Emotion Caching
Dieser Buchvorstellung möchte ich zwei Begriffsbestimmungen voranstellen:
Gefühle werden als angenehme oder unangenehme Empfindungen beschrieben, die nur teilweise bewusst erlebt werden. Zu den Gefühlen zählen etwa Angst, Freude oder Überraschung.
Die Neurobiologie unterscheidet Gefühle von Emotionen. Emotionen werden als körperliche Äußerungen definiert, die der Gefühlsempfindung vorausgehen. Die Emotion erfolgt grundsätzlich unbewusst und unkontrollierbar.
Ein Gefühl bedeutet das Bewusstwerden einer vorangegangenen Emotion. Gefühle ermöglichen eine – vielleicht überlebenswichtige – Reaktion auf ein Problem, das sich zunächst in einer unbewusst stattgefundenen Emotion geäußert hat.
Emotionen sind menschliche Gefühle. Untergliedert werden sie in Glück, Trauer, Wut, Hass, Liebe, Angst etc.
Die menschlichen Emotionen sind ein verbindendes Element aller Menschen, zugleich sind sie in der Psychologie wichtig. Emotionen können zum Entscheidungsgrund werden, außerdem beeinflussen sie den Menschen in den meisten seiner alltäglichen Handlungen.
Ein besonders emotional geprägter und beeinflusster Mensch unterscheidet sich vom eher rationalen Menschen, der sich in seinen Entscheidungen durch seinen Verstand und die Vernunft lenken und leiten lässt.
Generell lassen sich Emotionen und Verstand aber nicht voneinander trennen. Auch die Gefühle haben ihre Vernunft.
Die Autorin Heike Vullriede unternimmt mit ihrem Roman Emotion Caching den Versuch, nachzuweisen, dass sich die meisten Menschen in ihrem Vermögen, die Stimmungen anderer wahrzunehmen und zu deuten, als wahre Meister hervortun. Es ist ein Spiel mit der Angst, dessen Ausgang Kim und ihre Freunde nicht vorhersehen können.
Das Buch
Heike Vullriede
Emotion Caching
Thriller emotion, Paperback, Luzifer Verlag, Drensteinfurt, Juli 2015, 320 Seiten, 13,95 Euro, ISBN: 9783958350625, Cover: Michael Schubert
Kurzinhalt:
»Nichts bannt mich mehr, als der Schrei eines Menschen.« Kim
Die junge Kim und ihre drei Freunde spielen ein ungewöhnliches Spiel. Sie sammeln die Gefühle anderer Menschen. Bewaffnet mit der Kamera suchen sie nach dem großen Kick, und wenn der Zufall nicht mitspielt, helfen sie eben ein bisschen nach. Dabei hofft Kim, die Gefühlskälte, die sie seit dem Verlust ihres Vaters plagt, beim Anblick aufgewühlter Menschen vertreiben zu können. Bald merkt sie: Die wirklich überwältigenden Gefühlsausbrüche liefern Angst, Entsetzen und Verzweiflung.
Was als harmloses Spiel beginnt, in dem Kim noch die Fäden in der Hand hält, nimmt immer bösere Züge an und entgleitet ihr mehr und mehr.
Die Autorin
Heike Vullriede wurde in Essen geboren, lebt heute im Münsterland und führt ein turbulentes Leben in einer großen Familie. 2008 stieg sie aus ihrem Brotberuf aus und widmet sich seitdem hauptberuflich dem Schreiben (und Zeichnen), ohne Angst vor provokanten und umstrittenen Themen. 2012 erschien ihr erster Roman Der Tod kann mich nicht mehr überraschen, der als ironisch-tragisches Werk aus der Sicht eines sterbenden Menschen die Gemüter erhitzte und der sich zu einem echten Kultbuch in einer kleinen Fangemeinde entwickelt hat. 2013 legte sie mit Notizen einer Verlorenen einen melancholisch fesselnden Psychothriller zum Thema Selbstmord vor. Ende Juli 2015 erscheint der Thriller Emotion Caching, ein bitterböser Roman über den alltäglichen, mit Schadenfreude gespickten Voyeurismus mit der Kamera und die Nöte vierer Jugendlicher, die vom Weg abkommen.
