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Der Marone – Das Zusammentreffen des Vetters mit der Cousine

Thomas Mayne Reid
Der Marone – Erstes Buch
Kapitel 23

Das Zusammentreffen des Vetters mit der Cousine

Als sie die Tür öffnete und aus dem Haus trat, hielt Käthchen schüchtern auf dem Absatz der zum Graben führenden Treppe inne. Ihre Schritte wurden von einem Gefühl schamhafter Zurückhaltung gehemmt, das sie trieb, von einem zu hastig gefassten Entschluss Abstand zu nehmen. Doch nur einen Augenblick zögerte sie, denn bald stand ihr Entschluss vollkommen fest, sie stieg die Treppen hinab und ging errötend zum Kiosk.

Herbert hatte sich kaum von seinem Erstaunen bei der unerwarteten Erscheinung erholt, als er mit einer angenehmen Frage begrüßt wurde.

»Sind Sie mein Vetter?«

Diese so naiv gestellte Frage blieb einen Augenblick unbeantwortet, denn der milde und gütige Ton, mit dem sie ausgesprochen wurde, hatte ihm neue Überraschung bereitet und er war zu verwirrt, um sofort zu antworten. Dennoch vermochte er aber doch bald die Antwort zu geben.

»Wenn Sie die Tochter des Herrn Loftus Vaughan sind …?«

»Die bin ich.«

»Dann bin ich allerdings stolz, mich Ihren Vetter nennen zu dürfen. Ich bin Herbert Vaughan aus England.«

Stets noch unter dem Einfluss der ihm nach seiner Meinung zu Teil gewordenen Vernachlässigung gab Herbert diese Erklärung in so steifer und zurückhaltender Weise, dass das junge Mädchen sie unfehlbar bemerken musste. Dies bewirkte eine augenblickliche Missstimmung, die sich leicht in vollständige Kälte hätte verwandeln können. Käthchen, die unter der Eingebung eines unwillkürlichen Zärtlichkeitstriebes gekommen war, zitterte vor einer Zurückstoßung, deren Ursache ihr unbegreiflich war.

Dennoch hielt sie dies nicht ab, freundlichst zu erwidern: »Wir erwarteten Sie, da der Vater Ihren Brief erhalten hat, aber nicht heute. Papa sagte, nicht vor morgen. Erlauben Sie mir nun, Vetter, Ihnen ein Willkommen auf Jamaika zu wünschen.«

Herbert verbeugte sich tief.

Abermals fühlte die junge Kreolin ihr herzliches Entgegenkommen in peinlichster Weise zurückgestoßen und stand nun in unentschiedener Haltung, verlegen errötend.

Herbert, dessen Herz bereits wie Schnee unter einer tropischen Sonne geschmolzen war, fühlte sehr wohl, dass er rau und unhöflich gewesen sei, was ihm eigentlich gar nicht eigen war und ihm, wie es schien, einige Anstrengung gekostet hatte.

Warum sollten auch des Vaters Sünden an dem Kind heimgesucht werden, und an solch’ einem herzigen, unschuldigen Kind?

Mit solchen Gedanken beeilte der junge Mann sich, sein zurückhaltendes Wesen abzulegen.

»Vielen Dank für Ihr freundliches Willkommen!«, sagte er im Ton liebevoller Offenherzigkeit. »Aber, schöne Cousine, Sie haben mir Ihren Namen noch nicht genannt.«

»Katharina, obgleich ich gewöhnlich kurz Käthchen genannt werde.«

»Katharina! Das ist bei uns der Familienname. Meines Vaters und auch Ihres Vaters Mutter – unsere Großmutter – hieß Käthchen. War das Ihrer Mutter Name auch?«

»Meine Mutter hieß Quasheba.«

»Quasheba! Das ist ein ganz eigener Name.«

»Meinen Sie das, Vetter? Ich werde auch zuweilen selbst Quasheba genannt, nur von den alten Leuten der Pflanzung, die meine Mutter noch gekannt haben. Kleine Quasheba nennen sie mich. Papa hat es nicht gern und hat es deshalb verboten.«

»War Ihre Mutter eine Engländerin?«

»O nein, sie war auf der Insel geboren und starb, als ich noch sehr jung war, zu jung, um mich ihrer zu erinnern. In Wahrheit, Vetter, fast möchte ich sagen, ich habe nie gewusst, was es heißt, eine Mutter zu besitzen!«

