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Im Goldlande Kalifornien 1

Sophie Wörishöffer
Im Goldlande Kalifornien
Fahrten und Schicksale Gold suchender Auswanderer
Zeitgemäß gekürzt von A. Flügel um 1930
Kapitel 1 – Teil 1

Es war in den vierziger Jahren des vorletzten Jahrhunderts.

Der Herbstwind wehte durch die Buchenkronen eines polnischen Waldes. In einer versteckten Lichtung desselben saßen mehrere halb erwachsene Knaben um ein Holzfeuer versammelt. Die Burschen trugen hohe Mützen aus Schafpelz, ebensolche schlotternde Röcke und an den Füßen plumpe Holzschuhe, aus denen Stroh spitz und stachelig hervor sah. Sämtliche Knaben rauchten kurze Tonpfeifen.

»Weshalb wohl Arsa an diesem Abend nicht kommt?«, fragte einer der Knaben.

»Sein Vater hat heute – hui! – fünfundzwanzig.« Die Hand des Burschen vollführte eine Luftschwenkung. Man erriet, was er damit meinte. »Schon wieder einmal?«, sagte jemand. »Des Alten Rücken muss ja nachgerade aussehen wie ein schlechtes Steinpflaster.«

Sie lachten alle. »Kasimir Kinski hat Löwenkräfte«, rief der Sprecher. »Vier gewöhnliche Männer bewältigen ihn nicht.«

»Und er weiß, was er will. Fort aus Polen will er!«

»Weil seine Mutter eine Deutsche war, und weil er selbst eine deutsche Frau geheiratet hat. Die Leute sind hier nicht beliebt.«

»Da kommt Arsa!«, rief ein anderer.

Ein langer Bursche mit lebhaft blitzenden Augen und hübschem, frischem Aussehen gesellte sich zu den übrigen. »Guten Abend!«, rief er. »Nun, habt ihr meine Tiere schon in den Pferch getrieben? Das ist schön von euch.«

»Bei uns stehen diesmal sogar zwei Ochsen im Versteck!«

»Und bei uns ein Pferd – freilich erst ein Füllen, aber im kommenden Jahre kann es zugeritten werden.«

Ein anderer seufzte. »Wir konnten nur ein einziges Schwein heimlich aufziehen. Unser Herr schaut uns zu scharf auf die Finger.«

»Das ist Bogumil Leski, der Trunkenbold. Mit seinen blöden Augen sieht er alles, oft sogar das, was nicht da ist.«

»Und wenn er in schlechter Laune ist, müssen die unglücklichen Bauern es ausbaden. Er prügelt dann höchst eigenhändig.«

Arsa knirschte mit den Zähnen. »Ob es recht ist, dass jemals ein Mensch den anderen prügeln darf?«, fragte er.

»Du denkst an deinen Vater, Arsa? Was hatte er denn schon wieder Strafwürdiges verübt?«

»Gar nichts!«, brauste der Knabe auf. »Gar nichts! Ein Kaufmann in der Stadt hatte ihm, weil er zufällig dessen Söhnchen durch einen schnellen Sprung vor dem Überfahrenwerden retten konnte, aus Dankbarkeit eine Flasche Wein geschenkt. Das erfuhr der gnädige Herr und ließ ihn auspeitschen. Denn für Bauern gehören nur Kwas und Wasser – den Wein trinkt der Edelmann.«

»Aber wer weiß, wie lange noch? Die Zeiten können sich auch ändern.«

Arsa hob plötzlich den Kopf. »Ja, sie können sich ändern!«, wiederholte er. »Und vielleicht bald. Ich habe heute Abend eine Neuigkeit mitgebracht. Es ist ein Schreiben von meines Vaters Bruder aus Kalifornien. Der Anfang kümmert euch nicht, das sind Familienangelegenheiten – aber nun kommt es! Gebt acht, dergleichen habt ihr noch niemals gehört.«

Dann las er mit lauter Stimme wie folgt: »Wir leben hier in einem Land, wo das Gold gewissermaßen auf der Straße liegt. Es wird aus dem Boden gegraben, aus dem Grund des Flusssandes hervorgeholt, aus den Felsspalten gewonnen, es liegt buchstäblich unter den Füßen. Millionen von Menschen strömen aus der ganzen Welt herbei. Was Hände hat, greift zu, was arm ist, wird in Kalifornien reich.«

»Ich glaube es nicht«, sagte einer der Knaben.

»Ich auch nicht. Semen Kinski hat sich einen Spaß machen wollen.«

»Natürlich! Sonst würde er ja doch von dem ungeheuren Reichtum sicher etwas herüberschicken. Die Seinen brauchen es nötig genug, das weiß er.«

Ein triumphierendes Lächeln umspielte Arsas Lippen. »Mein Onkel tut noch viel mehr als nur das!«, rief er.

