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Der Freibeuter – Der beraubte Graf

Der Freibeuter
Erster Teil
Kapitel 10

Der beraubte Graf

Der Zug hatte sich noch nicht den Waldgebieten genähert, welche sich nordwestlich von Kopenhagen in der Nähe der Meerenge von Helsingör landeinwärts nach Frederiksund ausbreiten, als sich unter dem Gefolge des Kronprinzen das von den zur Jagdfron aufgebotenen Bauern herrührende Gerücht verbreitete, es sei am Abend vorher ein reicher englischer Graf bei der Durchreise durch den Wald von Helsingör nach Kopenhagen von einem Räuberhaufen überfallen und seiner Equipage beraubt worden. Er habe nur das Leben und eine Geldsumme, die er bei sich hatte, gerettet und liege mit seinem Jockey und Kutscher in einem nahen Dorf.

Man erzählte sich viel von dieser Räuberbande und gab mehrere Beispiele ihrer Gewalttätigkeit zum Besten. Hier hatte sie einen Wanderer überfallen, dort einen Meierhof geplündert, und es konnte nicht fehlen, dass das Gerücht von der Beraubung des Engländers zu des Kronprinzen Ohren drang. Erbittert über die Unbill, die einem angesehenen Fremden in den dänischen Staaten und auf der Insel Seeland selbst und bei der Anwesenheit des Zaren widerfahren war, gab der Kronprinz zur Stelle Befehle zur Verfolgung der Räuber. Aber er hielt es ebenso wohl für seine Pflicht, dem Beraubten Anteilnahme an dem erlittenen Unfall zu bezeigen und durch Wohlwollen den Verlust in etwas zu vergüten. Der Zar stimmte ihm bei. Die Fürsten beschlossen demnach, die Jagdroute über das benannte Dorf zu nehmen, und den Grafen, wenn dieser Lust bezeige, in die Jagdgesellschaft auf- und folgenden Tages mit nach Kopenhagen zu nehmen. Mit diesem Beschluss geschah den Damen ein großer Dienst. Denn kaum war etwas vom Unfall des fremden Grafen verlautet worden, als auch von den Teilnehmerinnen des Jagdzugs nichts weiter besprochen wurde. Die Damen schienen sich eine besondere Freude daraus zu machen, ihre Neugierde gegenseitig zu erregen, und die ausgesprochenen Mutmaßungen, ob der Fremde jung oder alt, schön oder hässlich, angenehm oder englisch finster, verheiratet oder ledig sein möchte, waren eine unerschöpfliche Quelle der Unterhaltung. Je näher man dem Dorf kam, desto gespannter wurde die Erwartung, und als der Zug angelangt war, sah man sämtliche Damen aus den Wagen steigen und sich in einen Kreis um den Kronprinzen drängen, welcher einen Kammerjunker in das Wirtshaus schickte, um dem Grafen Kondolenz und Einladung zu überbringen. Nun waren alle Blicke auf die Haustür gerichtet. Selbst das Fräulein von Gabel fühlte eine innere Regung, die ihr stärker vorkam als gewöhnliche Neugierde. Wer auf diese Weise erwartet wird, hat natürlich viel für sich. Weiß er sonst noch äußere Vorzüge zu zeigen, so hat er gewonnenes Spiel. Das Ungewöhnliche ist der rascheste Sieger über das weibliche Herz.

Und doch war die Überraschung allgemein und groß, als der Fremde, dem Kammerjunker folgend, in der Tür erschien und sich mit Anstand und Ungezwungenheit vor den Fürstlichkeiten und dem Hofstaat verbeugte. Dieser junge Mann zeigte ein vollendetes Äußeres. In seinem reizenden Gesicht war keine Spur des berüchtigten englischen Ernstes zu finden, seine großen dunklen, lachenden Augen bezauberten zur Stelle alle Damen. Und wie reich er sein musste, konnte man an seiner Kleidung erkennen, die an gefälliger Form und einfacher, von wahrem Geschmack zeugender Pracht in der ganzen Gesellschaft nicht ihres Gleichen fand. Und doch schien dies sein gewöhnlicher Anzug zu sein, so ungezwungen bewegte er sich darin. Auch war er keineswegs so geputzt, wie man wohl vor ein fürstliches Haupt zu treten pflegt. Der Kammerjunker nannte dem Prinzen den Namen des Engländers. Wenige Minuten später flogen die Worte »Graf Digby« von Mund zu Mund, und man hörte wohl hier und da den Zusatz: »Ein alter berühmter Name! Wahrscheinlich ein naher Verwandter des Kanzlers der Königin Maria und also ein Jacobit!«

