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Die sechs schlafenden Jungfrauen 4

Die sechs schlafenden Jungfrauen oder: Der schreckliche Zweikampf
Eine furchtbare Ritter- und Geistergeschichte von Wilhelm Bauberger erzählt
Kapitel vier

Die Begegnung

Nach Beilegung dieses Streites wäre Alfred gerne nach Palästina gezogen, um die sechs türkischen Jünglinge für die verwunschenen Jungfrauen aufzusuchen. Aber einerseits fand sich im Winter keine Gelegenheit, dorthin zu schiffen, anderseits wünschte er auch die schlafenden Jungfrauen zu sehen. Nach einigen Monaten des tiefsten Friedens war endlich der wonnige Frühling zurückgekehrt. Am ersten schönen Maimorgen begab sich Alfred seiner Gewohnheit nach ohne die geringste Begleitung auf die Jagd. Die Anmut der verjüngten Natur fesselte seine Sinne, und unwillkürlich wurde er seinem Ross in die Gegend getragen, wo die Heckeburg auf waldbesäumter Höhe thronte. Da vernahm er in der Nähe eines Birkenwäldchens den lieblichen Gesang einer Frauenstimme, von den Tönen einer Laute begleitet. Alfred, der die Kühlung des Tales zu genießen vom Pferd gestiegen war, stand bezaubert und lauschte noch immer, als der Gesang schon längst verklungen war. Da erschien aus einer Grotte am Saum des Wäldchens eine holdselige Jungfrau, welche Blumen zu pflücken begann. Als sie sich umwandte, gewahrte sie den Ritter und trat etwas betroffen einige Schritte zurück. Alfred wollte sich ihr nähern und um Entschuldigung bitten, aber die Überraschung band seine Zunge und lähmte seine Schritte. Da begegnete ihm das hocherrötende Mädchen mit der Frage: »Hat sich der Herr Ritter vielleicht verirrt?«

Alfred ermutigte sich. »Der heitere Frühlingstag«, sagte er, »lockte mich von meiner Burg bis hierher zu dem schönen Plätzchen, wo ich auch das Vergnügen hatte, Euer schönes Spiel und den bezaubernden Gesang zu vernehmen.«

Noch mehr ob solcher Worte errötend sah das wunderliebe Kind auf die gepflückten Blumen in ihrer Hand herab, und es trat eine Pause ein, während der Ritter am Beschauen ihres engelschönen Antlitzes sich weidete.

»Welch ein herrliches Plätzchen ist hier!«, nahm Alfred wiederum das Wort auf.

»Es ist mein Lieblingsplätzchen, seit ich wieder auf der Burg meines Vaters bin,« entgegnete das Mädchen, den Jüngling mit freundlichen Blicken betrachtend.

»Und Ihr besucht wohl öfter dieses Plätzchen?«, fragte der Ritter.

»Fast täglich«, sagte sie und eine höhere Glut färbte ihre Wangen.

»Darf ich denn fragen«, begann Alfred mit unsicherer Stimme, »wer der Glückliche ist, der von Euch diese Blumen erhält?«

»Die Blumen pflücke ich für mich selbst«, bemerkte sie mit gesenktem Auge.

»Wollt Ihr mir nicht ein Blümchen zum Andenken an diese Stunde geben, die mir das Glück brachte, seine so holde Jungfrau kennenzulernen?«, wagte Alfred zu fragen.

Sie meinte, der Ritter scherze nur. Dieser aber beteuerte, dass es sein voller Ernst sei, und bat aufs Innigste. Da erhob die Jungfrau die seelenvollen blauen Augen und mit einem Blick weihender Liebe in das ernste, treue Gesicht des Ritters reichte sie ihm den Strauß mit den Worten: »Hier habt Ihr ihn ganz.«

Ein feuriger Kuss auf die blütenweiße Hand des Mädchens verriet das Entzücken seines Herzens, und begeistert sprach er: »Ihr habt mich unaussprechlich glücklich gemacht. Diese Stunde werd’ ich nie vergessen.«

Er winkte ihr noch einen freundlichen Abschiedsgruß zu. Dann eilte er, schwang sich auf sein Ross und kehrte nach Hause zurück. Noch einmal hatte er zu der Jungfrau zurückgesehen und glaubte zu bemerken, wie sie ihm noch einen wohl gefälligen Blick nachsendete, ehe sie verschwand. Unaufhörlich beschäftigte ihn die Frage, wer wohl die holde Engelsgestalt sein mochte. Vielleicht gar die Tochter seines Feindes Urach? Und wenn auch, was kümmerte ihn dieses? Er konnte sich unmöglich verheimlichen, dass er ihr gewogen sei, ja dass er sie hätte liebend an sein Herz drücken mögen. Dafür küsste er hundertmal die Blumen, die sie ihm geschenkt hatte.

Als er so in Gedanken versunken den Tag über in der Irre umhergeritten war und an einem Dickicht vorüberkam, machte sein Pferd plötzlich einen Seitensprung und zwei Pfeile zischten an ihm vorbei. Er sprengte zu dem Ort, woher sie gekommen waren, fand aber nicht eine Spur von einem Menschen. Dieser Vorfall störte ihn nicht wenig in seinen Träumereien. Daher gab er seinem Ross die Sporen und langte an der Schwefelburg an, als der Stern der Liebe bereits am reinen Abendhimmel erglänzte.