»Er hat also Geld geschickt?«

»Onkel Semen wäre doch ein Narr, wenn er bares Geld hierher schicken wollte.«

»Das ist wahr. Der Gutsherr würde es ohne Besinnen an sich nehmen und für sein rechtmäßiges Eigentum erklären.«

»Seht ihr wohl! Mein Onkel hat daher die Geldsendung an ein deutsches Bankhaus in Riga überwiesen. Dahin reicht kein Verdacht.«

»Und er will euch am Ende gar alle nachkommen lassen?«

Arsa lächelte wieder. »Er will noch viel mehr tun, ich sagte es euch ja schon. Wir sind fünf Bauernfamilien, deren Häuser auf dem gräflich Ladrinschen Grund und Boden stehen, nicht wahr? Wir sind fünf Familien, deren Männer der Gutsherr prügelt, deren Kräfte er aussaugt, deren Willen er knebelt. Alle diese gedenkt mein Onkel aus der Knechtschaft zu erlösen.«

»Was, uns alle?«

»Ach! – Das erlaubt ja der Graf nie und nimmer! Gebt acht, der Erste, der es ihm vorträgt, erhält unbarmherzige Hiebe.«

»Deshalb soll ihm auch kein Wort zu Ohren kommen. Wir flüchten einfach nach Riga. Dort erhalten wir bei Bentheim & Sohn so viel bares Geld, um das für die Reise nach Kalifornien Notwendige zusammenzukaufen und in der Stadt zu leben, bis ein Schiff desselben Hauses nach San Francisco unter Segel geht. Bentheim & Sohn bringen Tausende von Goldsuchern über das Weltmeer. Onkel Semen schreibt, wenn wir nicht wie die Tiere in unseren Wäldern fortlebten, sondern mit der Welt mehr in Berührung kämen, so müssten wir das alles längst schon gehört haben.«

Bald waren sämtliche Tonpfeifen in den Taschen verschwunden, die jungen Gesichter glühten und die Hände suchten unruhig bald diese, bald jene Beschäftigung. Arsa blickte mit glücklichem Lächeln von einem zum anderen. »Onkel Semen muss ungeheure Reichtümer erworben haben. Er schreibt, dass er mit Leichtigkeit zwanzig, dreißig polnische Edelhöfe auf einmal kaufen könnte, wenn er es nur wollte.«

»O mein Himmel, dann wohnt er doch gewiss in einem Schloss aus lauter Gold und Marmor?«

Arsa lachte. »Er wohnt in einer Blockhütte ohne Fußboden, kocht seine Mahlzeiten unter freiem Himmel und schläft mit dem Revolver in der Hand. Zweimal ist er schon in der Nacht von Räubern überfallen worden.«

»Aber weshalb zieht er denn nicht in die Stadt? Weshalb lebt er auf so ungemütliche Weile?«

»Um immer mehr Gold zu gewinnen, das seht ihr doch ein! Mein Onkel will eine Kolonie gründen, die soll Neu-Ladrin heißen. Er will von seinen Landsleuten so viele wie nur möglich hinüberziehen in das Goldland und selbst glücklich sein durch das Glück anderer. Die Goldgräber nennen ihn schon jetzt König Semen. So reiche Ausbeute wie er macht kein Zweiter.«

»Ach, wäre man schon dort! Ungezählte Hindernisse können sich noch in den Weg legen.«

»Wir müssen nur das Geheimnis bewahren«, setzte Arsa hinzu. »Erführe es der Graf, so wäre alles verloren!«

Sie gaben ihm alle die Hand. »Verlasse dich auf uns, Arsa. Wahrhaftig, der Edelmann soll keine Silbe erfahren!«

»Und nun lasst uns nach den Tieren sehen«, forderte Arsa die Anwesenden auf. »Ihr habt meinen Ochsen schon gefüttert?«

»Ja, weil du so lange weg warst. Wer konnte denn auch an solche Neuigkeiten denken!«

Alle erhoben sich und wandten sich einer in dichtem Gebüsch versteckt liegenden Erdhütte zu, die, von grünem Ranken überzogen, auf den ersten Blick einer unbedeutenden Bodenerhebung glich. An der einen Seite befand sich eine rohgezimmerte Tür, und Rindergebrüll drang aus dem Inneren des seltsamen Bauwerkes heraus. Arsa kraulte sich den schwarzen Kopf. Dann wandten sich die Knaben einer Anzahl ähnlicher Erdhütten zu, in denen sich Schweine, Ochsen, Kühe und sogar ein Fohlen befanden. Als sie nach dem Vieh gesehen und die Türen sorgfältig wieder verriegelt hatten, griff einer der Knaben das Wort auf.

»Ob der alte Verwalter Bozesch vom Vorhandensein dieser Hütten wirklich nichts ahnt?«

Arsa lachte laut auf: »Alles weiß er, selbstverständlich, würde sogar selber eine besitzen, wäre er nicht zufälligerweise Verwalter.«

»Du meinst also, dass er nur aus Klugheit schweigt?«

»Aus Furcht vor Prügeln. Nimm den Bauern die heimlich großgezogenen und auf den Markt gebrachten Ochsen oder Schweine, und du hast ihre Jammerexistenz vollends unmöglich gemacht.«

Jegor seufzte. »Gott sei es geklagt!«, sagte er. »Mein Los ist noch härter als das eure. Bogumil Leski, mein Gutsherr, wütet gegen seine Bauern wie ein Teufel.«

Er reichte seinem Vetter die Hand und ging dann durch den dämmernden Wald zu einem etwas entfernteren Gut, während die übrigen Knaben ihren eigenen Heimweg antraten.

 

Die Hütten der halb und halb leibeigenen Bauern lagen in einiger Entfernung vom Wohnhaus des Gutsherrn entfernt. Sie gewährten den denkbar elendesten Anblick, ihr Schmutz und ihre Verkommenheit waren unbeschreiblich. Niedrige, mit Schilf gedeckte Giebel ragten düster zum Abendhimmel empor, die wenigen kleinen Scheiben waren mit Papier verklebt oder zum Teil sogar mit Lumpen und Stroh verstopft, die hervorstehenden Balkenenden schienen vor Schmutz und Alter gräulichschwarz, die an ägyptische Zustände erinnernden ungeheuren hölzernen Pumpenschwengel sahen aus wie große, in der Luft schwebende Galgen. Um jedes dieser traurigen Gehöfte lief ein roh gezimmerter Holzzaun, natürlich ohne Farbe und zum Teil niedergebrochen.

