Fahrten und Schicksale Gold suchender Auswanderer
Zeitgemäß gekürzt von A. Flügel um 1930

Kapitel 3 – Teil 2

Schon lange vor Tagesanbruch ging durch das Dorf ein Treiben, das sich in unbestimmbaren Lauten äußerte, dem man aber die allgemeine Geschäftigkeit anmerkte. Eilende Schritte huschten vorüber, scharfe Instrumente kratzten und sägten an festen Gegenständen. Man trug Lasten und sprach in leisem Ton miteinander. Dazwischen klang das Weinen der Frauen.

Atafau sah zur Tür hinein. Er winkte stumm, ohne ein Wort zu sprechen.

Die Weißen folgten ihm sogleich. Draußen ordnete sich vor der Hütte Lesuasus der lange Trauerzug, bei dem diesmal auch die Frauen nicht fehlten.

Nach dem Begräbnis, das mit vielen Förmlichkeiten verbunden war, gingen unsere Freunde zu dem von Atafau bezeichneten Felsen.

»Ich kann nicht sagen, wie sehr mich der Gedanke an ein Wiedersehen mit meinem Bruder bewegt«, sagte Kinski, mit der Hand über die Stirn fahrend. »Wie weit ist es noch bis zu seinem Gefängnis, Sir?«

»Drei gute Stunden – aber seht, da ist der Fels mit der Büffelgestalt. Liegt er nicht da wie ein riesiges Tier, das den Kopf gesenkt hält? Übrigens, da kommen die Rothäute.«

Eine kleine Schar bewaffneter Indianer stieß zu den Weißen. Die Leute erschienen in voller Kriegsausrüstung. Die Pfeile trugen die schwarze Feder als Zeichen, dass sie in Gift getaucht waren, die Federkronen schwankten auf den Köpfen, und der steinerne Wurfhammer steckte im Gürtel.

»Gehen wir miteinander, Häuptling?«, erkundigte sich der Schlangenjäger, »oder wollt ihr vorausschleichen?«

»Wenn wir erst m die Nähe gekommen sind, ja. Die Hound müssen so umstellt werden, dass keiner entschlüpfen kann. König Semen weiß, dass wir kommen«, fügte er hinzu.

»Du hast ihm also einen Boten geschickt, Häuptling?«

»Ja. Einen Burschen, der gehen kann, ohne gehört zu werden, der alles sieht, ohne sich selbst auch nur einem Auge zu zeigen, und der es an List mit dem Fuchs aufnimmt.«

»Schondo, nicht wahr?«

»Ja, du hast es erraten, Fremder.«

Kinski dankte dem Alten auf das Wärmste. »König Semen wird es euch vergelten!«, sagte er. »Wir machen den Zug zu der Minenstadt gemeinschaftlich, davon bin ich überzeugt.«

Der Häuptling unterdrückte einen Seufzer. »Wir müssen sehen, Fremder. Das ist eine schlimme Angelegenheit. Sehr schlimm!«

»Jetzt kommt gleich ein Quell«, warf Hennecke ein.

Arsa sprang schon voraus und die Übrigen ihm nach. Sie schöpften mit den Blechbechern wie Wüstenwanderer, die seit Tagen keinen Tropfen mehr gesehen haben. Auf glatten Kieseln sprang das Wasser hüpfend von Stufe zu Stufe aus dem Gebirge herab, eiskalt und klar wie Kristall, dann verlor es sich in eine unterirdische Rinne. Es verschwand gleichsam spurlos vor den Füßen der Wanderer und kam nicht wieder zum Vorschein.

Die beiden Schlangenjäger sahen einander lächelnd an. Irgendeine äußere Ursache hatte den Gebirgsquell in ein anderes Bett gelenkt. Es würde wahrscheinlich nur sehr geringe Mühe kosten, das Gerinne wieder freizumachen.

Atafau deutete auf einen breiten und, wie es schien, tiefen Einschnitt des Gebirges. »Mitten in dieser Schlucht liegt König Semens Gefängnis «, sagte er.