Der Kronprinz begrüßte den Grafen mit einer gefälligen Handverneigung, und dieser trat näher heran, verneigte sich abermals und sagte gewandt: »Fast möchte ich meinen kleinen Unfall als einen Glücksfall preisen, da er mir die hohe Gnade Eurer Königlichen Hoheit zuwege gebracht hat, die mir plötzlich in so glänzender Herrlichkeit aufgeht, wie die Sonne nach einem kleinen Gewitterregen.«

Der Kronprinz verstand gerade so viel englisch, um den Sinn der Worte des Fremden zu erfassen, und fühlte sich durch das feine Kompliment geschmeichelt. Er ließ dem Fremden durch den Kammerherrn von Gersdorf, der gewöhnlich seinen Dolmetscher machte, seine volle Gnade, jegliche Unterstützung und Verfolgung der Räuber sowie nach Habhaftwerdung dieser ihre strenge Bestrafung versichern. Der englische Graf dankte mit seinen Worten für diese unverdiente Gunstbezeugung und sagte, dass er zwar durch den Überfall einige Tausend Pfund verloren, dessen ungeachtet aber in seinem Portefeuille so viel gerettet habe, um nicht in Verlegenheit zu kommen, dass er auch bei einem Kopenhagener Wechselhaus mehrere Tausend Pfund zu seiner Disposition vorfinden werde. Er werde sich aber erlauben, das volle Maß der kronprinzlichen Gnade auf den einen Punkt hinzuleiten, dass er seiner Königlichen Hoheit öfters untertänigst aufwarten wolle, und, wenn die Räuber eingefangen würden, um ihre Begnadigung bitten werde, da solch armen Teufeln, die doch das Herz auf dem rechten Fleck sitzen hätten, eine so kleine Remuneration, die sich noch dazu sehr unter sie austeilen werde, zu gönnen sei.

Die originellen und gewandten Äußerungen des Grafen wurden bewundert. Alles war entzückt, einen so feinen Gesellschafter gewonnen zu haben. Und die Damen freuten sich auf den Abend, wo sie diesen Adonis, dies Muster eines vollendeten Hofmannes, in seiner vollen Glorie zu sehen hofften. Manche machten im Stillen Pläne, wie sie den herrlichen Tänzer – denn das musste er sein – fesseln und für sich gewinnen wollten. Der Kammerherr von Gersdorf stellte zuerst als Zeremonienmeister des Kronprinzen, der Form gemäß, den Grafen Digby dem Zaren, der Zarin und der Suite vor und machte sie mit dessen Unfall bekannt, wovon sie bereits alle unterrichtet waren. Danach stellte er dem Grafen den Hof einzeln vor und machte bei Fräulein von Gabel den Anfang. Kaum war ihr Name genannt worden, als ein Blick aus des Grafen wunderschönen Augen auf sie fiel, der ihr in die innerste Seele drang.

Als die Zeremonie vorüber und ein Imbiss eingenommen war, wurde dem Grafen ein Pferd vorgeführt und ein Jagdgewehr überreicht. Seinem Jockey und Kutscher wurden befohlen, auf ihren Herrn im Jagdschloss des Kronprinzen unweit von Güldenlund zu warten.

Der Graf ritt zwischen dem Kronprinzen und dem Fräulein und erzählte auf beider Wunsch seinen Unfall, jedoch mit so viel gefälligem Humor, dass die Reiterin mehrmals in lautes Lachen ausbrach und zuletzt sich und der ganzen Gesellschaft, in des Grafen Ton einstimmend, zu dem an dem neuen Begleiter begangenen Raub gratulierte, der ihnen zu einer so angenehmen Unterhaltung verholfen hatte. Ehe die Jagdgesellschaft an dem Ort gelangte, von welchem man sich zu den angegebenen Punkten verteilen sollte, war der Graf schon so vertraut mit der Gesellschaft, als gehöre er zum Hof. Die Damen fanden, und vor allem Fräulein Gabel, in deren Nähe sich der schöne Mann stets befand und die deshalb allgemein beneidet wurde – wie ungern saßen die anderen in den Wagen, wie gern hätten sie auch Pferde bestiegen, um den interessanten Fremdling zu umschwärmen.