In jede der niedrigen Türen schlüpfte einer, und als der Letzte von allen betrat Arsa das Haus seiner Eltern. Er ging in den mittleren Raum, die »Stube«, den Ort, wo man wohnte, wo der riesige, viereckige Backofen stand, wo man kochte, schlief und sich zu jeder Tageszeit aufhielt. Rechts und links in den beiden Kammern lagen Vorräte oder lebten kleinere Tiere. Hier drinnen herrschte eine große Hitze, die Luft war schwer und der Raum überfüllt. Außer dem Vater und der Mutter saßen noch vier Männer um den Ofen, und von Mund zu Mund gingen geflüsterte Worte, die so wichtig schienen, dass man sie selbst der Luft nicht anvertrauen mochte.

Einer wollte von dem Wunderland Kalifornien immer noch mehr wissen als der andere. Über alle möglichen Einzelheiten sollte Vater Kinski Auskunft geben. Wieder und wieder hieß es: »Was zahlen denn Bentheim & Sohn einem jeden von uns?«

Und zum hundertsten Mal antwortete der Mann mit dem vergrämten Gesicht: »Eine Summe ist in Semens Brief nicht genannt. ›Das Nötigste!‹ schreibt er nur. ›Alles, was ihr braucht‹.«

Einer der Fremden, ein jüngerer Mann, schüttelte seufzend den Kopf. »Glauben kann ich’s immer noch nicht.«

»Semen war immer ein guter Mensch«, meinte ein Alter mit grauem Kopf.

Die Augen des älteren Kinski leuchteten heller. »Das war er, mein Semen, mein einziger Bruder. Er hatte ein Herz von Gold, so treu, so zuverlässig wie die Verheißungen des Heiligen Buches. Unendlich gern sähe ich ihn mal wieder.«

»Ja, ja«, sagte ein anderer, »eure Familie ist so ganz anders als die der übrigen Bauern. Waren eure Vorfahren etwa Prinzen?«

Kinski lächelte. »Unsinn das! Weder ein Prinz noch ein Edelmann war mein erster Vorfahr, sondern nur ein Deutscher. Er kam als blutjunger Bursche hierher und rettete im Laufe der Zeit einmal in einer Schlacht mit eigener Gefahr dem Sohn des Hauses das Leben. Das ist an der ganzen Geschichte das Wahre.«

»So? Und später haben seine Nachkommen bis jetzt als Bauern auf Ladrin gelebt?«

»Ja, die Kinder und Kindeskinder jenes Mannes blieben auf dem Gut als Freisassen, nicht als Bauern. Aus dem deutschen ›Kirchner‹ wurde allmählich ›Kinski‹, der junge Nachwuchs sprach polnisch, und die beiden Familien, die des Grafen und die meine, blieben eng befreundet, das heißt, nicht für immer. Wir, die wir von den Ländereien der Ladrins ein hübsches Stück ohne Zins oder Pacht als Freisassen bewirtschafteten, verfuhren nach deutscher Art, trockneten Sümpfe, zogen Gräben und pflügten die Äcker alljährlich um, sodass bald unser Anteil des Guts an Ertragfähigkeiten bedeutend größeren des Grafen weit überwog. Wir verpachteten auch nichts und hielten keine Bauern, sondern Dienstboten. Endlich ließen meine Vorfahren ihre Söhne von tüchtigen Lehrern unterrichten, während die jungen Grafen Ladrin Füchse hetzten und ihre Bauern prügelten. So kam es, dass schon zu Zeiten meines Großvaters eine Spannung zwischen den beiden Familien entstand. Die erbgesessenen einheimischen Grafen verarmten mehr und mehr, die verhassten Deutschen dagegen kamen zu Reichtum und Ansehen. Das schürte heimlich die Erbitterung auf der einen und den berechtigten Stolz auf der anderen Seite. Wenn es zwischen zwei Parteien erst einmal so weit gekommen ist, dann fehlt zum vollständigen Bruch nur noch der äußere Anlass. Ist es nicht so, ihr Leute?«

Ein Seufzen antwortete ihm. »Natürlich, natürlich!«

»Und wie es dann kam, das weißt du ja noch, nicht wahr, Iwan?«

Der graubärtige Alte nickte. »Ich weiß es, Kasimir. Schlimm und abscheulich genug war es.«