In ihrer Freizeit zeichnet und malt die vielseitig interessierte Künstlerin. Gemeinsam mit Künstlerinnen aus ihrer Autorengruppe LitVier arbeitet sie an der Verwirklichung Genre übergreifender Kunstprojekte. Nebenbei schreibt sie an einem spannenden Fantasieroman für Kinder und einige federleichte Geschichten. Gerade entsteht eine Novelle über einen Mord in einem nicht ganz so idyllischen Dorf.
»Meine Geschichten handeln von Menschen, die eine Entwicklung durchmachen. Dabei ist es egal, in welchem Genre sie sich bewegen. Die Gedanken eines Menschen, die Welt in seinem Kopf, bieten eigentlich schon alles, was eine spannende Geschichte ausmacht.«
Heike Vullriede ist Mitglied der Autorinnenvereinigung e.V., der Künstlervereinigung Rekener Farbmühle e.V. und der Deutschen Buddhistischen Union. Seit 2013 ist sie Teil der Autorengruppe LitVier.
Leseprobe
Nicos Plan war einfach und niederträchtig, allerdings auch Bennis Vorbild mit dem Kleinkind sehr ähnlich. Typisch, es musste für ihn sehr schnell gehen und er wollte unbedingt der Erste sein, der die anderen aus der Clique mit dem großen Wurf für das neue Spiel überraschte.
An einem trüben Vormittag mitten in der Woche beobachtete er versteckt hinter irgendwelchen Hecken alte einsame Damen, die mit ihren vorzugsweise kleinen Hunden Gassi gingen. Große Hunde kamen für ihn nicht infrage, vor denen hatte er viel zu viel Angst, und für die Ausführung seines Plans waren sie untauglich.
Seine Wahl fiel auf eine gehbehinderte Frau mit grauem Dutt und langem Mantel, deren Fiffi ihm mindestens genauso alt vorkam wie die Besitzerin selbst. Mit krummen Beinchen und heraushängender Zunge trottete der Rauhaardackel seinem Frauchen an der Leine in der Langsamkeit eines altersschwachen Herzpatienten hinterher. Die Frau zeigte eine Engelsgeduld mit dem Tier und es machte den Eindruck, als würden ihr die Gehpausen des Dackels nicht ganz unrecht sein. Nico folgte ihr bis nach Hause, um zu sehen, wo sie wohnte. Die ganze Observation dauerte gerade mal zwei Stunden, aber für Nico war es schon das Äußerste an Zeitaufwand und Nerven, wozu er sich imstande fühlte.
Am Nachmittag schlich er dann mit einer Schachtel Hundeleckerlis und einer großen leeren Einkaufstasche hinter beiden her. Als sie ihren Dackel vor Edeka an den Pfahl einer bunten Werbetafel festband, wartete Nico ein paar Minuten, band das mit den Leckerchen abgelenkte Tier heimlich los, und stopfte es in die Tasche. Der überraschte alte Hund war viel zu müde, um auch nur zu winseln, und ertrug seine dunkle Gefangenschaft wie erwartet mit kauender Gelassenheit. Solange es etwas zu Fressen gab, war ihm anscheinend alles egal.
Das war der erste Teil von Nicos Plan.
Keine Frage – das verzweifelte Weinen der alten Frau bei der unbeholfenen und tippelnden Suche nach ihrem geliebten alltäglichen Begleiter war ziemlich rührend. Nico bot sich ihr – die Tasche mit dem Hund außer Hörweite in einem Gebüsch abgesetzt – als helfender, aber erfolgloser Engel an.
Später zoomte er ihr weinerliches Gesicht mit der Kamera von Weitem heran, als sie ihre Suche aufgab und sich resigniert auf den beschwerlichen Weg nach Hause machte. Ab und zu schluchzte sie auf.