Fräulein Gabel fand es vorzüglich, dass der Graf alle jene schönen Eigenschaften zusammen im vollkommenen Grade besitze, welche die Neugier vorhin nur einzeln an ihm gewünscht oder erwartet hatte. Er war jung, schön, liebenswürdig, gewandt, geistreich. Man sah und hörte es ihm an, er kannte Welt und Hof genau, er war von hoher Geburt, reich und unabhängig, und wie sie aus einigen seiner Äußerungen mit Gewissheit schließen konnte, noch unvermählt.

Auf einer etwas hochgelegenen Waldfläche waren Zelte aufgeschlagen worden, in welche die Gesellschaft einkehrte und worin es sich die Damen, außer Fräulein von Gabel, bequem machten. Denn sie, die Glückliche, ritt an des herrlichen Engländers Seite auf das gegebene Signal über Stock und Stein auf und davon in den herbstlich bunten Wald, das flüchtige Wild zu erjagen.

Der geputzte Bräutigam des Fräuleins, der gelockte Kammerjunker Raben, machte ein saures Gesicht, sobald er sich aber nur von einem Blick der ihn Umgebenden beachtet sah, verwandelte es sich in ein zuckersüßes. Zu seinem Verdruss nötigte ihn die Dienstpflicht, in der Nähe des Prinzen zu bleiben. Die Jagd brauste bald nach allen Richtungen durch den Wald. Das erlegte Wildbret wurde zu den Zelten geschafft. Zum Neid der Damen erfuhr man von den Trägern, dass der Graf Digby den größten Hirsch geschossen und dem Fräulein von Gabel verehrt habe. Ein gleiches Geschenk erhielt sie vom Zaren, ein gleiches vom Kronprinzen. Sie war die Gefeierte des Tages.

Als die Gesellschaft sich am späten Nachmittag wieder unter den Zelten versammelte, konnte es einem so scharfen Auge, wie das des Fräuleins Christina von Ove, nicht entgehen, dass zwischen ihrer Muhme und dem englischen Grafen Annäherungen stattgefunden hatten, die sie beunruhigten. Christine begriff, wie dieser Mann, den ihnen ein wunderliches Schicksal in den Weg geworfen, Friederikens eigentümliches Wesen ansprechen müsse, wie noch kein Mann ihrer früheren Bekanntschaft, und dass der Fremde dadurch notwendigerweise Einfluss auf das fernere Schicksal ihrer Verwandten haben könne, welcher sie mit Bangen erfüllte.

Der Kronprinz, eben keiner von den geistig ausgezeichneten Menschen, fühlte sich ebenfalls vom Grafen Digby angezogen und machte ihm Elogen über seinen Geschmack. Er bekannte ihm, dass auch er das Fräulein allen anderen Damen am dänischen Hof vorziehe, und ließ sich sogar so weit herab, dem Grafen auf dem Ritt zum Jagdschloss mit kindischer Plauderhaftigkeit zu entdecken, dass er von Fräulein von Gabel begünstigt werde, und noch mehr zu erlangen hoffe, sobald nur die Vermählung mit seinem Kammerjunker Raben, die eigentlich sein Werk sei, vollzogen sein werde.

Der Graf erwiderte darauf, er finde an dem Fräulein, als einer geistreichen und munteren Dame, nur ein allgemeines Interesse. Aber er werde nach den gnädigen Mitteilungen auch dieses nun schicklicherweise zu verschleiern suchen, um seiner Königlichen Hoheit dadurch nicht vielleicht gar missfällig zu erscheinen.

Der Kronprinz sah sich dadurch veranlagt, den Grafen seiner höchsten Gnade zu versichern, ihn wegen seines Geschmacks an Fräulein von Gabel noch einmal zu loben und ihn sogar aufzumuntern, dem Fräulein auf jegliche Weise zu huldigen, welches ihm und ihr gleich schmeichelhaft sein würde.

Der Graf dankte und versprach, den Wünschen des Prinzen pünktlich nachzukommen.

Auf dem Jagdschloss angekommen, begab sich die Gesellschaft zur Tafel, welche schon bereitet war. Das russische Herrscherpaar saß oben an, der englische Graf erhielt seinen Platz neben dem Prinzen, an ihm das Fräulein von Gabel. Der glatte Bräutigam saß an der anderen Seite neben dem Fräulein von Ove. Es hatte sich gefunden, dass der Graf sich in dänischer Sprache, wenn auch nicht geläufig, aber doch verständlich ausdrücken vermochte. Dem Fräulein und dem Prinzen erging es mit dem Englischen ebenso, und so machte man sich verständlich, so gut es gehen wollte, und man bedurfte wenigstens des Kammerherrn von Gersdorf nicht mehr zum Dolmetscher.