»Die Ladrins saßen bis über die Ohren in Schulden«, fuhr Kinski fort. »Da geschah etwas, das plötzlich den Dingen eine ganz veränderte Gestalt gab. Im Talgrund sprang plötzlich ein warmer Quell aus dem Boden hervor. Das Wasser schmeckte abscheulich, aber sehr bald schon entdeckte man in ihm ein wertvolles Heilmittel, und Kranke aus der ganzen Umgegend kamen mit Krügen und Töpfen herbei, um sich den wundertätigen Trank frisch aus der Quelle zu schöpfen. Die Ärzte aus der Stadt wurden aufmerksam, man schrieb und sprach über nichts anderes als über das Wasser im Tal. Das erfuhr der Graf und sein Ärger wuchs mit jedem Tag. Für ihn selbst wäre die plötzlich erschienene Quelle eine Rettung gewesen. Aber es war ja nicht sein Grund und Boden, auf dem die Quelle sprudelte. Er musste untätig zusehen, wie große Reichtümer nutzlos verschleudert wurden. Damals hat er alles Mögliche versucht, um meinen Großvater aus dem Sattel zu heben und ihn von Haus und Hof zu vertreiben, aber das gelang nicht. Die Gerichte entschieden, dass mein Großvater als Freisasse bis an sein Ende bleiben müsse, wo er einmal sei, dass aber die gleiche Vergünstigung seinen Nachfolgern nicht zugestanden werden könne. Dabei blieb es, und so behielt der Alte bis zu seinem neunzigsten Lebensjahr, während mein Vater längst schon als verheirateter Mann das Gut bewirtschaftete, immer noch den Besitztitel. Dann aber, als er starb, brach das Unglück herein. Wir wurden von der Leiche weg vertrieben und auch das gesamte Barvermögen konfisziert. Wie hungrige Hyänen stürzten sich die Ladrins auf den heilkräftigen Quell, versteigerten förmlich das Wasser, und selbst der ärmste Kranke bekam umsonst keinen Tropfen mehr. Aber nach kaum drei Monaten versiegte der Sprudel. Die Ladrins haben Tausende hineingesteckt, Brunnengrabungen und Tiefbohrungen vorgenommen. Aber alles umsonst. Die Quelle ist niemals wieder hervorgequollen.«

»Man hatte euch einfach fortgejagt, Kinski?«, fragte einer der Zuhörer.

Der Erzähler schüttelte den Kopf. »Man hatte uns ein Bauernhaus angewiesen und die nötigsten Einrichtungsstücke hergegeben, wie das so immer geschieht. Man war auch so gnädig, uns die Anschaffung einer Decke, eines Kopfkissens und Bettlakens gänzlich zu erlassen. Ihr wisst ja, diese Dinge sind es, die der polnische Bauer als Eigentum besitzen muss, ehe er den Grund und Boden des Edelmannes bewirtschaften darf – nur als Mittel, um nötigenfalls eine Pfändung bewerkstelligen zu können. Das erließ man uns, vielleicht in der sicheren Annahme, dass die verhassten Deutschen niemals den Robot (Frondienst) schuldig bleiben würden. Und darin haben sich die Leute denn auch nicht geirrt. Ich schulde keinem Menschen einen Pfennig.«

»Das wissen wir alle.« Iwan nickte mit dem Kopf. Stille trat ein. Nach einer Weile fragte er Kinski: »Haben denn Bentheim & Sohn keine Zeile an dich geschrieben?«

»Doch, doch!« Kinski zog ein zerknittertes Briefblatt aus der Tasche. »Also hört,« und er begann zu lesen:

Im Auftrag der Herren Gebrüder Teubner in San Francisco senden wir Ihnen folgendes Schreiben und sind zugleich in der angenehmen Lage, Ihnen unseren Kredit in der ausgedehntesten Weise zu eröffnen. Unsere Schiffe werden sämtliche Hintersassen des gräflichen Gutes Ladrin, sobald diese in Riga angelangt und von uns mit allem Nötigen ausgerüstet sind, nach Kalifornien befördern. Wir bitten Sie im Auftrag des genannten Hauses, über uns nach Wunsch zu verfügen.

Mit Hochachtung Bentheim & Sohn

 

Im ersten Augenblick sprach niemand. Der Eindruck des Gehörten war zu stark, zu nachhaltig, um sich sogleich in Worten äußern zu können. Kinski faltete das Schreiben des Rigaer Hauses wieder zusammen, dann sagte er langsam und bedächtig: »Das ist Beweis genug, nicht wahr?«

Etwas wie ein Jauchzen ging durch die Reihen der Bauern. »Das ist wahr, ja, das ist wahr! Die Hoffnung wird greifbarer.«

Nur einer schüttelte den Kopf, Davidoff, der gebückt gehende, halblaut sprechende Mann mit dem Wieselgesicht. »Hätten wir nur das Geld schon in der Tasche, könnten wir es sehen und fühlen!«

»Und es uns vom Grundherrn wegnehmen lassen, nicht wahr?« Die Leute erhoben sich. »Semen hat’s klug angefangen«, sagte Iwan, »ganz klug.«

»Wie bekamst du den Brief, Kinski?«, fragte ein anderer.

»Durch den jüdischen Pferdehändler.«

Sie trennten sich, und in allen Hütten wurde später noch bis in die tiefe Nacht hinein mit leisen Stimmen das unerwartete Ereignis besprochen.

 

Zwei Tage später regte es sich in tiefer Mitternachtsstunde unter den Stämmen des Waldes. Männer in hohen Stiefeln, mit Pelzkappen und kurzen Pfeifen, die brennenden Kienfackeln in den Händen, führten vorsichtig die verschiedensten Haustiere an Seilen oder in Säcken und Körben mit sich: bald Pferde und Ochsen, Kühe und Ziegen, bald Schafe, Schweine und Geflügel. Das alles war in den Tiefen der Wälder heimlich gemästet worden und wanderte nun in die Stadt zu dem vertrauten jüdischen Zwischenhändler, der zwar die Hälfte des Reingewinnes für sich beanspruchte, dafür aber nie einen seiner Kunden verriet.