»Du willst also den entgegengesetzten Ausgang sichern, ehe wir von dieser Seite eindringen, nicht wahr, Häuptling?«

»Das ist notwendig. Ja.«

»Und nach rechts und links über die Felsen hinweg kann keiner der Schurken entkommen? Bist du dessen ganz gewiss?«

»Vollständig. Und nun hört mich, Fremde!«

Atafau deutete auf die offene Schlucht. »Von hier bis zum Zelt der Hound ist es noch eine halbe Stunde Weges«, sagte er. »Zuerst kommt eine Krümmung, dann geht es geradeaus. Die Schurken können weithin den steinigen Pfad überblicken.«

»Und also aus dem Zelt hervor schießen, meinst du?«

»Gewiss. Sie sind alle vier mit dem Feuerpfeil bewaffnet, wie ihr selbst, Fremde. Wer also zu ihnen käme, der geriete in die Gefahr, sterben zu müssen, ehe er noch das Zelt erreicht hätte.«

»Das ist richtig. Was würdest du in diesem Fall vorschlagen, Häuptling?«

»Dass ihr uns die Sache anordnen lasst, weiße Männer. Schondo, der Kundschafter, ist hier in der Nähe. Ich werde ihn rufen und hören, was er zu berichten hat. Tretet aber einstweilen hinter diesen Felsen, denn es wäre ja möglich, dass einmal einer der Hound hier erschiene.«

Der Häuptling richtete sich empor und ließ den Schrei eines Falken hören. Ein Gleicher antwortete, und wenige Minuten darauf stand ein schlanker junger Bursche mitten unter den Versammeltem »Valle! Valle!«, sagte er.

»Valle! Valle!«, tönte es zurück, und dann gab Atafau seinem Abgesandten den Befehl, zu sprechen. »Was hast du entdeckt, Schondo?«

»Hugh! Eine Klippe, von der aus man gerade neben dem Zelt der Weißen zu Boden springen kann.«

»Das ist gut.« Atafau richtete sich straffer auf. »So wollen wir uns sofort dahin begeben«, sagte er. »Ich selbst gehe mit fünf meiner Krieger durch die Engpässe des Gebirges hinüber zur anderen Seite der Schlucht und halte diese besetzt. Ihr klettert währenddessen unter Schondos Führung mit den fünf anderen bis zur Klippe. Wenn ihr mein Zeichen hört, müsst ihr bereit sein, über die Hound herzufallen und besonders ihre Flucht nach dieser Seite hin mit Erfolg zu verhindern.«

»Gut, das wird sicherlich geschehen.«

Eine Handbewegung, und die sechs bemalten Gestalten verschwanden zwischen dem Geklüft. Schondo winkte den Übrigen.

»Mir nach!«

Es war eine beschwerliche Wanderung, die nun folgte. Vielleicht hatte nie vorher eines Menschen Fuß diese Klippen überschritten, wenigstens schienen die Tiere, die zwischen ihnen hausten, bei dem plötzlichen Begegnen mit den Jägern mehr erstaunt als erschreckt.

Arsa stand still. »Was ist das Dunkle da drüben?«, raunte er.

»Pst! Es ist das Zelt.«

Schondo glitt unhörbar voran, und alle übrigen folgten ihm bis zu einer Stelle, die den Blick in das offene Zelt und die Umgebung desselben vollständig freiließ. Man konnte sehen, ohne gesehen zu werden. Schweigend drängten sich die Weißen an den Spalt.

»Wo ist das Gefängnis?«, flüsterte Kinski.

Schondo deutete auf eine Doppelreihe schwerer Felsblöcke mit einem schmalen, offenen Tor. »Dort lebt König Semen.«

»In der elenden dunklen Höhle? Wie entsetzlich!«

»Still, Fremder, still! Man könnte dich hören.«

Arsa nahm das Gewehr von der Schulter. »Die erste Kugel will ich den Schurken ins Herz jagen«, flüsterte er mit halb erstickter Stimme. »Sie sollen ihr Verbrechen teuer bezahlen.«

Schondo hob den Finger. »Keinen Laut, ehe der Häuptling das verabredete Zeichen gegeben hat.«

Auch Kinski schob Arsas Gewehr leicht zur Seite. »Ruhig!«, flüsterte er. »Ruhig! Aha, die Hound kommen zum Vorschein!«

Aus dem Zelt traten mehrere, ziemlich verlottert aussehende Burschen, die wie Goldgräber gekleidet waren und sämtlich kurze Tabakspfeifen rauchten. Sie lagerten sich auf ausgebreitete Wolldecken, und einer zog ein Spiel Karten aus der Tasche hervor.

»Weshalb schießen wir nicht?«, grollte Arsa, indem er vor Zorn mit dem Fuß aufstampfte. »Es wäre nur ein Spiel, diese Handvoll Schurken von der Tenne zu fegen.«

»Nicht ohne den Falkenschrei des Häuptlings!«

In der Schlucht tönte plötzlich Pferdegetrappel. »Hallo, Hound?«, klang es herüber.

