Das Geheimnis des Medizinbeutels – Teil 10
An einem Sonntag des Jahres 1912 bot die am Golf von Kalifornien gelegene mexikanische Hafenstadt Guaymas ein ungewöhnliches Bild.
Seit früher Morgenstunde erregte nämlich ein großer Dampfer, von dessen Mast die deutsche Flagge wehte, die Neugier der allzeit schaulustigen Bevölkerung. Er kreuzte beständig in der Nähe der Hafeneinfahrt und schien bald hier, bald dort kurze Zeit zu halten, ohne dass die Stadtbewohner sich zu erklären vermochten, weshalb dies geschah.
Einer von den Zuschauern, der im Besitz eines alten Fernrohres war, entdeckte endlich die Ursache der ungewöhnlichen Schiffsbewegung. Einige auf dem Achterdeck des Dampfers stehende Matrosen loteten unter Aufsicht eines älteren Herrn beständig die Wassertiefe. Man schien aber lange Zeit zu keinem Ergebnis kommen zu können. Erst als die Sonne bereits die Mittagshöhe erreicht hatte, stieß eine von vier Matrosen geruderte Jolle vom Schiff ab und näherte sich dem Land.
Ein alter Herr mit breitem Strohhut and goldener Brille, allem Anschein nach ein deutscher Professor, entstieg dem leichten Fahrzeug und fragte die an der Einfahrt stehenden Männer, wo Lopez Verena, der Taucher, wohne.
Ein junger Mexikaner mit intelligentem Gesicht und blitzenden Augen trat sogleich vor.
»Mein Vater ist tot, Señor«, sagte er.
»Ah! Und wie heißt du?«
»Juan«, antwortete der Gefragte.
»Hat dein Vater dir gezeigt, wie man die Geheimnisse der Tiefe erforscht? Warst du schon auf dem Meeresgrund?«
»Ja, Señor. Man nennt mich den besten Taucher von Guaymas!«, erwiderte der Jüngling stolz. »Schon als Kind habe ich nach Perlen und Schwämmen getaucht und meinen Vater begleitet, wenn er auf das Meer hinauszog. Wenn Sie eine Taucherarbeit von mir verlangen, hoffe ich, Sie zufriedenzustellen.«
»Schön! Doch das Wasser ist sehr tief und gefährlich hier. Hast du Mut, in der Hafeneinfahrt zu tauchen?«, fragte der Deutsche ernst.
»Ich denke doch! Ich habe oft im Hafenbecken getaucht und kann wohl sagen, dass ich den Meeresboden hier gut kenne.«
»Das trifft sich ausgezeichnet!«, rief der alte Herr erfreut. »Sag, mein Junge, hast du auch schon die Stelle gefunden, wo im vorigen Jahr der Dampfer Hermann Petersen aus Lübeck gesunken ist?«
»Jawohl, Señor«, entgegnete Juan Verena. »Ich glaube, bestimmt sagen zu können, dass er ungefähr dort liegt, wo Ihr Dampfer sich jetzt befindet.«
»Richtig! Also stimmt meine Berechnung. Nun sage, Juan, hast du Lust, das Wrack aufzusuchen? Eine gute Belohnung ist dir sicher!«
»Gern, Señor!«, rief der junge Mexikaner und fuhr dann fragend fort: »Darf ich wissen, was ich auf dem Grund zu tun habe?«
»Es handelt sich um eine kleine, aber schwere Kiste, die heraufgeholt werden soll. Sie steht in einem Geheimfach in der Kapitänskajüte und muss noch vorhanden sein. Doch da fällt mir ein: Wie wäre es, wenn du noch einen Mann mit hinabnehmen würdest! Denn ich befürchte, dass das Aufbrechen der Schiffsluken und der Transport der Kiste an einen einzelnen Mann zu hohe Anforderungen stellen werden. Hast du nicht einen Bekannten, der mit dir das Wagstück ausführt? Zwei vollständige Taucherausrüstungen nebst allem Zubehör befinden sich an Bord.«
»Pablo Guttierez! Er taucht und schwimmt wie ein Fisch!«, rief einer der Umstehenden.