»Und ich auch nicht, Cousine Käthchen. Meine Mutter starb ebenfalls früh. Doch, sind Sie meine einzige Cousine? Haben Sie keine Schwestern oder Brüder?«

»Gar keine, leider. O, ich möchte wohl, ich hätte Geschwister.«

»Warum wünschen Sie das?«

»O, wie können Sie nur so fragen? Der Gesellschaft wegen, natürlich.«

»Schöne Cousine, ich dächte, Sie könnten auf dieser schönen Insel Gesellschaft genug finden.«

»Ach ja, vielleicht genug, aber keine, die ich gern habe, jedenfalls nicht solche, wie sie nach meiner Meinung eine Schwester oder ein Bruder gewähren würde. Wirklich«, fügte das Mädchen nachdenklich hinzu, »ich fühle mich manchmal einsam genug!«

»Oh!«

»Vielleicht wird es nun, wo wir Gäste haben, etwas anders sein. Herr Smythje ist ganz amüsant.«

»Herr Smythje? Wer ist das?«

»Was, Sie kennen Herrn Smythje nicht? Ich habe geglaubt, Sie wären mit ihm in demselben Schiff angekommen? Papa sagte so, und dass Sie hier nicht vor morgen eintreffen werden. Ich vermute, Sie haben ihn überraschen wollen, indem Sie schon heute gekommen sind. Aber warum sind Sie nicht mit Herrn Smythje gefahren? Er kam schon eine Stunde vor Ihnen an und hat gerade mit uns zu Mittag gegessen. Ich habe den Tisch soeben verlassen, damit Papa und er ihre Zigarren rauchen können. Aber, mein Himmel, Vetter! Entschuldigen Sie, dass ich noch nicht gefragt habe. Vielleicht haben Sie noch nicht zu Mittag gegessen?«

»Nein, Cousine Käthchen«, erwiderte Herbert mit ernstem Ton, »auch habe ich keine Lust, heute hier zu essen.«

Der Sturm von Fragen, mit denen die junge Kreolin ihn in der Einfachheit ihres Herzens überschüttete, führte ihn abermals zu jenen bitteren Gedanken zurück, von denen ihre Gegenwart und ihre sanfte Rede ihn für einige Zeit befreit hatten. Dies war der Grund jener Antwort.

»Und warum, Vetter Herbert?«, fragte sie mit Verwunderung. »Wenn Sie noch nicht zu Mittag gegessen haben, so ist es doch nicht zu spät. Warum denn nicht hier?«

»Weil …« Der junge Mann richtete sich stolz auf. »… ich es vorziehe, lieber gar nicht zu essen, als da, wo ich nicht willkommen bin. In Willkommenberg scheint es, bin ich nicht willkommen.«

»O, Vetter …«

Diese im mildesten, aber auffordernden Ton gesprochenen Worte wurden sofort unterbrochen. Die Tür auf dem Treppenabsatz drehte sich in ihren Angeln und Loftus Vaughan trat heraus.

»Ihr Vater?«

»Ja, mein Vater!«

»Käthchen!«, rief der Pflanzer mit einer Missvergnügen andeutenden Stimme, »Herr Smythje möchte dich auf der Harfe spielen hören. Ich habe dich in deinem Zimmer gesucht und im ganzen Haus. Was machst du denn hier draußen?«

Die Sprache war roh und gemein, ganz die eines gewöhnlichen, vom Wein glühenden Mannes.

»O, Papa! Vetter Herbert ist hier. Er wartet auf dich!«

»Komm geschwind hierher!«, war die gebieterische Antwort; »komm, Herr Smythje erwartet dich.«

»Vetter, ich muss Sie verlassen.«

»Ja, ich begreife das. Ein Würdigerer als ich verlangt Ihre Gesellschaft. Gehen Sie denn, Herr Smythje ist ungeduldig.«

»Es ist ja Papa.«

»Käthchen! Käthchen! Kommst du gleich? Beeile dich doch, Mädchen, beeile dich!«

»Gehen Sie, Fräulein Vaughan! Leben Sie wohl.«

»Fräulein Vaughan? Leben Sie wohl?«

Betrübt über diese so sonderbar lautenden rätselhaften Worte stand Käthchen Vaughan einige Sekunden unentschieden und sprachlos da, bis die Stimme ihres Vaters abermals erschallte, nun in einem gereizten und streng befehlenden Tone. Der musste sofort befolgt werden, und so entfernte sich das junge Mädchen, eigentlich ganz gegen ihren eigenen Willen mit halb verwirrtem, halb vorwurfsvollem Blick auf ihren Vetter.