Arsa hob sich auf die Zehenspitzen. Jetzt waren die vier Reiter so nahe gekommen, dass man sie deutlich erkennen konnte.

Arsa wechselte die Farbe. Was war das? Äffte ihn am hellen Morgen ein hämischer Spuk? Hielt da nicht vor ihm sein Freund Felsing?

Ja, es war Felsing, der da vom Pferd sprang und neugierig umherspähte.

»Nun, Kameraden«, sagte er. »Wo steckt denn euer König Semen?«

Arsa fühlte den Klang der Stimme wie einen körperlichen Schmerz. Was hätte er wohl darum gegeben, jetzt hervortreten und mit dem so unerwartet Erschienenen einige Worte austauschen zu dürfen.

Mit leidenschaftlicher Bewegung wandte er sich zu den Rothäuten. »Seht ihr diesen jungen Mann da? Den mit dem dunklen Haar und dem hübschen, frischen Gesicht? Er ist mein Freund, er gehört nicht zu den Hound.«

Drüben rüsteten die Abgelösten zum Aufbruch.

»Lebe wohl, König Semen!«, rief einer. »Lass dir die Sache nicht gar zu langweilig werden, hörst du!«

»O nein«, klang es zurück. »Mir träumte sogar in dieser Nacht, dass ich dir den Hals brach – in Räuberstadt natürlich.«

Der Mann auf dem Pferd schnitt eine Grimasse. »Warte mit deinen Träumen, bis du angelangt bist! Das wird klüger sein.«

Die Pferde tänzelten unter der leichten Last, und die Reiter ließen noch zum Abschied eine Flasche von Hand zu Hand gehen, dann trabten die Tiere gemächlich davon.

Felsing hatte unterdessen die Felsblöcke erklettert und sah in den dunklen Raum der Höhle hinein. Dass ein kleiner, zusammengefalteter Zettel aus seiner Hand auf den Steinboden fiel, gewahrte niemand als nur der Gefangene.

Da erklang plötzlich das Signal des Häuptlings. Die sechs Rothäute sprangen in die Schlucht hinab, ihr Kampfgeschrei erfüllte die Luft, sie schossen zu gleicher Zeit, und zwei der Hound fielen, in die Brust getroffen, schwer zu Boden.

»Indianer!«, hatte Felsing gerufen. »O weh!«

»Paul! Paul! Sie sind gute Freunde!«

Arsa sprang hinab, dem jungen Hamburger gerade entgegen.

»Paul … was machst du bei den Hound?«

Ein Jubelschrei brach über Felsings Lippen. »Da bist du!«, rief er. »Hurra! Nun ist alles gut! Ich wollte nur dem Gefangenen Trost bringen, seinen Mut anfeuern. Deshalb machte ich die Tour mit den Spitzbuben hierher, nicht um … Ach!«, unterbrach er sich, »die anderen kommen zurück!«

Man sah die vier Pferde im gestreckten Galopp durch die Schlucht daherrasen. Von der entgegengesetzten Seite erschien Atafau mit seinen Kriegern, und nun entstand ein kurzer, blutiger Kampf, bei dem schließlich die Rothäute den Sieg behielten.

Die Weißen hatten sich – die Hound waren sowieso in der Unterzahl – fast gar nicht an dem Kampf beteiligt. Sie machten sich vielmehr daran, die großen Felsblöcke vor dem Gefängnis zur Seite zu schieben, die sich aber nur zollweise bewegten. Felsing und Arsa hatten als Erste zugegriffen. Aber ihre Kräfte allein hätten nichts ausgerichtet. Es dauerte länger als eine Viertelstunde, bis mit genauer Not so viel Raum geschaffen war, dass der Gefangene mithilfe seiner Freunde die Höhle verlassen konnte. Ein Jubellaut aus tiefster Brust verkündete, was er empfand.