Der junge Taucher trat einen Schritt zurück, nachdem er einen zornfunkelnden Blick auf den Vorlauten geworfen hatte. Auf seinem braunen Gesicht, das bisher keine Spur von Erregung gezeigt hatte, lag plötzlich der Ausdruck finsteren Hasses.
»Señor, ich bitte Sie!«, rief er dann mit funkelnden Augen. »Wollen Sie, dass ich mit einem Mann hinabgehe, der mein bitterster Feind ist?«
»So schlimm wird es wohl nicht sein«, entgegnete beschwichtigend der Deutsche. »Was hat dir dieser Mann getan, dass du ihn deinen bittersten Feind nennst?«
»Was er mir getan hat?«, rief der heißblütige Mexikaner leidenschaftlich. »Fragen Sie alle, die hier stehen, was Pablo Guttierez mir angetan hat! Er hat meinen Vater getötet! Bei der Heiligen Jungfrau, ich werde es ihm vergelten, sobald meine Zeit gekommen ist!«
»Alle Wetter! Das ist freilich eine böse Sache!«, murmelte betroffen der Professor. »Wie geschah denn das? Im Streit?«
»Sie gerieten im Montespiel wegen eines Pesos in Streit«, antwortete Juan Verena. »Einige sagen zwar, mein Vater habe zuerst zum Messer gegriffen, und Pablo Guttierez sich seiner nur erwehrt. Doch gleichviel! Mein Vater wurde tödlich getroffen, und der Mann, der das Messer gegen ihn gezogen hat, ist mein Feind!«
Ärgerlich schüttelte der Deutsche den Kopf. »Lasst den Streit für heute ruhen«, sagte er bestimmt. »Verrichtet gemeinschaftlich die Arbeit und unterstützt euch gegenseitig. Denn es wird schwer sein, die Kapitänskajüte aufzufinden, da das Wrack schon tief in Sand und Schlick liegen wird. Ich hatte meine Hoffnung auf deinen Vater gesetzt und denke doch nicht, dass du sie zuschanden machen willst! Jeder von euch erhält vierzig Pesos, wenn ihr die Kiste unbeschädigt heraufbringt. Sie enthält Schiffsinstrumente von hohem Wert und darf auf keinen Fall verloren gehen. Nun, wie denkst du über meinen Vorschlag?«
Obgleich die in Aussicht gestellte, für seine Verhältnisse hohe Belohnung einen tiefen Eindruck auf Juan machte, überwog doch seine Abneigung gegen den Mann, der ihm einen so großen Schmerz zugefügt hatte, das vorteilhafte Angebot.
Der deutsche Professor betrachtete ihn. Er kannte die Verhältnisse des Landes und wusste, dass vierzig Pesos ein kleines Vermögen für den jungen Taucher bedeuteten.
»Verständige dich mit Pablo Guttierez«, drängte er dann. »Vergiss für einige Stunden deinen Groll und hole den Mann her, damit ihr gleich mit mir zum Schiff fahren könnt.«
Ein untersetzter, breitschultriger Mensch drängte sich durch die Menge, blieb aber, als er Verena gewahrte, unschlüssig stehen.
»Ich will versuchen, meinen Groll zu überwinden!«, sagte finster Juan Verena, der einen Blick hinter sich geworfen hatte. »Fragt Guttierez selbst, Señor. Dort steht er.«
Der Professor winkte den abseitsstehenden Mann heran, der nur zögernd näher trat.
»Du bist Pablo Guttierez«, fragte er.
»Ja, Señor.«
»Hast du Lust, mit Juan Verena eine Kiste vom Wrack der Hermann Petersen heraufzuholen? Ich biete dir vierzig Pesos für die Arbeit.«
»Gern, Señor, vorausgesetzt, dass Verena mit meiner Begleitung einverstanden ist.«
»Er ist damit einverstanden. Er wird in dir nur den Gefährten und nicht den Feind sehen. Kommt mit zur Jolle.«
Kurz darauf glitt das kleine Fahrzeug zum Dampfer zurück, und die beiden Taucher gingen an Bord, ohne sich eines Blickes gewürdigt zu haben.
