Im fernen Westen – Feurige Kohlen 1
Die Sonne versank in Dunstwolken hinter dem niedrigen Gestade im Westen des Michigansees und überglühte mit ihren letzten Strahlen dessen breite Fläche, als sich am Bord des Dampfschiffes Abraham Lincoln, welches von Grand Haven bei Mill Point in Michigan nach Milwaukee hinüberfuhr, eine ungewöhnliche Bewegung geltend machte. Die zahlreichen Passagiere des Schiffes suchten ihr Gepäck zusammen, um sich zur Weiterreise bereit zu machen, denn die Schiffsmannschaft hatte verkündet, dass man sich dem Hafen von Milwaukee, der rasch aufblühenden Handelsstadt des Staates Wisconsin, nähere. Und in der Tat sah man bald darauf undeutlich durch den aufsteigenden dünnen Nebel des Seegestades den Rauch von hohen Dampfkaminen, die verschwommenen Dächer einer Stadt und die Masten der vor ihr ankernden Schiffe. Bald flammte, noch ehe die Dämmerung herabgesunken war, das Licht des Leuchtturmes auf.
»Also dort ist Milwaukee, an jenem niederen, flachen Strand?«, fragte ein junger Passagier seinen Gefährten und trug seinen leichten Reisesack so nah wie möglich an die Schanzverkleidung des Schiffes.
»Du lieber Himmel! Da ist ja weit und breit kein Hügel oder Berg zu sehen, Max!«
»Natürlich, denn wir sind in der Prärieregion, Otto, und die Gegend wird hier noch flacher werden als die weiten Niederungen von Wisconsin, welche wir gestern per Eisenbahn durchfahren haben«, versetzte Max. »Dieselbe Fläche breitet sich hier aus nach Nord und Süd und Westen bis an den Fuß der Felsengebirge, und wir müssen von Bergen und Hügeln auf einige Zeit Abschied nehmen, mein lieber Junge.«
»O weh, dieses Flachland wird nur Heimweh verursachen nach meinen schönen süddeutschen Bergen«, meinte Otto wehmütig, »mir ist, als könne ich nicht leben ohne Wald und Berge!«
»Bah, wir müssen sie eben entbehren lernen, mein Junge«, sagte Max ruhig. »Not kennt kein Gebot, und Shakespeare sagt ja: ›Ein jeder Ort, besucht vom Aug’ des Himmels, ist Glückeshafen einem weisen Mann!‹ Wenn wir nur in Milwaukee finden, was wir suchen, denn unsere Mittel werden uns nicht erlauben, dem Glück noch weiter nachzujagen. Wir müssen in Gottes Namen mit allem vorlieb nehmen, was sich uns bietet.«
»Leider«, murmelte Otto, seinen Reisesack fest an sich ziehend, und schaute gedankenvoll abwechselnd auf die Mitfahrenden, welche sich allmählich auf dem Deck des Dampfschiffes einstellten, und hinüber zu der Stelle, wo Milwaukee trotz des abendlichen Schimmers immer deutlicher aus dem See aufstieg. Sein Blick richtete sich auf die Reihe der herantretenden Passagiere, und ein heiteres Lächeln flog über sein Gesicht. »Eine gute Vorbedeutung, Max!«, flüsterte er seinem Begleiter zu. »Dort entdeckte ich plötzlich ein bekanntes Gesicht – Herrn Howard, den Amerikaner, welcher an Bord der Hermann mit uns von Southampton nach New York herüberfuhr.« Er zeigte Max den genannten Herrn, einen Mann von etwa fünfzig Jahren mit einem sonnengebräunten, ernsten, aber sanften Gesicht, welcher unweit von ihnen stand und ein kleines Mädchen von etwa neun Jahren in Trauerkleidern an der Hand hielt.