Aber damit endete sein Film nicht. Der Clou war, dass Nico gleich darauf als der nette hilfsbereite Junge der alten Dame das nur wenig zappelnde Bündel in seiner Tasche wieder nach Hause brachte. Ihre überschwängliche Freude über das Wiedersehen mit ihrem Ein-und-Alles ging Nicos Meinung nach nahtlos in Euphorie über.
»Also echt, Nico! Die arme alte Frau. Die erinnert mich total an meine Oma«, rief Lena aus, als er den Film stolz an ihrem Stammtisch bei Mehmet den anderen vorführte.
»Trägt die auch so einen Haarknoten auf dem Kopf?«, fragte Nico.
»Nein … Mensch, hast du keine Oma? Die Frau tut mir richtig leid. Die ist alt. So was macht man doch nicht.«
Auch Kim betrachtete das Video mit gemischten Gefühlen. Interessant fand sie Nicos technische Ausstattung. Er hatte sich eine Miniatur-Kamera an der Mütze befestigt, um unauffällig filmen zu können und nebenbei die Hände freizuhaben. Alles war ein bisschen verwackelt, sah aber trotzdem oder gerade deswegen sehr authentisch aus, als die Oma ihn vor Freude fast umwarf. Beim Anblick der Szene schafften die Freudentränen in den Augen der Alten bei Kim eine kurze Episode aufsteigender Rührung. Doch die Erkenntnis, dass Nico danach auch noch zwanzig Euro zur Belohnung angenommen und eine Schachtel Kekse leergefuttert hatte, die eigentlich für die Enkelin vorgesehen waren, putzte den Anflug fast schon feuchter Augen aus Kims Gesicht schnell wieder weg. Die Realität war einfach zu ernüchternd. Überhaupt fand sie Nicos Idee ein bisschen plump und spontan. Von einem ausgefeilten Plan konnte nicht die Rede sein und so kamen seine Aufnahmen bei ihr auch rüber.
Benni schien nicht ganz so anspruchsvoll. »Ich weiß gar nicht, was du hast, Lena. Nico hat der Oma doch eine große Freude gemacht, die sie ohne ihn gar nicht erlebt hätte. Ihr Tag wäre verlaufen wie jeder andere, ohne jeden Höhepunkt.«
Nico nutzte Bennis Worte unverzüglich, um sich zu rechtfertigen. »Genau, das musst du mal von der Seite sehen. Jetzt weiß sie erst mal richtig, was sie an ihrem kleinen Kläffer hat. Ich wette, der ist an dem Tag besonders fett verwohnt worden.«
»So wie du mit den Keksen, was?«, stichelte Lena.
Nico lachte und leckte sich genüsslich mit der Zunge über die breiten Lippen.
Benni versuchte, Nico neben sich neckisch auf den Hinterkopf zu klatschen, doch der wich lachend aus. »Somit haben alle einen besonderen Tag gehabt. Alle sind glücklich — die Oma, ihr Fiffi und Nico.« Dann blickte Benni gut gelaunt in die Runde. »Im Grunde machen wir den Leuten doch ein Geschenk.«
»Na, ich weiß nicht …«, murmelte Lena.
»Ach, du kannst einem alles mies machen. Guck mal hier …«, verschwörerisch wedelte Nico mit dem Zwanzigeuroschein der Oma in der Hand, »… die Döner bezahl ich heute. Dann sind auch noch Kim, Lena und Benni glücklich.«
***
Kim nahm die Teller und brachte die Fladen und Döner zum Tisch der Clique.
Dort ging es noch immer um das neue Spiel und wie man es durchführen sollte.
