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Der kopflose Reiter 1

Thomas Mayne Reid
Der kopflose Reiter
Prolog

Der Hirsch von Texas, auf seinem mitternächtlichen Lager liegend, wird durch den Hufschlag eines Pferdes aus seinem Schlummer aufgeschreckt.

Er verlässt weder sein Versteck, noch richtet er sich auf. Sein Gebiet teilt er sich mit den wilden Rössern der Savanne, die nächtens umherziehen. Er hebt nur seinen Kopf und, mit dem Geweih das hohe Gras überragend, lauscht er auf die Wiederholung dieses Geräusches.

Erneut ist der Hufschlag zu hören, jedoch mit veränderter Intonation. Es klingt wie ein Metallring – wie ein Klirren von Stahl auf Stein.

Dieser Klang, signifikant für das Ohr des Hirsches, verursacht eine schnelle Änderung seiner Miene und Haltung. Plötzlich springt er von seinem Lager auf, überwindet sehr schnell einige Yards durch die Prärie, hält für einen Augenblick inne und blickt auf den Störenfried seiner Träume zurück.

Im Mondschein des südlichen Himmels erkennt er den Gewalttätigsten seiner Feinde – den Menschen. Einer nähert sich ihm auf dem Rücken eines Pferdes.

Seine angeborene Angst abwerfend ist der Hirsch gewillt, seine Flucht fortzusetzen. Doch etwas an der Erscheinung des Reiters, etwas Unnatürliches, hält ihn gebannt fest.

Mit dem Hinterteil hockt er sich auf die Grasnarbe, den Kopf rückwärts gewandt, blickt er starr in jene Richtung des Eindringlings, in seinen großen braunen Augen spiegelt sich ein vermischter Ausdruck von Angst und Verwirrung wider.

Was hat den Hirsch dazu bewogen, sich so ergiebig mit der Erscheinung zu beschäftigen?

Das Pferd ist in all seinen Teilen perfekt, ein prächtiges Ross – gesattelt, gezügelt und ansonsten mit einer Pferdedecke völlig bedeckt. An ihm scheint alles in Ordnung zu sein, nichts, was Verwunderung oder Furcht erzeugen könnte. Und der Mann, der Reiter? Ah! An ihm gibt es etwas, was zwei Dinge auslöst, sowohl etwas Merkwürdiges als auch etwas Fehlendes.

Gütiger Himmel! Es ist der Kopf!

Selbst das vernunftlose Tier kann dies wahrnehmen, und, einen Moment lang, nach einem Blick mit wilden Augen sich fragend, was das ungewöhnliche Monster dazu bewegt, die Intelligenz des Hirsches in dieser Weise zu verspotten, setzt es zu Tode erschrocken seinen Rückzug fort. Noch einmal hält der Hirsch inne, bevor er sich in die Fluten des Leona stürzt und den Strom zwischen sich und dem grässlichen Eindringling bringt.

Unbedacht des aufgeschreckten Hirsches, weder durch seine Anwesenheit noch durch seine übereilte Flucht, reitet der kopflose Reiter weiter.

Auch er wendet sich dem Fluss zu. Im Gegensatz zum Hirsch scheint er es nicht eilig zu haben. Er bewegt sich in einem langsamen, ruhigen Tempo und lässt ihn dadurch lautlos und feierlich erscheinen.

Anscheinend in pathetischen Gedanken vertieft, gibt er seinem Ross die Zügel frei, was es dem Tier erlaubt, einige Male entlang des Weges mit dem Maul eine Handvoll Gras zu erhaschen.

Nichts macht er, weder Worte noch Gesten sind auszumachen, ungeduldig drängt er vorwärts. Das jaulende Bellen eines Kojoten veranlasst ihn, seinen Kopf in die Höhe zu schleudern und schnaubend ihre Spur aufzunehmen.

Er scheint unter dem Einfluss eines faszinierenden Gefühls zu sein, aus dem ihn nichts erwecken vermag. Nichts kommt aus seinem Mund, nicht ein Flüstern, was auf sein Wesen schließen lässt. Der aufgeschreckte Hirsch, sein eigenes Pferd, der Wolf und der Mitternachtsmond sind alleinige Zeugen seiner stillen Abstraktion.

Ein Serapé umhüllt seine Schultern, dessen eine Ecke vom Wind etwas leicht angehoben wird und einen Teil seiner Gestalt freigibt: Seine Arme stecken in Water guards aus Jaguarfell; somit hinreichend geschützt vor dem Tau der Nacht oder dem Regen vom tropischen Firmament. Er reitet still dahin wie ein leuchtender Stern, unbekümmert wie eine Heuschrecke, die im Gras zirpt, oder wie ein Hauch des Windes, der mit dem Stoff seiner Kleidung spielt.

Etwas scheint ihn aus seinen Träumen zu wecken und zur gleichen Zeit sein Ross anzuspornen, ein höheres Tempo einzuschlagen. Letzteres wirft seinen Kopf nach vorn, gibt ein freudiges Wiehern von sich, und mit gestrecktem Hals und aufgeblähten Nüstern erhöht es seinen Schritt und geht in einen Galopp über. Die Nähe des Flusses erklärt das geänderte Tempo.

Das Pferd hält nicht inne, bis das kristallklare Nass gegen seine Flanken wogt und die Beine seines Reiters knietief unter der Wasseroberfläche eintauchen.

Begierig löscht das Tier seinen Durst, durchquert den Fluss und steigt mit kräftigen Schritten die Böschung hinauf.

Auf dem Kamm legt der Reiter eine Pause ein, als ob er solange verweilen will, bis sein Pferd das Wasser von seinen Flanken abgeschüttelt hat. Ein Geklapper der Sattelklappen und Bügelriemen ertönt, einem Donner ähnlich, inmitten einer Wolke aus Dampf, weiß wie der Sprühnebel eines Wasserfalls.

Aus diesem sich selbst gebildeten Nimbus tritt der kopflose Reiter und bewegt sich wie zuvor vorwärts.

Offenbar durch die Sporen und das Führen der Zügel von seinem Reiter angetrieben, weicht das Pferd nicht mehr von der Strecke ab, schreitet zügig voran, als ob es diesen Pfad bereits beschritten hatte.

Eine baumlose Savanne erstreckt sich vor ihnen – nur begrenzt durch den Himmel. Gegen das Blau lösen sich die unvollkommenen Formen in der Ferne nach und nach auf, bis sie unter der mystischen Dämmerung des Mondlichts vollkommen verloren gehen.