Marshal Crown – Band 9
Die Glocke im Turm der weiß getünchten Kirche von Buffalo Springs schlug zur sechsten Morgenstunde, als sich von Osten her ein Reiter näherte.
Frühnebel hing in milchigen Schleiern zwischen den Häusern und die Luft war noch feucht und klamm. Außer einem glatzköpfigen Salooner, der mit einem Reisigbesen die Reste einer wilden Nacht aus seinem Etablissement fegte, und dem Hämmern, das aus der Schmiede herüber klang, war weder eine Menschenseele zu sehen noch zu hören.
Die kleine Stadt lag wie ausgestorben vor dem Reiter.
Trotzdem drehte er sich immer wieder im Sattel um, als schien er zu befürchten, verfolgt zu werden. In der Mitte der Mainstreet, die den Ort fast kerzengerade von Osten nach Westen hin durchlief, stieg der Reiter aus dem Sattel und führte sein Pferd in eine Gasse zwischen zwei Holzhäusern. Dort lockerte er seinen Colt im Halfter und blieb abwartend hinter einer Regentonne stehen.
Keine fünf Minuten später kam erneut Hufschlag auf.
Ein zweiter Reiter tauchte in den östlichen Hügeln auf und schwenkte ebenfalls auf den Overlandtrail ein, der direkt nach Buffalo Springs führte.
Kurz vor dem Ortseingang zügelte er sein Pferd und ließ seinen Blick über die Mainstreet gleiten. Dann nahm er die Sicherungsschlaufe vom Hammer seines Six Shooters und ritt im Schritt weiter, bis er den glatzköpfigen Salooner erreicht hatte.
Inzwischen lösten sich die Nebelschwaden nach und nach auf.
»Morgen«, grüßte er knapp.
Der Wirt blickte auf und zuckte zusammen.
Der Reiter sah aus, als hätte ihn die Hölle ausgespuckt. Seine Haut war von der sengenden Texassonne fast schwarz gebrannt, sein Bart war struppig und das dunkle Haar hing ihm schweißverklebt bis in die Stirn.
Die Kleider waren staubbedeckt und zerschlissen, die Absätze seiner Stiefel abgelaufen und das Leder brüchig. Das einzig Gepflegte an ihm war sein Revolver und das Waffenholster, die im Morgenlicht um die Wette zu glänzen schienen.
»Tut mir leid, Mister …«, sagte der Salooner unsicher, während er mit beiden Händen seinen Reisigbesen umklammerte. »Aber ich darf Ihnen noch nichts ausschenken. Anordnung vom Marshal, Alkohol gibt es erst ab zehn Uhr.«
»Ich will auch nichts trinken«, erklärte der bärtige Fremde. »Ich will nur eine Auskunft. Ich bin auf der Suche nach einem Freund von mir. Er müsste vor Kurzem hier vorbeigekommen sein. Hat ungefähr meine Größe und auch schwarze Haare.«
»Diese Beschreibung trifft auf die meisten Männer in der Stadt zu«, erwiderte der Angesprochene. Er schien sichtlich erleichtert darüber zu sein, dass das Interesse des Fremden nicht ihm galt. »Trotzdem habe ich heute noch niemanden gesehen, auf den sie passen würde. Aber das ist auch kein Wunder, es ist ja noch ziemlich früh. Versuchen Sie es doch mal vorne in der Schmiede, es ist der einzige Laden, der um diese Zeit schon geöffnet hat.«
»Danke!«
Der Fremde, der angeblich auf der Suche nach einem Freund war, tippte mit dem Zeigefinger der Rechten an die Stirn und zog sein Pferd herum.
Der Salooner sah ihm einen Moment lang nachdenklich hinterher und verschwand dann kopfschüttelnd im Haus.
Bis zur Schmiede waren es ungefähr einhundert Yards.
Der Fremde hatte etwa die Hälfte der Strecke hinter sich gebracht, als er unvermittelt im Sattel zusammenzuckte. Er hatte aus den Augenwinkeln heraus das Pferd in der Gasse zwischen den Häusern bemerkt. Als er den Kopf hob, sah er den Reiter hinter einem Regenfass kauern.