»Was ist mit dir, Kim? Schon einen Geistesblitz, wie wir es anstellen?«
Doch Kim hatte noch keine zündende Idee. Zu dumm, da der Vorschlag doch von ihr selbst stammte, und sie fühlte sich deshalb verantwortlich dafür, dass Emotion Caching verwirklicht wurde. Aber ihre eigene Kreativlosigkeit schien vorerst niemanden zu stören. Sie war die anerkannte Spielaufsicht, der sämtliche Eingebungen vorgetragen wurden. Kim überlegte vage, ob sie Regeln aufstellen sollte. Nicos erste Tat entsprach so gar nicht dem, was sie sich unter Emotion Caching vorgestellt hatte. Es taugte nicht im Geringsten als Kick, sondern langweilte sie. Im Gegensatz zu Lena, die mit dem Gedanken an eine heulende Oma scheinbar nicht leben konnte.
»Meine Fresse, im Grunde ist das doch alles harmlos«, behauptete Nico. »Also, ich hab kein schlechtes Gewissen …«
Kim stellte ihnen die Teller hin und setzte sich.
»Heulende Omas, harmlos oder gemein, wie man es nimmt, aber mal ehrlich – mich haut das nicht vom Hocker«, gab sie zu.
Eigentlich wollte Kim anspruchslos sagen, doch was genau ihrem Anspruch genügen würde, wusste sie ja selbst nicht genau.
»Ich kann dir ja mal einen kleinen Schubs geben«, sagte Benni und versuchte, mit einer Hand an ihrem Sitz zu wackeln. »Ist zwar kein Hocker, aber zum Fallen kann es wohl reichen.«
Kim ignorierte ihn. »Auch wenn Nico den Dackel der Alten schließlich ganz verschwinden ließe, um außer Freude mal Trauer einzufangen …«
»Euphorie, nicht Freude«, berichtigte Nico.
»Na komm, Euphorie war das noch nicht. Da gehört schon etwas mehr dazu.«
»Hey, die Alte hat mich fast umgeworfen, als ich ihr den Köter wiedergebracht habe. Hast du doch gesehen in meinen Aufnahmen. Ich wär fast zusammen mit dem Vierbeiner die Treppe runtergefallen. Wenn das nicht Euphorie war …«
»Das hättest du mal machen sollen«, rief Benni. »Was meinst du, wie die sich erschrocken hätte. Das muss man sich mal vorstellen. Er bringt ihr das Hündchen wieder, sie bedankt sich überschwänglich, indem sie ihm um den Hals fällt … und dann – ratatataaa – fliegt er samt Dackel die Treppe runter …«
»… und bleibt liegen …« Nico weitete seine Augen vor Sensationslust.
»… blutüberströmt!«, ergänzte Benni zur Krönung noch.
Sie hielten sich die Bäuche.
»Ich glaub, die hätte ‘nen Herzinfarkt gekriegt«, mutmaßte Nico. »Auf jeden Fall hätte sie geschrien vor Schreck.«
Kim schmunzelte. Diese Spinner! Sie hatten es geschafft, sie ein bisschen anzustecken. »Ja, besonders, wenn er dann wieder aufgestanden wäre, nachdem sie schon mit zittrigen Fingern den Rettungswagen alarmiert hätte …«
Benni prustete. »… und ihr den platt gedrückten Hund vor die Nase gehalten hätte! Zerdrückt von seinem Sturz auf der Treppe, an dem sie selbst schuld war.«
»Dann hätte sie auf jeden Fall geschrien.« Nico wischte sich die Lachtränen von den Wangen. »Alles klar, ich hab schon verstanden, ich muss demnächst besser planen.«
Diese Aussage kam Kims Vorstellungen schon näher. »Ja, Hackfresse, das musst du … und wir anderen auch. Das muss ausgefeilter werden, damit wir intensivere Gefühle einfangen können. Ich will mehr – viel mehr.«
Veröffentlichung der Leseprobe mit freundlicher Genehmigung des Verlages
Quellen:
- heikevullriede.wordpress.com
- definition-online.de
- www.luzifer-verlag.de
- Autorenfoto Copyright © Reiner Hansen, Werbekontor Hamburg
(wb)