»Ich habe heute verschiedene Male Gelegenheit gehabt, Ihren Mut zu bewundern, mein Fräulein«, sagte der Graf im Verlauf der Unterhaltung zu Friederiken. »Mit welcher Unerschrockenheit, die ich bisher nur an Männern wahrgenommen habe, drückten Sie Ihr Gewehr auf die Tiere des Waldes ab. Sie haben mich und jeden Mann beschämt.«

»Wo ist es denn auch ausgemacht, dass die Männer allein in Besitz mutiger Eigenschaften sein sollen?«, versetzte das Fräulein. »Aus der Gewohnheit haben sie ein Recht gemacht, wie in vielen anderen Fällen. Aber jede weibliche Natur, die sich frei fühlt von den Schwächen, die man gewöhnlich weibliche nennt, kann ihnen doch wohl jenes angemaßte Recht streitig machen? Es gibt wohl mehr mutige Frauen, aber sie lassen sich niederhalten von der Macht der Gewohnheit und herkömmlicher Vorurteile. Ich aber denke es nicht so zu halten.«

»Und das gewiss mit vollkommendem Recht«, bemerkte der Graf. »Jeder Kraft in der Natur ist vorhanden, um geübt zu werden, um sich tätig zu zeigen. Sie haben mich entzückt durch die Beweise Ihrer männlichen Ausdauer. Warum sollte ich so grausam gegen mich selbst sein, die Kraft einer weiblichen Seele nicht bis zu ihrer natürlichen Grenze zu verfolgen?«

»Bis zu ihrer Grenze? Was verstehen Sie darunter, Herr Graf?«

»Nun, ohne Ihrem Mut, dem ich, wie schon erwähnt, meine volle Bewunderung schenke, im Geringsten nahe treten zu wollen, muss ich doch annehmen, dass selbst die stärkste Frauenseele doch nur einen gewissen Horizont erreicht, über welchen hinaus dann das eigentliche Wirkungsfeld des wahren männlichen Mutes beginnt.«

»Wenn ich Sie recht verstehe, so liegt auch in Ihren Werten ein Zweifel an der Möglichkeit, dass ein weibliches Wesen in allen Stücken einem Mann gleich sei.«

»Sie werden mir zugeben, mein gnädiges Fräulein, dass es Fälle im Leben gibt, wo selbst der mutigste Mann nicht mit eilenden Schritten der Gefahr entgegen läuft?«

»Dann wird der mutigste Mann sich von einem Weib beschämen lassen müssen.«

»Sie setzen mich in das höchste Erstaunen, Fräulein.«

»Nennen Sie mir so schreckliche Fälle, deren Gefahr die mutigsten Männerherzen erzittern macht, oder vielmehr geben Sie mir Gelegenheit, Ihnen zu zeigen, dass ich jede Gefahr in jedem Falle verachte.«

»Das Grauen der Nacht, die Unheimlichkeit eines unbekannten Waldes, das plötzliche Mordgeschrei einer Räuberrotte, die in der unheimlichen Beleuchtung einiger Fackeln aus dem Hinterhalt hervorbricht, das ist zum Beispiel ein solcher Fall.«

»Ein Fall, der Ihnen freilich sehr nahe liegt«, entgegnete die Dame lachend, »und von dessen Schrecken Sie noch erfüllt sind. Ich wünsche in diesem Augenblick nichts sehnlicher, als allein bei stockfinsterer Nacht und im dichtesten Wald mit jenen Räubern zusammenzutreffen und Sie zu meinem untätigen Begleiter zu haben.«

»Zweifel zu äußern, wäre Unartigkeit gegen eine in jeder Hinsicht so ausgezeichnete Dame. Aber den Wunsch kann ich wenigstens nicht unterdrücken, dass Sie nie allein im Wald unter Räuber geraten möchten. Ich wünschte in diesem Fall immer dabei zu sein, wenn auch nicht als der untätige Bewunderer Ihrer übermännlichen Tapferkeit.«

Das Fräulein von Gabel wurde durch diese Andeutung eines Zweifels nur pikierter und trank hastig mehrere Becher Wein, die ihr der Graf einschenkte. Der Zar aber war von ihren Äußerungen so bezaubert, dass er ihr mit der natürlichen Wärme seines Ausdrucks die schönsten Dinge sagte.