»Hallo Ben.«
»Hallo Jack«, erwiderte der andere. »Komm ruhig näher.«
Jack Miller zügelte sein Pferd und legte die Hand auf den Colt. Dann ritt er langsam auf den Mann zu, dem er so viele Meilen gefolgt war. Dabei grinste er hinterhältig.
»Habe ich dich doch erwischt?«
»So könnte man es auch nennen«, sagte Ben, während er sich suchend umblickte. »Wo sind die anderen?«
Miller lachte meckernd. »Wo wohl? Diese Dummköpfe sind alle auf deinen Trick hereingefallen und jetzt in Richtung Grenze unterwegs. Nur der alte Jack nicht, den legt keiner so schnell aufs Kreuz, vor allem nicht, wenn es um zweitausend Dollar geht!«
»Wow!«, stieß Ben Wentfort erstaunt hervor. »Ich hätte nicht gedacht, dass ich Baxter soviel wert bin.«
»Das bist du auch nicht«, erklärte ihm Jack. »Aber die Papiere, die du ihm aus seinem Schreibtisch gestohlen hast. Er wird Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um dich zu erwischen. Und glaub mir, du wirst ihm nicht entkommen, dazu besitzt er zu viel Geld und Einfluss. Aber ich hätte da eine Idee.«
»So?«, erwiderte Ben und blickte sein Gegenüber erwartungsvoll an.
»Natürlich, oder warum, denkst du, habe ich die anderen in die falsche Richtung reiten lassen? Also, wie sieht es aus, könnten wir ins Geschäft kommen?«
»Wenn du mich überzeugen kannst, warum nicht?«
»Kein Problem, allerdings wäre es einfacher, wenn wir uns dabei gegenüberstehen würden. Ich möchte die Sache nicht unbedingt durch die halbe Stadt brüllen.«
»Einverstanden«, nickte Ben. »Aber lass deine Hände vom Colt.«
Miller nickte und glitt aus dem Sattel. Vorsichtig näherte er sich dem Eingang der Gasse.
»Das genügt«, sagte Ben, als sein Gegenüber keine fünf Yards mehr von ihm entfernt war.
»Also, was ist das für ein Geschäft?«
»Wir machen gemeinsame Sache und verkaufen Baxter die Papiere für – sagen wir mal – zehntausend«, schlug Miller vor.
»Das wären dann fünftausend für jeden für uns. Baxter weiß, dass wir ihm zusammen mehr Schwierigkeiten machen können, als er verkraften kann. Da er sich derzeit kein Aufsehen leisten kann, wird er sicherlich schnell einlenken. Überleg mal, fünftausend Piepen für jeden von uns, damit könnten wir in Mexiko Jahre die Puppen tanzen lassen, bis wir alt und grau sind. Also wenn das kein Vorschlag ist, weiß ich auch nicht.«
Ben bleckte die Zähne.
»Du hast recht, aber leider kommst du damit etwas zu spät.«
»Wieso?«, schnappte Miller ärgerlich.
»Weil ich die Papiere nicht mehr habe«, erklärte Ben.
»Wo sind sie dann?«
»Das kann ich dir leider nicht sagen.«
Miller verzog sein Gesicht zu einem abfälligen Grinsen.
»Dann tut es mir leid für dich. Schätze, ich werde mich wohl oder übel mit den zweitausend begnügen müssen, die Baxter für dich zahlt. Ihm ist es übrigens egal, ob ich dich tot oder lebendig heranschaffe. Hauptsache, ich ziehe dich aus dem Verkehr, du weißt nämlich viel zu viel.«
Ben Wentfort lächelte belustigt. »Man sollte das Fell eines Bären erst verteilen, wenn man ihn erlegt hat.«
Miller lachte heiser und zog seinen Colt.
Zwei Schüsse peitschten gleichzeitig.
Die Detonationen wurden in der dunklen Gasse als Echo vielfach verstärkt zurückgeworfen.
Jack Miller wurde vom Aufprall der Kugel nach hinten gestoßen, strauchelte und krachte hart zu Boden.
»Du Idiot«, sagte Ben und beugte sich mit schmerzverzerrtem Gesicht über den Toten. »Das hättest du auch einfacher haben können.«
Hastig durchwühlte er Millers Kleidung. Dann taumelte er zu seinem Pferd und schwang sich stöhnend in den Sattel.
Die vollständige Story steht als PDF, EPUB und MOBI zur Verfügung.
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