Eine Stunde später standen Juan Verena und Pablo Guttierez auf dem Verdeck des Dampfers zur Fahrt in die Tiefe bereit.
Sie trugen die neuzeitlichen Taucherkostüme, die der Professor eigens für diese Zwecke mitgebracht hatte, und machten einen seltsamen Eindruck.
Beide Männer waren vom Kopf bis zu den Füßen in den aus Rock und Hose bestehenden sogenannten Taucherburnus gehüllt, der durchaus wasserdicht war, da sein Stoff aus stark gewebten, mit Gummi durchtränkten Leinenzeug bestand, zwischen dessen doppelten Lagen außerdem noch Gummiplatten eingelegt waren. An den Ärmeln dieses Gewandes befanden sich starke Kautschukmanschetten, die luftdicht das Handgelenk umschlossen, und Gummiarmbänder. Am oberen Rand des Anzuges war ein starker Gummikragen befestigt, auf dem der interessanteste und zugleich wichtigste Teil der Ausrüstung, nämlich der Taucherhelm, aufgesetzt war.
Dieser Helm bestand aus zwei Teilen, dem Schulterstück, das die Befestigung des Helmes am Anzug vermittelt, und dem gerundeten Aufsatz, dem Kopfstück, beide aus Kupfer geschmiedet. Von den mit dicken Gläsern verschlossenen Öffnungen des runden Kopfstückes konnte die oberste abgeschraubt werden. Sie wird erst luftdicht verschlossen, wenn der Taucher ins Wasser hinabsteigt.
Der Helm selbst ist durch eine fest angeschraubte Röhre mit dem auf des Tauchers Rücken befindlichen Luftregulator verbunden. Von diesem führt ein starker Gummischlauch zur Luftpumpe hoch, die den von der Außenwelt völlig abgeschlossenen Mann mit der nötigen Luft versorgt. Am Regulator befindet sich außerdem ein Ventil, durch das die vom Taucher ausgeatmete Luft entweicht.
Die etwa zwei Zentner schwere Ausrüstung der Männer, einschließlich der großen herzförmigen Bleistücke auf Brust und Rücken, wurde noch durch plumpe, mit dicken Bleisohlen versehene Schuhe vervollständigt. Am starken Lendengürtel eines jeden war ein langes Bastseil befestigt, mit denen die Taucher nach getaner Arbeit heraufgeholt werden sollten.
Der Professor hatte den beiden Männern die Lage der Kapitänskajüte sowie den Ort des fraglichen Geheimfaches genau beschrieben, sodass sie nicht leicht fehlgehen konnten. Er stand mit ihnen auf dem Verdeck und hielt eine Flasche feurigen mexikanischen Weins in der Hand, von dem er jedem ein Glas voll einschenkte. Dann schritt er auf die Schanzverkleidung des Schiffes zu, wohin ihm die beiden Mexikaner mit schwerfälligen Schritten folgten.
»Ich sage also nochmals: Seid vorsichtig!«, ermahnte der Deutsche. »Vergesst euren Groll und haltet zusammen wie gute Kameraden. Denkt stets daran, dass ihr eine Arbeit ausführen wollt, bei der es sich um Tod und Leben handelt!
Ein dreimaliges Rucken am Seil ist das Zeichen für uns, euch heraufzuziehen. Und nun: Glück auf den Weg, ihr Männer!«
Ein Matrose brachte zwei Glühlampen in gläsernem Gehäuse, welche die Meerestiefe taghell erleuchten sollten, um ein Auffinden des Wracks zu ermöglichen, und von denen jeder der beiden Taucher nun eine erhielt. Dann nahm noch jeder ein kurzes, schweres Beil zur Hand und steckte ein Dolchmesser in den Gürtel. Hierauf schraubte der Professor ihnen das obere verschiebbare Glas des Helmes, durch das sie bisher geatmet hatten, zu und trat zurück. Sofort nahm die Luftpumpe ihre Tätigkeit auf.