Auf beiden Seiten des Zuges gingen in ziemlicher Entfernung Posten, die von Zeit zu Zeit Signale gaben und dadurch die Sicherheit des Weges bekundeten. Arsa und Ossip gingen zusammen. »Wenn jetzt plötzlich der Verwalter käme!«, flüsterte Letzterer. »Es gäbe einen Kampf auf Tod und Leben.«

»Er kommt nicht«, versetzte mit tiefem Atemzug unser Freund, »er weiß, was in den Nächten vor dem Jahrmarkt geschieht und hütet sich weislich.«

Er hatte aber die Worte kaum ausgesprochen, als dicht neben ihm und seinem Gefährten die Büsche aufrauschten und ein spähendes Gesicht zum Vorschein kam. Zwar nicht Kanzow, der träge, trunksüchtige Verwalter, stand vor den beiden jungen Leuten, sondern ein Knabe ihres eigenen Alters, schlank und hoch aufgeschossen, mit feinen, blassen Zügen und spöttisch blickenden dunklen Augen.

In der rechten Hand trug der Jüngling eine Reitpeitsche, die er wie zur Probe durch die Luft pfeifen ließ.

»Was macht ihr hier?«, rief er im gebieterischen Ton. »Antwortet!«

Arsa blieb stehen. Er runzelte zornig die Stirn. »Danach zu fragen haben Sie kein Recht, Junker Anatol!«, antwortete er ruhig.

»Du verhöhnst mich, Bursche?«

Und ein Peitschenhieb sauste durch die Luft, um schwer auf Arsas Schulter herabzufallen. »Das sollst du büßen!«

Wie der Blitz hatte der junge Kinski seinen Beleidiger ergriffen und mit überlegener Kraft zu Boden geworfen.

»Lass mich allein mit ihm fertig werden, Ossip«, sagte er. »Nicht zwei gegen einen. Ich denke, du gehst schnell weiter.«

»Damit die gestohlenen Tiere in Sicherheit bleiben, nicht wahr?«, zischte Anatol.

Ossip verschwand zwischen den Büschen, und Arsa wandte sich seinem Gefangenen zu. »Ich könnte dich in dieser Stunde erdrosseln, und es geschähe dir für alle deine Untaten recht«, sagte er mit zornbebender Stimme, »aber dennoch will ich dir nur einen Denkzettel verpassen, du Spion!«

Er schüttelte den Liegenden und umklammerte dessen Kehle. »Sprich, Bursche, warst du es nicht, der schon als kleiner Knabe die Hunde auf mich hetzte, der mich des Diebstahls und der tätlichen Angriffe beschuldigte, der hinterlistig einmal eine Pistole auf mich abschoss?«

Anatol schwieg. Nur seine hasserfüllten Blicke antworteten dem jungen Kinski. Dieser verlieh seinen Fingern einen etwas verstärkten Nachdruck.

»Sprich, warst du es?«

»Ja!«, ächzte der Sohn des Grafen.

»Du gestehst es also ein? Dann ist es auch billig, dass du deine Strafe empfängst.« Und die Hiebe fielen hageldicht. Anatol wand sich unter den Eisenfäusten seines Gegners.

»Du bist einer von den Rebellen«, stieß er hervor, »du hoffst, dass ihr uns Gesetze vorschreiben könnt, aber das wird niemals geschehen. Die russischen Truppen sind schon ganz nahe.«

Arsa lachte. »Deine Prügel hast du weg«, sagte er, »nun lauf!«

Er stieß den Feind seiner Knabenzeit ziemlich unsanft von sich und ging, ohne zurückzublicken, dem vorausgeeilten Ossip nach, den er bald erreichte. Laut und lustig schallte das verabredete Signal durch den Wald.

»Alles sicher! Ganz sicher!« Es ging weiter.

Nach einiger Zeit klopfte Arsa an eine Mauerpforte, die sie mittlerweile erreicht hatten.

Es kam keine Antwort zurück, aber in der schweigenden Nacht öffnete sich geräuschlos das eiserne Tor der Umwallung, und es entstand eine breite Einfahrt, durch die nun Menschen und Tiere ihren Einzug hielten.

 

Ebenso geräuschlos wie vorhin bewegte sich die Pforte in ihren Angeln, der Wind wehte über die leergewordene Stätte, und kein Zeichen verriet, dass den Späherblicken der Widersacher die Beute glücklich entzogen worden war.

Der Eigentümer dieses Hauses und aller darin enthaltenen Schätze stand mitten auf dem Hof und gab seinen Knechten die nötigen Befehle.

»Hierher die Pferde, dort hinüber die Ochsen! Gott meiner Väter, weshalb lasst ihr die Schweine so kreischen? … Auch Ziegen sind da? … Ist eine schlechte Ware, bringt nicht genug ein.«

Der kleine bewegliche Mann mit dem schlauen Gesicht und den schwarzen Korkzieherlocken sah alles und wusste genau, wie viele Tiere jede dieser dunklen Höhlen aufnehmen konnte. Erst als sich hinter den zahlreichen neu eingezogenen Geschöpfen die Türen wieder geschlossen hatten, forderte er die wartenden Männer auf, mit ihm in das Haus zu gehen.

»Ihr wollt ja doch am liebsten gleich abrechnen, nicht wahr?«, setzte er schmunzelnd hinzu.

»Wenn es möglich ist, Maurus, dann ja.«

Er führte seine Gäste durch einen langen, dunklen Gang, in dem Säcke und Kisten aufgestapelt lagen, bis in ein niederes, verräuchertes Zimmer, dessen Holzbänke kaum die Zahl der Besucher zu fassen vermochten.