»Ja, es ist Herr Howard«, erwiderte Max, »aber er kennt und erkennt uns ja nicht, und wie kann er uns helfen?«
»Na, es ist immerhin ein Trost, ein bekanntes Gesicht mitten unter wildfremden Menschen zu erblicken«, sagte Otto. »Und wenn er uns auch noch nicht bemerkt hat, so bin ich doch überzeugt, dass, wenn wir seinen Rat bedürften, er uns denselben nicht versagen würde. Er hat so etwas Wohlwollendes und Vertrauenerweckendes an sich.«
»Du bist ein sonderbarer Schwärmer, Otto!«, versetzte Max. »Dieser Howard mag ein ganz braver Mann sein, aber er ist ein Amerikaner, und diese denken immer nur zunächst an sich und rühren keinen Finger für einen Fremden, wenn er ihnen nicht besonders empfohlen ist. Wie und mit welchem Recht sollten wir uns an ihn wenden?«
»Bah, die Menschen sind überall gleich, Max, und ein gutes Wort findet überall eine freundliche Stätte«, meinte Otto. »Und wenn ich mich erinnere, wie freundlich dieser Howard gegenüber dem armen böhmischen Weib von den Zwischendeckspassagieren war, deren Kind das Bein am Bord brach, so denk’ ich doch besser über ihn …«
»Zurück da! Gebt Raum für die Schiffsmannschaft!«, rief einer der Schiffsoffiziere barsch. »Macht den Steuerbord frei zum Anlegen!«
Die Passagiere wurden alle zurückgedrängt und mussten die Mitte des Decks aufsuchen, denn die Vorbereitungen zum Landen wurden getroffen.
Bald sah man in der rasch niedersinkenden Dämmerung die gelben Backsteinhäuser der Stadt und die hohen Speicherbauten an der Anlände, die Gasflammen am Kai wurden angezündet, eine bunte, geschäftige Menge drängte sich dort an den Kais, um die landenden Passagiere zu erwarten. Das Dampfschiff schwenkte herum, legte sich mit der Steuerbordseite an die Hafenmauer, die Taue flogen vom Schiff und Land herüber und hinüber, um den Dampfer festzulegen, die Landungsbrücke wurde an Bord herübergeschoben, und die paar hundert Reisenden, welche mit der Abraham Lincoln angekommen waren, worunter sich sehr viele Einwanderer mit Kindern und vielem Gepäck befanden, drängten sich über die Landungsbrücke zum Ufer.
Max Becker und Otto Hallmayer, die beiden deutschen Jünglinge, sahen sich alsbald von dem Strom der Aussteigenden mit fortgerissen und hatten Mühe, beieinanderzubleiben und sich der Zudringlichkeit der Lastträger, Fuhrleute, Droschkenkutscher und Touters (der Werber für die Gasthöfe) zu erwehren, welche sich auf die Ankömmlinge stürzten und ihnen ihr Gepäck abnehmen und sie davonführen wollten. Allein sie verteidigten ihre Reisesäcke hartnäckig und erwehrten sich der frechen Zudringlichkeit soviel als möglich. Max bemerkte es nicht, dass Otto sich Mühe gab, in die Nähe des Herrn Howard zu kommen, zu welchem er sich anscheinend durch ein instinktmäßiges Vertrauen hingezogen fühlte, und bemühte sich nun, weil er den schweren Reisesack trug, Schulter an Schulter mit dem Freund zu bleiben. Otto hatte aber einen besonderen Grund, die Nähe des fremden Herrn Howard zu suchen. Diesem schienen solche lärmende Auftritte nichts Ungewöhnliches zu sein, denn er steuerte mit Ruhe durch das Gedränge, an der rechten Hand das kleine Mädchen, dem in diesem Gewirr ganz bange sein mochte, in der linken Hand ein kleines, mit Leder überzogenes Reiseschreibpult und einen Regenschirm. Sein Gepäck hatte er schon am Bord einem Lastträger übergeben, den er nun an Land erwartete, wo er sich zunächst eines Cab oder einer Droschke versichert hatte. Sobald er seinen Koffer und seine beiden Reisesäcke aus der Hand des Lastträgers in Empfang genommen und dem Kutscher übergeben hatte, hob er das Kind in den Wagen, stieg selbst ein und rief dem Kutscher zu: »Zum Kontinental-Hotel!«, worauf das Cab davonfuhr.
»Wo wollen wir absteigen, Otto?«, fragte Max Becker, welcher sich neugierig dieses Gewühl betrachtet hatte, seinen Begleiter.
»Ich denke, im Kontinental-Hotel«, gab Otto zur Antwort.
»Hm, das wird wohl eines der großen, teuren Hotels sein, welche über unsere Mittel gehen«, wandte Max ein. »Man hatte uns ja ein anderes, Wohlfeileres empfohlen.«
»Bah, es wird den Kopf nicht kosten, lieber Freund«, erwiderte Otto. »Und wer weiß, wozu es gut ist, wenn wir in einem der besseren Hotels absteigen! Vielleicht machen wir eine Bekanntschaft, welche uns von Nutzen ist!«
»Na, meinetwegen denn, mein Junge, obwohl es mir nicht recht gefallen will, dass wir bei unseren geringen Mitteln aufs Geratewohl ein so vornehmes Hotel aufsuchen«, sagte Max.