»Endlich … endlich frei!«

Er streckte den Rettern die Hand entgegen. »Wer ihr auch seid, ich werde euch danken, was ihr für mich getan habt!«

»Onkel Semen!«, rief Arsa. »Ach, Onkel Semen!«

Der Befreite sah von einem zum anderen. Es war Kinski, auf dessen ernstem Antlitz seine Blicke zuerst hafteten. »Wie ist mir denn?«, sagte er. »Aber nein, ich kann es nicht glauben … ich täusche mich …«

»Du täuschst dich nicht, Semen!«

»Ach … Kasimir! Nun erkenne ich dich!«

Er umfasste mit beiden Armen den Gefährten seiner Jugend und küsste dessen gefurchte, von eisgrauem Haar umgebene Stirn. »Kasimir, alter Junge, freut es dich, mich wiederzusehen?«

»O Semen, du fragst noch? Siehe, da ist auch Arsa, mein Ältester. Du erinnerst dich seiner doch noch?«

»Wie sollte ich nicht? Komm her, Junge!«

Und Semen liebkoste auf das Herzlichste seinen wiedergefundenen Neffen. »Seid ihr denn alle hier?«, fragte er. »Ganz Ladrin?«

»In Räuberstadt, ja.«

»Natürlich! Natürlich! Und ihr beide unternahmt sogleich einen Zug in das Gebirge, um mich zu befreien. Ihr habt mich lieb, was? … Ach, ich möchte die ganze Welt umarmen, so glücklich bin ich!«

Und dann nickte er den Rothäuten zu. »Atafau, Lapagai, ich grüße euch! Wir sprechen uns später, ihr guten Leute. Jetzt sage mir nur noch, Kasimir, wer ist dieser junge Mann, der mir so geschickt einen Brief in die Zelle warf?«

Und seine beiden Hände streckten sich dem leichtsinnigen Felsing entgegen. »Sie gehören nicht zu den Ladrinern, was?«

»Der Herr ist mein bester Freund, Onkel. Er zog auf eigene Faust in die Wildnis, um dich zu befreien.«

»Mit den Hound«, setzte Kinski hinzu. »Als ihr Gefährte.«

»Das war eine Kriegslist, gell?«

»Natürlich!«, jubelte Felsing. »Natürlich!«

Semen nickte dankend und tauschte darauf mit den beiden Schlangenjägern, die er längst schon begrüßt hatte, einen lächelnden Blick. Dann wandte er sich den Indianern zu. »Hat Meschekenabock einmal wieder seinen eigensinnigen Tag?«, fragte er. »Will der Zauberfee kein Wasser für den Bach hergeben?«

»Keinen Tropfen, weißer Mann, keinen Tropfen.«

Semen deutete auf die große Anzahl leerer Flaschen und Kochgeräte, die das Zelt enthielt. »Sammelt einmal alle Gefäße zusammen«, sagte er, »und nehmt jeder so viel frisches Wasser wie nur möglich mit nach Hause. Später werden wir den vortrefflichen Meschekenabock wohl zur Vernunft bringen.«

Die Rothäute nahmen ihre beiden Verwundeten zu sich auf die Pferde. Der Tote, den sie zu betrauern hatten, wurde auf den Sattel eines anderen geschnallt, und das vierte mit den vorgefundenen Einrichtungsstücken der Hound beladen. Als alle diese Vorbereitungen getroffen worden waren, setzte sich der kleine Zug in Bewegung, um das Dorf der Rothäute zu erreichen. So viel Wasser, wie in die vorhandenen Gefäße hineinging, wurde mitgenommen.

»Hennecke und Prüfer können vorausgehen und meinen Freunden sagen, dass ich frei bin«, sagte König Semen. »Wir werden die Hound zu Paaren treiben.«

»Ohne die Rothäute, Semen?«

Er stutzte. »Die Rothäute? Das ist eine vergebliche Hoffnung. Sie sind zu einem Kriegszug nicht zu überreden.«

»Man kann es nicht wissen, Semen. Die Leute sind des ausgetrockneten Baches wegen in Verzweiflung. Vielleicht kannst du sie aber bewegen, dir beizustehen, wenn du ihnen dafür Trinkwasser verschaffst. Die große Hitze hat den Bach ausgetrocknet.«

Semen lachte. »Da oben im Gebirge gibt es lose Felsblöcke. Jedenfalls hat der Sturm einen von ihnen in das Bett des Baches geschleudert und so dem Lauf des Wassers eine andere Richtung gegeben. Das war früher schon einmal der Fall.«

»Und du konntest die Hindernisse beseitigen?«

»Ja. Seitdem glauben diese harmlosen Naturkinder, ist stehe mit übersinnlichen Mächten in Verbindung.«

»Und du ließest sie bei ihrer Ansicht, Semen?«

»Natürlich.«

»Mister Kinski«, warf Hennecke ein, »Sie wollen doch nicht den Rothäuten helfen, ohne vorher Bedingungen aufzustellen?«