Der Abstieg begann.
Eine mit Haken versehene Leiter hing von der Schanzverkleidung des Schiffes bis zum Wasserspiegel hernieder. Auf ihr kletterten die Taucher hinunter. Einer nach dem anderen verschwand im nassen Element, und die Flut schloss sich über ihren Helmen.
Von den Basttauen gehalten, sanken die Taucher nun langsam in die Tiefe. Trotzdem es in dem Luftschlauch knatterte und knisterte, kannten sie keine Furcht. Tauchten sie doch nicht zum ersten Mal, sondern von Jugend auf mit den Gefahren des Meeres vertraut, sahen sie in diesem abenteuerlichen Beginnen nur eine kurze, angestrengte Tätigkeit, die ihnen einen für ihre bescheidenen Verhältnisse recht hohen Verdienst einbrachte.
Die Berechnungen des Professors sowie Juan Verenas Vermutungen erwiesen sich als richtig.
Kaum hatten die beiden den Meeresboden erreicht und ihre Glühlampen aufleuchten lassen, als sie schon nach kurzem Suchen, nicht weit von sich entfernt, eine dunkle, unbestimmte Masse gewahrten.
Es war das Wrack der Hermann Petersen, das inmitten seltsam geformter Korallenfelsen schon tief in Sand und Schlick begraben lag.
Juan zeigte mit der Hand auf die Überreste des ehemaligen stolzen Schiffes und deutete dem Gefährten, dass der Ort ihrer Tätigkeit vor ihnen liege.
Pablo Guttierez nickte, und beide Männer schritten auf das Wrack zu.
Der Meeresboden war den Tauchern nicht günstig. Er war aus weicher, breiiger Masse, dem sogenannten Schlick, gebildet, der sie bei jedem Schritt tief einsinken ließ und ihre Gelenke wie mit Eisenklammern umgab.
Eigenartige Gewächse und sonderbar geformte, niedrige Korallen zertraten sie mit den schweren Bleischuhen. Fische mit seltsamem Aussehen, vom grellen Licht angezogen, strichen furchtlos an ihnen vorüber. Sie achteten nicht darauf.
Als die Taucher das Wrack erreicht hatten, beleuchtete Juan kurz die tiefen Einschnitte des Korallenfelsens, zwischen denen das gestrandete Wrack lag. Denn er wusste aus Erfahrung, dass diese Aushöhlungen oft den Schrecken der kalifornischen Küste, den Riesentintenfisch, beherbergten. Das Zusammentreffen mit einem dieser muskelstarken Polypen aber konnte für die Taucher leicht gefährlich werden.
Doch alles schien sicher. Nach einigen Mühen hatten sie das schräg liegende glatte Wrack erklommen, das schon dicht mit Seegewächsen und Muscheln bewachsen war. Es sah wüst und zerschlagen aus. Die Maste waren gekappt, die Schanzverkleidung war zerbrochen und das Steuerhäuschen samt den Rettungsbooten verschwunden. Kurz, das Aussehen des Wracks zeigte deutlich die zerstörende Gewalt des Sturmes, dem der Dampfer zum Opfer gefallen war.
Nach harter Arbeit öffneten die Männer die durch das Wasser zugequollene Luke, die in das Innere hinabführte, wobei sie fortwährend achtgeben mussten, dass das Lasttau und der Luftschlauch sich nicht verwirrten.
Dann gingen sie die Treppe hinunter und wandten gleich darauf entsetzt den Kopf, als sie unten einen ertrunkenen Matrosen gewahrten, der mit seinen hin und her fließenden Gewändern einen schrecklichen Anblick bot. Wäre die Luke nicht so dicht verschlossen gewesen, so wäre der tote Körper wohl längst verschwunden gewesen.