Maurus holte aus einem Schrank eine grün schillernde, dickbauchige Flasche und mehrere Gläser. »Es wird kalt draußen«, sagte er lächelnd.

Sein langer Kaftan glänzte von Fettflecken, die mageren Hände glichen Krallen, die Blicke umfassten, rastlos wandernd, immer alles zugleich. Er füllte die winzigen Gläser nur halb und lud dann seine Gäste ein, den Labtrunk zu sich zu nehmen. »Ich wollte euch also allerlei Neuigkeiten mitteilen«, fügte er hinzu.

»Böses?«, fragte Kinski.

»Sehr Böses. Der Aufstand zieht sich mehr und mehr in diese Gegend, drei oder vier Edelhöfe sind schon verbrannt und ihre Bewohner getötet. Von der einen Seite rücken Rebellenhaufen, von der anderen russische Truppen heran.«

»Ist das eine verbürgte Nachricht?«

»Ganz sicher verbürgt. In wenigen Tagen befinden wir uns inmitten der Kämpfenden. Vielleicht brennt die Stadt nieder, vielleicht werde ich bei der Sache auf einen Schlag ein armer Mann.«

Kinski lächelte ruhig. »So arg wird die Sache ja nicht werden,« versetzte er. »Und was den einen trifft, Maurus, das müssen in diesem Fall alle ertragen.«

Er hatte während dieser Worte aus der Tasche seines Pelzrockes einen Brief hervorgezogen und reichte ihn dem Händler. »Könntest du mir dieses Schreiben an Bentheim & Sohn in Riga besorgen, Maurus?«

»Gern, gern, mein lieber Kinski«, entgegnete der Händler und steckte den Brief in seine Tasche.

»Jetzt sucht aus, Kinder! Putz für eure Frauen? Naschwerk für die Kleinen? Hüte, Kragen, bunte Tassen?«

Aber die Bauern schüttelten bei den gewohnten Anerbietungen ihre Köpfe. »Heute haben wir andere Wünsche, Maurus!«

»Welche denn, Leute, hm? … Waffen, Stiefel, derbe Lederkleidung?«

»Das ist es. Zeige uns deine Vorräte, Maurus.«

Die Bauern versahen sich mit Waffen, dann mit Lederkleidung und hohen Wasserstiefeln. Endlich begann die Abrechnung. Es währte lange, bis man sich einig war.

Am nächsten Morgen ging der alte Verwalter von Haus zu Haus und klopfte an jede Tür. »Um zehn Uhr antreten auf dem Edelhof, beides, Männer und Knaben.«

»Was gibt es denn?«, forschte jemand.

»Eine Fuchshatz. Es ist Besuch im Schloss.«

Dergleichen plötzliche Aufgebote waren im Herbst nicht selten. Man musste ihnen unbedingt Folge leisten und alle Arbeiten im Stich lassen, um als Treiber zu dienen oder auch nur sonst behilflich zu sein.

 

Die Jagd begann. Der Graf führte an der Leine mehrere Koppeln von je sechs Hunden, deren starke Lederriemen er um den Arm geschlungen hielt. Die letzte Koppel leitete der junge Anatol. Es waren Windhunde, die er an der Schnur hielt.

Anatols Augen leuchteten hell auf, dann wandte er das Pferd. »Folge mir, Arsa!«

Dieser begleitete im vollen Lauf das Pferd des Junkers. Anatol schien sich um ihn gar nicht zu bekümmern, er nahm Aufstellung in einem Gebüsch, das den Ausblick auf den Hetzplatz vollkommen freiließ, den Reiter aber in seinem Schatten fast ganz verbarg. Die Koppel der sechs großen Windhunde hatte den kurzen Galopp über die Wiese mitgemacht. Die Tiere schnauften vor Ungeduld und rissen mit Macht an dem Lederriemen, der sie festhielt, bis Anatol wütend mit der Reitpeitsche dazwischenschlug und in dieser Weise eine augenblickliche Ruhe erzwang.

»Du bleibst unmittelbar neben mir«, wandte er sich mit kaltem Befehlshaberton an den jungen Kinski. »Stell dich hierher!«

In seinen Blicken lag ein geheimes Frohlocken, das Arsas Aufmerksamkeit erregte. Er nahm daher mit einem ebenso kurzen »Es ist gut, Junker!« den ihm gebotenen Platz ein, zog aber aus der Brusttasche die in der vorangegangenen Nacht gekaufte Pistole und probierte kaltblütig den Hahn. Dann behielt er die Waffe in der rechten Hand.

Anatols Gesicht hatte alle Farbe verloren. »Du … du willst mich erschießen?«, rief er.

Arsa zuckte die Achseln. »Ich verstehe Sie nicht, Junker.«

»Was willst du denn mit der Pistole?«

In Arsas hübschem trotzigen Gesicht zuckte es. »Es könnte mich ein Fuchs anhalten, Junker. Der Vorsichtige schützt sich, solange es noch Zeit ist.«

»Ah! Du fürchtest dich also vor Füchsen?«

»Durchaus nicht, aber ich misstraue diesen Geschöpfen.«

Anatol blieb die Antwort schuldig. Alle Füchse wurden, die bisher festgehalten worden waren, losgelassen, und der Augenblick, um auch sämtliche Hunde in Freiheit zu setzen, rückte näher heran.

Im Zickzack flogen Reiter und Tiere über den Plan, bald zum Knäuel geballt, dann wieder einzeln, hier in langer Linie, dort paarweise, wie eben die Füchse liefen.