Semen schüttelte den Kopf. »Das widersteht mir«, antwortete er. »Kommt Zeit, kommt Rat. Vielleicht ziehen die Leute von Hängestadt und Höllenstadt mit uns in den Kampf, vielleicht setzen uns die Hound, wenn sie hören, dass ich auf freiem Fuß bin, gar keinen Widerstand mehr entgegen. Meine Schatzkammern finden sie ja doch niemals. Übrigens, wer ist dieser Felsing?«

»Ein Sausewind, ein Taugenichts.«

»Das musst du mir deutlicher erklären, Kasimir. Hat er irgendetwas Unrechtes getan, irgendeine ehrlose Handlung begangen?«

»Er ist ein Windbeutel, führt einen angenommenen Namen und hat wahrscheinlich in seiner Heimat größere Geldsummen verschwendet. Nach Kalifornien kam er, damit du ihm helfen sollst.«

Semen lachte. »Arsa und er scheinen sehr vertraut miteinander«, sagte er. »Ein hübscher Bursche, dein Sohn, du kannst stolz auf ihn sein, Kasimir!«

»Wenn nur dieser Felsing nicht wäre! Arsa lauscht seinen Reden von freier Lebensanschauung und sonstigem Unsinn wie einer Verkündigung. Wirst du diesem fremden Menschen Geld schenken, Semen?«

»Das kommt ganz darauf an, Kasimir. So«, setzte er dann hinzu, »hier ist die Quelle. Schöpft, soviel ihr könnt, Kinder!«

Etwa vierzig Flaschen wurden gefüllt und außerdem ein halbes Dutzend Kessel und Töpfe. Aber dennoch konnte dieser Vorrat bei der starken Kopfzahl der Indianer wenig nützen! Es mussten jedenfalls Berittene während des ganzen Tages unterwegs bleiben, um immer neue Vorräte herbeizuschaffen.

»Morgen klettern wir in die Berge«, tröstete Semen. »Bis zum See da oben in fabelhafter Höhe bin ich ohnehin noch niemals gekommen.«

»Hier hätten wir das Dorf der guten Rothäute … richtig, es ist kein Tropfen Wasser im Bach!«

König Semens Ankunft brachte neues Leben, neuen Mut in die stummen Gestalten der Daheimgebliebenen.

»Guten Tag, Rothäute!«, rief er ihnen zu. »Was sitzt ihr denn da und blast Trübsal? Morgen mit Sonnenaufgang steige ich in das Gebirge und bin sicher, dass vor Mittag die Wellen wieder lustig fließen. Ist das genug?«

Einer der Indianer erhob sich. Es war Pataloc, der Riese. »Die Rothäute grüßen dich, König Semen«, rief er. »Du bist ihnen so willkommen und in ihrem Dorf so gern gesehen wie der erste Frühlingstag.«

Semen lächelte. »Nun«, sagte er, »ihr braucht ja nicht bis auf die Höhe des Zauberberges zu gehen, wo das Wasser dampft! Aber ich denke, dass einige unter euch doch zur Quelle reiten und das Dorf für heute mit Wasser versorgen werden. Wir haben Gefäße mitgebracht.«

Wie die wilde Jagd stürmte das junge Volk voran. Die Gefäße wurden gesammelt, dann begann der lustige Ritt in den Wald, bei dem soviel Lärm vollführt wurde, dass alle Vögel und Eichhörnchen in Aufruhr gerieten. Arsa glaubte nie einen so glücklichen Tag erlebt zu haben, und auch die übrigen jubelten mit ihm.

Während dieser fröhlichen Fahrten wurden die Verwundeten in Pflege genommen und der Tote für die morgige Bestattung vorbereitet. Die beiden Brüder Kinski saßen nun zum ersten Mal miteinander allein im Zelt und konnten sich über Vergangenes und Zukünftiges ohne Zeugen aussprechen.

Welche Wandlungen des Geschickes hatte Semen erlebt! Er, der ehemalige Student der Medizin, war Kellner und Fabrikarbeiter gewesen, Ackerknecht und Viehtreiber. Er wusste, was Hunger und Frost sind, Nächte im Freien und Tage der Krankheit ohne Pflege. Aber nun solle alles anders werden.