Die Taucher pressten die Zähne zusammen und schritten weiter.
Als sie die Kapitänskajüte erreichten, fanden sie ihre Tür weit offenstehen. Sie beleuchteten die Wände des Raumes und griffen nach ihren Beilen, da sie den ihnen vom Professor bezeichneten Ort des Geheimfaches nunmehr gefunden hatten.
Pablo Guttierez, als der Stärkere, zerbrach nach einiger Anstrengung die Holzvertäfelung und zog die wasserdicht verpackte Kiste hervor, die unbeschädigt und von beträchtlichem Gewicht war.
Nach kurzen, fragenden Gebärden, die sein Gefährte zustimmend beantwortete, schob Pablo sein Beil in den Gürtel, befestigte auch die elektrische Lampe daran und hob die Kiste auf seine breiten Schultern, während Juan Verena, vorwärtsschreitend und auf den Weg leuchtend, die Treppe wieder hinaufstieg.
Der Abstieg vom Wrack ging glücklich vonstatten, und bald befanden sich die beiden Taucher außerhalb des gestrandeten Dampfers.
Ein schwieriger Teil ihrer Tätigkeit war ohne Zwischenfall beendet. Nun galt es, die kurze Strecke bis zu der Stelle zurückzulegen, wo sie den Meeresboden zuerst betreten hatten.
Pablo Guttierez schritt gebückt unter seiner Last, während er die Augen auf den Boden gerichtet hielt. Hätte er einen Blick auf das Gesicht seines Gefährten werfen können, hätte er wohl nicht so ruhig seinen Weg fortgesetzt.
Die Augen Juan Verenas hatten nämlich seit einigen Minuten einen seltsamen, starren Ausdruck angenommen. Seine Gesichtszüge erschienen totenblass unter dem Taucherhelm, und plötzlich flammte es wie in wilder, unbezähmbarer Leidenschaft in seinen Augen auf.
War es die Folge des genossenen schweren Getränkes, die ihn alles andere vergessen ließ, oder rief die Gegenwart des verhassten Mannes aufs Neue die Vergangenheit in ihm wach. Er konnte die Augen von dem arglosen Gefährten nicht mehr abwenden. Plötzlich zuckte seine Hand nach dem Messer im Gürtel.
»Ein Schnitt – und er wäre nicht mehr!«, durchfuhr es den Mexikaner. »Er würde niemals das Tageslicht wiedersehen, und mein Vater wäre gerächt!«
Fast gleichzeitig mit seinen Gedanken zuckte die mit dem Messer bewaffnete Hand hoch, um in wilder Rachsucht den Luftschlauch des ahnungslosen Pablo zu durchschneiden und ihn einem furchtbaren Tod zu überliefern. – Da fuhr Juan erschrocken zusammen und stieß unter dem Taucherhelm einen Schrei des Entsetzens aus.
Das Messer entfiel seiner kraftlosen Hand.
Einige Schritte entfernt gewahrte er in der Aushöhlung eines Korallenfelsens ein unförmliches, seltsam gefärbtes Tier mit großen Augen und langen, hin und her schießenden Fangarmen, die sich blitzschnell zu einem Knäuel zusammenballten, dann wieder wie Beute suchend ausschnellten und durch das Wasser fuhren.
Juan sah die Augen des Riesentintenfisches, der ununterbrochen die Farbe wechselte und in allen Farbenabstufungen schillerte, gerade auf sich gerichtet.
Der Mexikaner stand starr wie der Vogel unter dem Bann des Schlangenblickes.
Er wollte den Gefährten gerade warnend anstoßen und schnell aus der Nähe des gefährlichen Tieres fliehen, da sah er plötzlich den Schatten des Polypen über sich und fühlte mit Todesschrecken, wie sich ein schlangengleicher Arm blitzschnell um seinen Körper legte und ihn unbeweglich an den Ort fesselte, wo er sich befand.
