Paraforce Band 21
D.X.G. 14
Die Nachtluft schien zu vibrieren. Es knisterte in den Bäumen. Kleine Flämmchen züngelten an den Astspitzen.
Der Mond verwandelte sich in eine fahle Scheibe.
Die Wogen des Meeres bäumten sich auf. Ohne vorherige Ankündigung verwandelte sich die bisher glatte Bucht in einen kochenden Kessel. Das Tosen des Wassers wurde übertönt von einem schrillen Ton, der an das Wimmern armer Seelen erinnerte. Er drang durch die halb offenen Autoscheiben.
Als die pechschwarze Wand sich unmittelbar vor der Küste aufrichtete, schlug Amanda Harris krachend den ersten Gang ein und drückte das Gaspedal bis zum Bodenblech durch. Der Cherokee machte einen gewaltigen Satz nach vorn. Die Räder radierten. Mit jaulenden Pneus schoss der Wagen um den Kreisverkehr zur Ortsmitte. Es gab nur eine Chance: Das Hafenbecken zu erreichen und einfach hineinzuspringen, um tief unterzutauchen. Amanda errechnete ein Zeitfenster von dreieinhalb Minuten.
Zweiter Gang, dritter Gang, vierter Gang … Das Getriebe protestierte, aber der Geländewagen beschleunigte immer weiter.
Da!
Die Hafenmauer!
Die Paraforce-Agentin hielt sich nicht mit dem Betätigen der Bremse auf. Sie rollte sich aus dem offenen Fahrzeug, schlug hart auf, überschlug sich auf der Grasnarbe neben der Fahrbahn, kam auf die Füße und hechtete über die Mauer.
Wie eine gewaltige, überirdische Faust schleuderte es sie zur tintenschwarzen Wasseroberfläche.
Yorkshire, 2 Monate vorher
Ein milder Frühherbsttag.
Die gestreckte, schlanke, durchtrainierte Gestalt schoss durch das Außenschwimmbecken. Die Agentin Amanda Harris schwamm ihre morgendlichen dreißig Bahnen. Danach tauchte sie noch einmal durch die volle Länge des tiefblauen Pools, ehe sie sich am alabasterfarbenen Rand hochzog. Leichtfüßig und völlig nackt trat sie unter die Dusche und ließ wohlig den Massagestrahl über ihre Haut prickeln.
Jane Gleymore, ihre neue Haushaltshilfe, hatte vor vier Wochen ihren Dienst angetreten. Eine junge Frau mit wachen Augen, die Blackstone ihr wärmstens empfohlen hatte.
»Sie hat die besten Referenzen und fünf Jahre für Sir Bert McCannon von der Abwehr gearbeitet. Verschwiegen und loyal.«
Amanda hatte etwas skeptisch geschaut. »Ist Sir Bert nicht bei einem mysteriösen Flugzeugabsturz ums Leben gekommen?«
»Richtig! Wir konnten das nicht klären. Jemand musste von seiner Geheimdiensttätigkeit gewusst haben. Er arbeitete an einem Dossier, das er mir übergeben wollte. Worum es ging … da hüllte er sich in Schweigen.«
Sie trocknete sich eben mit dem lindgrünen Badetuch ab, als auf der Hollywoodschaukel das Mobiltelefon anschlug. Vier Schritte brachten sie hinüber. An dem Code aus Buchstaben und Zahlen erkannte sie, dass es die Paraforce-Zentrale war.
Amanda aktivierte das Gerät. »Code 6/4.«
»Sie werden verbunden«, ertönte eine Computerstimme. Dann: »Blackstone hier. Miss Harris, treffen Sie sich um vier Uhr mit Sir Miles in London. Planquadrat C-7. Es eilt.«
Damit wurde die Verbindung unterbrochen.
Amanda Harris nahm das Telefon mit ins Haus. In ihrem Schlafzimmer schlüpfte sie in einen hellen Hosenanzug, dann lief sie – noch immer barfuß – zum PC in ihrer Arbeitsecke des weiträumigen Salons.
Der nierenförmige Schreibtisch stand genau gegenüber des überdimensionalen Gemäldes von El Greco.
Die Agentin fuhr den PC hoch. Mittels eines speziellen Eingabecodes aktivierte sie die ständig wechselnde Planquadratkarte der Hauptstadt.
C-7 befand sich in Chelsea. Amanda zoomte. Sie sah die Straße und dann ein Kreuz. Ein Restaurant namens Bajrang.
Die Agentin googelte und erfuhr, dass es sich um ein Thai-Restaurant handelte. Der Inhaber hieß Agar Batti.
Mit einem Mausklick orderte sie ihren eigenen Helikopterdienst.
London
Der Helikopter näherte sich in geringer Höhe dem etwas außerhalb der Stadt gelegenen Flugfeld.
Bereits beim Überflug der Stadtbezirke war Amanda eine Glut von Blinklichtern diverser Katastrophenschutz-Fahrzeuge aufgefallen. Auch glaubte sie, an einigen Stellen Rauchwolken zu erkennen.
Hatte es einen Terroranschlag gegeben?
Auch auf dem Flugfeld herrschte angespannte Stimmung. Ein großer blonder Mann kam eben die Treppe des Towers herunter. Als er die rassige Frau mit dem hüftlangen pechschwarzen Haar sah, blieb er stehen, lächelte und rief dann: »Amanda Harris! Wie lange haben wir uns nicht gesehen?«
Über das Antlitz der Agentin huschte ein freudiges Erkennen. »Mike!« Sie begrüßten sich herzlich.
»Was treibt dich nach London?«, wollte der hochgewachsene Mann wissen.
Amanda zuckte die Achseln. »Geschäfte.«
»Aha«, kam es amüsiert zurück.