»Zunächst muss in Räuberstadt die gänzliche Gesetzlosigkeit einem Zustand der Ordnung weichen«, sagte er. »Die regellosen Zelte sollen verschwinden. Zu all dem müsst ihr mir helfen. Wir bauen mit vereinten Kräften eine Straße bis nach San Francisco und mieten in einem europäischen Hafen ein Schiff, das Baumaterial und Haushaltungsgegenstände hierher bringt. Dann taufen wir unsere Stadt Neu-Ladrin.«

»Und die Hound, Semen? Es sind ihrer zwölfhundert!«

»Wir werden sie trotz ihrer Überzahl besiegen. Hennecke geht morgen voraus und benachrichtigt alle die, auf deren Treue ich mich verlassen kann.«

Am nächsten Morgen bei Sonnenaufgang sattelte Hennecke ein Pferd, um nach Räuberstadt vorauszugehen. Er hatte Semens Blatt unter seinen Kleidern verborgen, und alle Einzelheiten waren auf das Genaueste verabredet worden. Nur die genannten Personen sollten eine Botschaft erhalten, sonst niemand.

»Ich brauche Ihnen keine Vorsicht zu empfehlen, Sir«, sagte Semen. »Sie kennen die Verhältnisse und wissen, was auf dem Spiel steht.«

Hennecke nickte. »Schlimmstenfalls bringe ich Ihnen eine Botschaft auf halbem Wege entgegen, Mister Kinski.« Mit diesen Worten setzte er sein Pferd in Trab.

»Nun müssen wir aber unseren Marsch in die Zauberberge antreten«, sagte König Semen.

Boris und Arsa hatten schon aus gegerbtem Büffelfell mehrere kunstlose Ranzen hergestellt, die mit Lebensmitteln gefüllt wurden! Etwas Kochgeschirr und Feuerzeug kam hinzu, dann nahm der Aufstieg seinen Anfang.

»Bleiben wir eine Nacht aus, Onkel Semen?«

»Das denke ich, mein Junge. Gestern Abend hat mir nämlich Atafau unter vier Augen eine der Überlieferungen seines Volkes mitgeteilt, ein Geheimnis, das nur die vornehmsten Krieger erfahren. Diese kleine Geschichte macht mich neugierig auf den Anblick der Bergspitzen.«

Arsas Augen glänzten. »Darfst du uns das Gehörte nicht mitteilen, Onkel Semen?«, fragte er.

»O doch. Manabopho, der Weltgeist, suchte den Schlangenkönig Meschekenabock, den Zauberer, am Zaubersee auf, und zu diesem Zweck nahm er die Gestalt eines abgestorbenen Baumstumpfes an. Dieser Baumstumpf steht versteinert noch immer da oben. Der Schlangenkönig ragt mit halbem Leib aus dem See hervor und das geheimnisvolle Wasser flutet zwischen Felsenmauern. Ich möchte mich überzeugen, wie viele Einzelheiten in Wirklichkeit dieser Schilderung entsprechen. Ein See so hoch oben – das wäre allerdings an sich schon interessant.«

»Lass uns nur eilen, Onkel! Das Wetter ist herrlich.«

Je höher man kam, desto kahler wurde das Gelände. Zuletzt stand man auf einem Hochplateau von bedeutender Ausdehnung.

»Jetzt gebt acht, bald werdet ihr ein wundervolles Schauspiel haben. Aber Vorsicht – sobald ihr bemerkt, der Boden wird unsicher, müsst ihr zurückgehen.«

Arsa sah ihn erstaunt an.

»Ja, unsicher«, wiederholte Semen, »gebt nur acht.«

Aller Blicke waren nach rechts gewandt. »Seht, seht, was ist das?« Arsa schrie es beinahe hinaus. An vielen Stellen schossen auf einmal hohe Wasserstrahlen aus dem Boden auf.

Lächelnd wies Semen auf sie hin. »Heiße Quellen«, sagte er, und dann, sich zu dem Bruder wendend, »entsinnst du dich noch an den Sprudel daheim? Ach, welche Hoffnungen habe ich seinerzeit auf ihn gesetzt, mit welchem Eifer studierte ich die Heilkunde, um dereinst meinen Mitmenschen Segen zu bringen – bis die Ladrins ihre Hand danach ausstreckten und alles an sich rissen.«

Kinski nickte. »Ich entsinne mich an alles. Du wurdest schwerer davon betroffen als ich.«

Der Goldgräber wandte sich zum Gehen. Die hoch aufschießenden Wasserstrahlen waren im Augenblick wieder verschwunden, aber bei einer Biegung des Weges zeigte sich dafür ein natürlicher Springbrunnen, der keine Minute aussetzte. Sie standen alle wie bezaubert. Jetzt sprangen auch die anderen, kleineren Quellen, vom Sonnenglanz in Demantschleier gehüllt, bald hier, bald dort! Dampfwolken wallten auf. Als Arsa vorsichtig die Stätte der seltsamen Erscheinung betrat, bog sich unter seinen Füßen der Boden.