Ein zweiter und dritter Fangarm schlang sich ihm sofort darauf um Hals und Schultern und drohte, ihm die Glieder zu zerbrechen, wobei Juan einen so furchtbaren Schmerz empfand, dass er dem muskelstarken Saugarm des Tieres keinen Widerstand mehr entgegenzusetzen vermochte.
Doch sah er, wie sein Gefährte das Dolchmesser aus dem Gürtel riss und todverachtend auf das ungeheure Tier eindrang. Dann schwand ihm die Besinnung.
Der nächste Augenblick musste über sein Leben entscheiden …
Auf dem Achterdeck des Dampfers schritt währenddessen der Professor unruhig auf und ab.
Hin und wieder warf er einen Blick auf die Luftpumpe, an der vier Männer unablässig tätig waren, und wandte sich dann an den Steuermann, der mit der Uhr in der Hand bei den Matrosen stand, welche die Baststricke hielten, an denen die Taucher heraufgezogen werden sollten.
»Wie lange sind sie schon unten«, fragte er besorgt.
»Dreiundzwanzig Minuten«, antwortete dieser achselzuckend nach einem Blick auf die Uhr.
»Ich begreife es nicht!«, sagte der alte Herr unruhig. »Entweder können sie das Wrack nicht finden oder es ist etwas passiert! Gebt gut Obacht auf die Taue!«, rief er den Matrosen zu. »Ein dreimaliges Rucken am Tau ist das Zeichen zum Heraufholen.«
Er stellte sich in ihre Nähe und blickte scharf auf die Baststricke. Plötzlich begannen sie sich ungestüm zu bewegen. Es war nicht das verabredete Zeichen, sondern ein fortwährendes Reißen und Ziehen am Tau wie in höchster Not.
»Holt die Taue ein, Leute! Schnell – holt ein!«, rief aufgeregt der Professor. »Da ist etwas Unvorhergesehenes passiert oder ein Unglück geschehen!«
Mit diesem Ausruf sprang er auf die Männer zu und half selbst, die Taue hochziehen.
Ein paar angstvolle Sekunden verstrichen, die den Männern wie eine Ewigkeit vorkamen. Dann teilte sich die Flut, und die Gestalten der beiden Taucher wurden sichtbar. Während der eine von ihnen eine kleine Kiste krampfhaft umfasst hielt, schien der andere ohne Besinnung zu sein. Denn er bewegte sich nicht und ließ die Arme schlaff am Körper herunterhängen. An seinem Burnus aber klebten vier oder fünf längliche Gegenstände, die große Ähnlichkeit mit Schlangenkörpern hatten.
Der Professor warf einen Blick darauf und wurde blass.
»Herauf mit ihnen – schnell herauf!«, rief er hastig den Matrosen zu.
Einige Sekunden später befanden sich beide Mexikaner in Sicherheit. Im Nu waren die Helme abgeschraubt und die wassertriefenden Gewandungen abgestreift.
Während sich der Schiffsarzt um den besinnungslosen Juan bemühte, lehnte Pablo Guttierez halb ohnmächtig an der Reling. Er schien vollständig entkräftet zu sein.
Der Professor trat auf ihn zu und drückte ihm dankend die Hand. »Ruhe dich aus, mein Freund!«, sagte er, als der Mexikaner eine Erklärung des Vorgefallenen geben wollte. »Ich weiß schon, was ihr da unten erlebt habt. Es war eine Riesensepia, wie ich an den Saugarmen dem Unhold zu Leibe gegangen und hast dadurch deinen Landsmann vom sicheren Tod errettet. Denn ohne deine Unerschrockenheit hätte er Guaymas nicht wiedergesehen!«
Zwei Stunden später legte Juan Verena seine Hand in die seines Gefährten.
»Lass uns die Vergangenheit vergessen, Pablo Guttierez«, sagte er versöhnend. »Du hast mich vor einem entsetzlichen Tod bewahrt. Ohne deine Hilfe wäre ich dem Tier zur Beute gefallen. Lass uns Freunde sein für immer!«