Einer besonders, ein großes dunkelrotes Tier, schien gegen die Angriffe der Hunde förmlich gefeit. Er setzte über ihre Köpfe hinweg, schlug dicht vor ihnen einen Bogen, sodass sie in blinder Wut an ihm vorüberstürzten, fuhr zwischen den Füßen der Pferde hindurch und fand noch einen Ausweg, so oft ihn die Reiter auch glücklich gestellt zu haben glaubten.

Dieses Tier war der Mittelpunkt der ganzen Jagd geworden. Meister Reineke hatte es verstanden, die Stricke, die seine Schnauze zusammenschnürten, mit Erfolg zu sprengen. Er zeigte den Hunden das scharfe Gebiss und bewog sie nicht selten, mit einem Schmerzgeheul Reißaus zu nehmen.

Der große rote Fuchs kam in tollen Sätzen gerade auf das Pferd Anatols zu. Das Tier bäumte im jähen Erschrecken hoch auf. Der Fuchs biss es heftig in die Kehle und erreichte dann den Wald, in dessen Tiefen er verschwand.

 

Das alles vollzog sich blitzschnell, fast ehe Arsa Zeit fand, es überhaupt zu sehen. Das Pferd hatte seinen Reiter abgeworfen und war blutend davongestürmt, während zugleich die Hunde den auf dem Gras liegenden Anatol eine Strecke weit mit sich fortschleiften und dann, als ihnen ein anderer Fuchs in den Weg lief, den Kampf gegen diesen aufnahmen. Sämtliche Windhunde fielen mit vereinten Kräften über das arme Opfer her, unbekümmert, wohin ihre Bisse trafen, ob in den Körper des Tieres oder den des Menschen.

Anatol kreischte vor Schreck und rief um Hilfe. Einer der Windhunde schnappte nach seiner Kehle und würde diese unfehlbar durchbissen haben, wenn nicht die Kugel aus Arsas Pistole ihn in der letzten Sekunde daran gehindert hätte. Der Schuss war durch den Kopf gegangen und hatte das wütende Tier sofort getötet.

Die Übrigen zerrten so lange und so kräftig an dem Lederriemen, bis dieser sich löste. Dann rannten sie kläffend davon.

Anatol blutete aus mehreren Wunden. Er lag auf im Gras, ohne sich erheben zu können.

Da kam von der entgegengesetzten Seite des Hetzplatzes der alte Graf im vollen Galopp herangesprengt. Er mochte den Knall des Pistolenschusses gehört haben und wollte sich überzeugen, was geschehen sei. Er sprang vom Pferd und trat hastig zu den beiden Knaben.

»Mein Gott, Anatol, du blutest ja!«, rief er. »Was ist geschehen? Fiel denn nicht in dieser Richtung eben ein Schuss?«

Anatols Hand zeigte auf den jungen Kinski. »Er hat auf mich geschossen … Die Kugel ging fehl … Sie traf den Hund.«

Der Graf wandte den Blick. »Arsa?«, rief er. »O du Elender, wie konntest du es wagen, auf meinen Sohn zu schießen!«

Arsa war sehr blass geworden, aber seine Augen flammten. »Junker Anatol lügt!«, rief er im heftigen Ton. »Er weiß ganz genau, dass ich nur deshalb schoss, um ihn vor den Zähnen der wütenden Bestie zu bewahren. Meine Kugel traf den Hund, als er des Junkers Kehle umklammert hielt.«

»Nein, mich wollte der Bursche erschießen«, flüsterte Anatol. »Oh, ich sterbe!«

Arsa stampfte vor Zorn mit dem Fuß auf den Boden. »Du Schurke!«, rief er. »Dankst du es mir so, dass ich mich deinetwegen dem wütenden Tier entgegenwarf?«

»Was sagst du da? Bist du wahnsinnig geworden?«

Die Reitpeitsche des Grafen wirbelte durch die Luft und würde unfehlbar den Kopf unseres Freundes getroffen haben, wenn nicht dieser sie zur rechten Zeit ergriffen und mit kräftigem Schwung weit auf die Wiese hinausgeschleudert hätte.

»Ich lasse mich nicht schlagen!«, rief er außer sich vor Zorn.

Der Graf trat einen Schritt zurück. Er legte beide Hände an den Mund.

»Kanzow, komm hierher!«

Der Alte eilte herbei. Graf Ladrin deutete auf Arsa. »Den da bringst du ins Gefängnis, Kanzow. Er soll in Eisen gelegt werden, hörst du? Bei Wasser und Brot!«

Kanzow winkte dem Knaben. »Komm!«, sagte er. »Komm!«

»Junge, was hast du getan? Heiliger Nikolaus, wie soll es dir ergehen!«

Arsa fühlte, dass sein Herz schneller klopfte. In der nächstfolgenden Nacht sollte die Flucht bei günstiger Gelegenheit zur Ausführung gebracht werden, da durfte er also auf keinen Fall fehlen.

Mechanisch dem alten Verwalter folgend, zermarterte er sein Gehirn, um einen Ausweg zu finden.

Da erschien, aus dem Wald hervorschreitend und ruhig grasend, das versprengte Pferd des Junkers. Die Bisswunde blutete noch ein wenig. Als der Verwalter das Tier beim Namen rief, spitzte es die Ohren und kam langsam näher.