Beide nahmen nun das nächste beste Cab und fuhren ebenfalls zum Kontinental-Hotel.
Sie kamen gleichzeitig mit Herrn Howard vor dem riesigen Gebäude an und fanden sich mit diesem in dem sogenannten booking office oder Kontor ein, wo sie sich zwei bescheidene Schlafzimmer im obersten Stockwerk geben ließen und diese sogleich mit ihrem leichten Gepäck bezogen. Während sie nun unter Führung eines schwarzen Kellners die breite, prächtige Marmortreppe des Hotels hinaufstiegen, hatte auch Herr Howard sich Zimmer genommen, welche im dritten Stockwerk lagen, und war mit dem hydraulischen Aufzug hinaufgefahren. Als die beiden deutschen Jünglinge die Anlände des dritten Stockwerks passierten, sahen sie Herrn Howard mit seiner Begleiterin aus dem Lift oder Aufzug aussteigen und dicht daneben in ein Zimmer eingewiesen werden. Sie mussten das unwillkürlich bemerken, da ein ihnen entgegenkommender fremder Herr einige Fragen an ihren Kellner richtete und sie aufhielt. Dann stiegen sie vollends in ihren fünften Stock hinauf und wurden in ihre mit einfacher Eleganz und Behaglichkeit eingerichteten Zimmer eingewiesen, wo sie sich zunächst wuschen und reinigten und dann in den Speisesaal hinuntergingen, weil ein Gong oder große Messingglocke zur Abendmahlzeit entbot. Dort erwartete sie eine lange, mit allen möglichen leckeren Speisen besetzte und reich verzierte Tafel, an welcher sich schnell über hundert Gäste niederließen und mit einer wahren Gier über die Speisen herfielen.
Es war das erste Mal, dass die beiden jungen Deutschen an einer solchen amerikanischen Tafel speisten, denn in New York hatten sie nach ihrer Ankunft und seither mit einem bescheidenen deutschen Speisehaus in der Duane Street sich begnügt und auch auf der Reise landeinwärts seither aus Sparsamkeit immer nur wohlfeile, kleine Gasthäuser aufgesucht. Der ungewohnte Luxus aber, welche sie hier umgab, hinderte die Hungrigen nicht, der überreichen Auswahl von vorzüglichen Gerichten an Fisch, Fleisch, Wildbret, Geflügel, Pasteten … alle Ehre anzutun und sich dabei tüchtig zu sputen, denn sie sahen es ihren Tischnachbarn ab, dass man hier keck zugreifen müsse, wenn man sich seinen Anteil an den guten Dingen dieser Welt sichern wollte. Und so schenkten sie denn vorerst ihren Tischgenossen wenig Aufmerksamkeit. Max wenigstens bemerkte nur zufällig, dass auch Herr Howard mit dem Kind in ihrer Nähe am Tisch Platz genommen hatte und sie flüchtig beobachtete, als ob ihm ihre Physiognomien nicht ganz unbekannt wären. Otto aber war darüber sehr erfreut und hatte Herrn Howard durch eine schüchterne Verbeugung gegrüßt, welche dieser leichthin erwiderte.
Die Mahlzeit war bald vorüber, und da bei derselben nur Tee und Eiswasser und keinerlei geistige Getränke genossen worden waren, so begaben sich die gesättigten Gäste meistens hinunter in das sogenannte bar room oder Schenkzimmer des Hotels, um dort etwas zu trinken.
Max aber sagte, als er vom Tisch aufstand, zu seinem Freund: »Komm, Otto, es ist noch früh am Abend. Lass uns einen Spaziergang durch die Stadt machen, um diese zu besichtigen. Danach wollen wir die Kneipe des deutschen Turnvereins zu ermitteln suchen, dort ein Glas Lagerbier trinken und Bekanntschaften anknüpfen, welche möglicherweise zu einer Anstellung oder Beschäftigung führen können, denn es ist nachgerade die höchste Zeit, dass wir daran denken, ein wenig Geld zu verdienen.«
»Ist mir ganz recht, Max«, meinte Otto, »und vielleicht gelingt es uns hier besser als in New York, Buffalo und Cleveland.«