Felsing riss ihn zurück, als sei der feurige Schlund bereits aufgetan. »Komm fort!«, sagte er mit abgewandtem Blick. »Hu, das ist grässlich!«

»Aber großartig, Paul!«

Semen deutete auf den Sprudel. »Ich habe das Wasser untersucht«, sagte er. »Es hat alle Eigenschaften des Karlsbader Brunnens. Hier an dieser Stelle will ich eine große Heilanstalt errichten. Ich will das einst Verlorene wiedergewinnen und nach so vielen Irrfahrten zu meinem eigene lieben Beruf zurückkehren. Und du, Kasimir«, fügte er hinzu, »du sollst in der grünen Ebene da unten eine Farm gründen, eine Musterwirtschaft, von der meine Anstalt ihre Bedürfnisse bezieht. Ach, ich bin glücklich … glücklich!«

Die Gesellschaft wanderte weiter in das Gebirge hinein bis zu dem Zauberberg hin. Bis hierher war das Wasser versiegt, doch fand sich in den unteren Rinnen genug, um zu trinken. Nur der volle Strom fehlte.

Semen neigte das Haupt. »Nun gilt es, noch eine Viertelstunde zu klettern. Ich höre das Wasser schon rauschen. Es hat eine andere Bahn eingeschlagen.«

Bald war man oben und erkannte, warum den Indianern das Wasser fehlte. Mitten im Flussbett lag ein gewaltiger Felsblock, der es sperrte. Das aufgestaute Wasser fiel in rauschendem Sturz seitwärts über die Klippen. Es war derselbe Bach, aus dem man gestern geschöpft hatte.

Die Lage des Blockes wurde untersucht. Er lag flach auf den Kieseln, aber die Bahn war abschüssig und frei! Etwas weiter nach unten machte das Flussbett eine Biegung, und auf diesen letzteren Umstand baute Semen die ganze Hoffnung des Gelingens.

»Der Stoß muss stark genug sein, um den Block über die Kurve hinwegzuschleudern«, sagte er.

Sein Bruder nickte.

Zwölf kräftige Arme setzten ein, und der Koloss bewegte sich, er geriet ins Schwanken. Es gluckste, als ob eine schwere Last aus nassem Boden gehoben wird.

»Stärker!«, kommandierte Semen. »Stärker!«

Alle Kräfte wurden auf das Äußerste angespannt und dem Felsblock so der letzte Halt geraubt. Mit Donnergepolter stürzte er in die Tiefe, überschlug sich bei der Kurve und verschwand plötzlich den Blicken der Männer. Der Bach nahm seinen früheren Lauf wieder ein, und in weniger als einer Viertelstunde musste das Wasser im Dorf der Indianer angelangt sein.

»Hurra! Hurra!«

Ein anderer fremder Ton verschlang den Jubellaut. »Was war das?«

»Ein Büffel!«, rief Prüfer. »Ein Einsiedler, den die Herde seiner Bösartigkeit wegen ausgestoßen hat. Den müssen wir haben.«

Dumpfe Tritte schienen den Boden zu erschüttern. Das Tier floh abwärts. Es brüllte noch immer wie in ungeheurem Schmerz.

Das große Tier war jedenfalls verwundet worden! Es hatte geblutet, und so ließ sich seine Spur ohne Mühe verfolgen. Die Jäger gingen, alles Geräusch vermeidend, einer hinter dem anderen Da ertönte wieder die zornige Stimme des Büffels. Er brüllte so laut, dass der Boden erdröhnte.

»Das Tier wird angegriffen!«, flüsterte der Schlangenjäger.

Arsa schlich unmittelbar neben seinem Onkel. Ihm war es, als höre er ein zorniges Pfeifen oder Fauchen wie von einer Katze. Dann brüllte wieder der Büffel, und die Gewalt dieses Schalles erstickte jeden anderen Laut.

»Es ist ein Jaguar, mit dem der Riese kämpft. Vielleicht sind es sogar ihrer mehrere. Der Büffel ist jedenfalls zusammengebrochen.«

»Der Wind weht uns entgegen«, flüsterte Boris, dessen Augen vor Vergnügen glänzten. »Wir können also ganz nahe herankommen.«

»Zwei Jaguare!«, berichtete Prüfer.

»Sehen Sie die Tiere, Sir?«

Er schüttelte den Kopf. »Ich höre zwei verschiedene Stimmen.«

Die gleiche Wahrnehmung machten alle. Ein Fauchen und Schnaufen erfüllte die Luft, endlich ein Röcheln. Ob der Bison verendete?