»Was ist eigentlich los? Ich sah beim Anflug jede Menge Rettungsfahrzeuge und Ähnliches.«
»Jemand hat wohl einen Sprengsatz in einem Waggon der Baker Street Line gezündet. Es soll zwanzig Tote gegeben haben,«
Amanda runzelte die Stirn. »Iren?«
Der mit Mike begrüßte Hüne schüttelte den Kopf. »Sicher nicht. Aber genau weiß das noch keiner. Alles ist jedenfalls abgeriegelt.«
»Ich muss nach Chelsea.«
Mike hob die Hände. »Das sieht im Moment schlecht aus.«
In diesem Moment begann der Boden zu vibrieren. Erschreckt blickte Amanda nach unten. Da hechtete Mike mit einem gewaltigen Sprung zur Seite. Ein Riss entstand in der Rasenfläche. Er zog sich wie eine Schlange und der Boden klaffte plötzlich einen halben Meter auseinander.
Amanda rannte zur Towertreppe.
Dann beruhigte sich alles.
»Bullshit! Was war das?«, kam es krächzend über die Lippen der Agentin.
Mike stand steif da – kalkweiß. »Keine Ahnung.«
»Plötzliche Erdbeben in England?«
Mike atmete schwer. »So was erlebe ich zum ersten Mal.«
Wild gestikulierend kamen zwei Männer aus dem Tower zur Treppenplattform. Auch sie staunten über den Riss.
Eine plausible Erklärung gab es zur Stunde nicht.
Nach einer Stunde hatte es Amanda tatsächlich geschafft, das Bajrang zu erreichen. Sir Miles war nicht da, hatte aber eine Nachricht hinterlassen. Sie solle gegen achtzehn Uhr in sein Büro kommen. Die Agentin vermutete, dass ganz Scotland Yard auf den Beinen war.
Sie bestellte einen Kaffee an der kleinen Bar.
In dem halb gefüllten Restaurant wurden die Vorkommnisse heftig diskutiert. Erklärungen hatte niemand – lediglich wilde Spekulationen.
Amanda angelte sich die SUN und blätterte gedankenverloren durch die Seiten. Da blieb ihr Blick auf einer zweispaltigen Überschrift hängen.
Illusionist Gerry Townsend aus dem Gefängnis verschwunden
Die Agentin las den Artikel.
Man verdächtigte den Künstler, seine Partnerin Eileen Sheern umgebracht zu haben. Allerdings fand man keine Verwundung. So tippte Scotland Yard auf ein noch nicht in der Pathologie nachweisbares Gift. Man nahm Townsend in Untersuchungshaft. Nun war er aus seiner Zelle verschwunden, obwohl laut Kamerabeweisen wie auch durch die Aussage des Gefängnispersonals niemand die Zellentür geöffnet hatte. Auch ein Ausbruch durch das Fenster erwies sich als unmöglich.
Townsend war einfach weg! Seit zehn Tagen.
Nun, so überlegte die Agentin, es würde sicher eine reale Erklärung geben.
Sie trank ihren Kaffee aus und verließ das Restaurant. Als sie gemächlich die Straße hinunter ging, bemerkte sie die verstärkte Präsenz uniformierter Polizisten.
»Miss Harris«, vernahm sie da eine geflüsterte Stimme neben sich. Sie schaute in die entsprechende Richtung, konnte aber niemanden sehen. Sie blieb stehen.
»Miss Harris!«
Diesmal kam die Stimme von der anderen Seite. Doch auch dort entdeckte die Agentin niemanden. Sie spürte, wie sich ihre Nackenhaare leicht sträubten.
»Gehen Sie in die schmale Gasse dort drüben«, vernahm sie nun erneut die Stimme.
Amanda holte tief Luft und folgte der Anweisung.
Ihre Augenbrauen schossen hoch, als sich – wie eine Holografie – ein Mann vor ihr materialisierte.
Allerdings verstofflichte er sich nicht völlig, sondern blieb leicht milchig durchsichtig.
Amanda Harris wusste blitzartig, wen sie vor sich hatte.
Gerry Townsend!
Sie holte dreimal tief Luft.
»All right, Mr. Townsend – was wollen Sie?«
»Sie haben mich also erkannt«, kam es seufzend.
»Das war nicht schwierig. Also?« Ihre Stimme klang fordernd.
Der halb durchsichtige Mann vor ihr gestikulierte wild. »Ich habe die Bombe nicht in die U-Bahn gelegt!«
Die Agentin kniff ein Auge etwas zu. »Wer behauptet das?«
»Man wird es behaupten!«, kam es schrill zurück. »Genauso, wie gesagt wird, ich hätte Eileen umgebracht.«
»Und? Haben Sie?«
»Natürlich nicht!«
»Wer dann?«
Wieder warf Townsend in hilfloser Gestik die Arme hoch. »Ich weiß es nicht!«
Amanda sah sich um. Sie waren allein.
Irgendetwas in ihr festigte sich dahin gehend, dem Mann zu glauben.
»Also … wieso materialisieren Sie nicht vollständig? Mit dieser Gabe sind Sie doch aus dem Gefängnis entkommen.«
»Ich sitze in einer Zwischenraumschleife.«
»Erklären Sie das genauer.«
Sie sah, dass der Körper langsam wieder durchsichtiger wurde. Auch die Stimme klang verwehter.
»Finden Sie D.X.G. 14!«
Über Amandas Nase entstand eine steile Falte. »Was ist das?«
Doch da war Townsend verschwunden. »Finden Sie … D.X.G 14 … Die Wahrheit …«
Wie vom Wind davon getragen vernahm sie es noch.
Völlig irritiert blieb die Agentin noch eine Weile stehen.
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