Jetzt hatten sich die Jäger ganz herangeschlichen.

Auf drei Beinen stand mit gesenktem Kopf der Büffel und schwankte nach allen Seiten. Der stürzende Felsblock hatte ihm das Knie zerschmettert, sodass der untere Teil des Beines schlaff herabhing.

Sooft einer der beiden Angreifer Anstalten machte, ihm entgegenzuspringen, senkte er den gewaltigen Kopf, und die Raubkatzen wichen zurück. Das Weibchen kauerte am Boden und wedelte mit dem langen Schweif. Das Männchen stand auf den Hinterfüßen, bereit, den Schlag mit der furchtbaren Tatze in jedem Augenblick zu führen. Es hielt den Rachen weit geöffnet und brüllte laut.

Der Schlangenjäger hatte im Flug die wollene Decke, die er auf dem Rücken trug, abgeschnallt und um den linken Arm gewickelt. »Arsa«, flüsterte er, »geben Sie mir den Stein, der dort liegt, und dann bleiben Sie in meiner Nähe. Ich weiß, Sie zielen gut. Und auch Sie, Jegor, begleiten uns. Und nun vorwärts!«

Geradewegs ging der Schlangenjäger auf den Jaguar los. Dieser wich etwas zurück, als begreife er nicht, wie ihn der verwegene Mann so offenbar herausfordern könne. Dann aber erhob er sich blitzschnell zu aufrechter Stellung und führte einen wuchtigen Tatzenschlag gegen den vorgehaltenen linken, mit der Wolldecke umwickelten Arm des Schlangenjägers.

Die Krallen hafteten in dem Gewebe, sekundenlang schwankte Prüfer, dann schlug er mit dem Aufgebot aller seiner Kräfte den schweren Stein gegen das Rückgrat des Tieres, das unter der Wucht dieses unerwarteten Stoßes zusammenbrach und nun während der nächsten Augenblicke wehrlos dalag.

»Feuer, Arsa!«

Die beiden Knaben schossen zu gleicher Zeit, und der Jaguar krümmte sich in seinem Blut, nicht tot, aber auch nicht fähig, sich wieder zu erheben. Sein buntes Fell war zerrissen, der Rachen in ohnmächtiger Wut weit geöffnet, und die Krallen vorgestreckt. Erst als ihm ein Kolbenschlag den Schädel zerschmetterte, schien das zähe Katzenleben vernichtet.

Weniger gefahrlos sollte die Jagd auf das Weibchen enden. Semen und Boris hatten das Tier zugleich aufs Korn genommen und auch beide getroffen, aber nicht tödlich. Die Bestie sprang mit einem gewaltigen Satz vorwärts, sodass Boris zu Boden gerissen wurde. Er blutete aus mehreren Kratzwunden, aber das war unbedeutend im Angesicht der nahen Todesgefahr. Falls sich der Jaguar umwandte, zerbiss er sicherlich dem Gefallenen den Kopf. Aber schon warf sich Semen mit dem Messer in der Faust dem brüllenden Tier entgegen. Von unten her fuhr die Klinge zwischen die Rippen der Katze, während zugleich mehrere Kugeln ihren Körper trafen.

Boris hatte Zeit gehabt, aufzuspringen und nun auch seinerseits das Messer zu ziehen. Der Jaguar war förmlich zerfleischt, ehe er das Leben aushauchte.

»Endlich!«

Das waren heiße Augenblicke gewesen. Felsings hübsches Gesicht hatte alle Farbe verloren. »Ich wagte nicht, zu schießen«, gestand er.

»Das war sehr vernünftig«, lachte Semen. »Nun, Boris, wie steht es mit dir? Bist du arg verletzt?«

»Nur Schrammen!«, rief er, die Blutstropfen von sich abschüttelnd. »Es ist nicht der Rede wert.«

Prüfer wickelte seinen Arm aus der Decke. Auch ihm waren die scharfen Krallen bis in das Fleisch gedrungen. »Schade!«, sagte er mit einem bedauernden Blick, »die schönen Felle sind ganz verdorben.«

Als die gewohnte Ruhe nach einiger Zeit wieder zurückgekehrt war, dachte man auch wieder an den unglücklichen Büffel, der ganz still am Boden lag und keinen Versuch mehr machte, sich zu erheben. Er ließ die Jäger nahe herankommen, ohne von ihnen Notiz zu nehmen. Ein Gnadenschuss erlöste ihn bald von seinen Qualen.