»Hierher, Koriolan, hierher!«

Arsa trat an das Pferd heran und klopfte liebkosend dessen schlanken Hals. Dann, ehe sich der ahnungslose Verwalter versah, saß er plötzlich im Sattel und gab dem erschreckten Braunen einen so energischen Druck, dass dieser den Kopf aufwarf und schnaubend davonflog, quer über den weit ausgedehnten Hetzplatz bis an die entgegengesetzte Waldgrenze.

»Alle Heiligen!«, rief der entsetzte Kanzow. »Arsa, Arsa, was tust du?«

Das edle Tier griff aus, als wisse es, dass dies ein Ritt auf Tod und Leben sei. Aus dem Gebüsch hervor rief eine Knabenstimme voll erstaunen den Namen unseres Freundes. »Arsa! – Du bist zu Pferde?«

»Ossip! Gottlob, dass ich dich treffe. Willst du meinem Vater eine Nachricht überbringen?«

»Natürlich!«

»Sage ihm, dass er mich bei den drei Eichen findet. Versprichst du mir das?«

»So wahr ich lebe, Arsa.«

»Dann ist es gut. Auf Wiedersehen, Ossip! Und sonst keinem Menschen ein Wort, hörst du?«

»Gewiss nicht!«

Arsa versetzte dem Pferd einen Hieb, dass es rasch querfeldein sprang. Etwa eine halbe Meile vom Gut entfernt gab es eine Stelle, an der drei uralte Eichen standen. In der Nähe befand sich eine Höhle, in der er Schutz vor den Verfolgern zu suchen hoffte, die ihm vielleicht schon nachsetzten.

Kurze Zeit später hatte er die Stelle erreicht. Er sprang vom Pferd und kroch in die Höhle. Kaum dass sie ihn aufgenommen, setzte er den Zündfaden seines Feuerzeuges, das er in der letzten Nacht von dem Juden gekauft hatte, in Brand. Der schwache Lichtschein fiel auf mit Moos und grauen Flechten überzogene Wände. Mehrere große Steine lagen auf dem Erdboden. Sonst zeigte sich nichts Bemerkenswertes.

Oder doch … Arsa erschrak! Hinter dem größeren der beiden Steine sah er zwei junge Bären liegen. Das war eine schlimme Entdeckung. Jeden Augenblick konnte die Mutter zurückkommen.

Kurz entschlossen trug Arsa die jungen Tiere an eine etwa fünfzig Schritte von der Höhle entfernte moosige Stelle, legte sie dort nieder und eilte dann so schnell als möglich zu der Höhle zurück. Erleichtert atmete er auf. Vom Raubtier war noch nichts zu entdecken.

Er schöpfte mit seiner Blechflasche, die er zur Fuchsjagd mitgenommen hatte, Wasser aus dem Bach, wälzte in der Höhle die beiden großen Steine vor den Eingang und streckte sich, nachdem er auf diese Weise alles zu seiner Sicherung getan hatte, einstweilen auf das Mooslager der Bären.

Es mochte gegen drei Uhr nachmittags sein. Die Sonne begann langsam zu sinken. Arsa versuchte die Augen zu schließen, aber es gelang ihm nicht. Immer sah er voll heimlicher Unruhe auf den versperrten Eingang der Höhle. Stunde um Stunde verging. Die Dämmerung sank herab, dann kam die Finsternis der Nacht. Es blieb alles ruhig.

Die Bärin ließ ihre Jungen auffallend lange allein.

Arsa dachte an seinen Vater. Ob dieser Gelegenheit finden würde, zu ihm in das Versteck zu kommen?

Arsa fuhr auf. Ein lang gezogener Krähenschrei! Das zwischen ihm und seinen Gefährten verabredete Signal. Er hielt den Atem an. Da war es wieder.

Arsa schlich bis zu dem verbarrikadierten Ausgang der Höhle und gab mit klopfendem Herzen das verabredete Gegensignal. Sofort erfolgte die Antwort, und nun war Arsa seiner Sache sicher.

»Bist du es, Ossip?«

»Gewiss! Wo steckst du denn, Junge?«

»Hier! Hier! Komm nur ganz schnell!«

Die Steine flogen beiseite, und Ossip konnte eintreten. »Ich bringe dir Mundvorrat«, sagte er.

»Lass mich nur erst die Steine wieder vorlegen.«

Ossip schüttelte den Kopf. »Was hast du denn nur, Arsa? Hier herum ist doch alles ruhig.«

Arsa hatte die Steine wieder aufeinandergelegt. Dann erzählte er seinem Freund von den jungen Bären, die ursprünglich diese Höhle bewohnten. »Ich fürchte, dass die Alte zurückkommt«, schloss er. »Wir müssen auf der Hut sein.«

Auch Ossip erschrak.

Draußen rauschte es in den Zweigen, und als Arsa jählings aufsprang, sah er den gewaltigen Kopf eines Bären im Eingang der Höhle.

»Gott sei uns gnädig!«, rief Ossip.

Die Bärin schlug gegen den obersten Stein, sodass er beiseite flog, aber im gleichen Augenblick drehte sich das Tier um und stürmte mit schnellen Schritten davon.

Ein Büchsenschuss war gefallen, und zwar ganz in der Nähe. Ein zweiter Schuss folgte dem ersten, das Licht einer Kienfackel blitzte auf und mehrere Männer kamen zum Vorschein. Man sah Pelzmützen, Jacken mit Silberknöpfen und hohe Schaftstiefel. Die Sprache, in der diese Leute redeten, war kein Polnisch.

»Zigeuner – ich dachte es wohl.«

»Und die Bärin ist erlegt.«

Einer der Männer gab dem sich im Todeskampf windenden Tier einen Schlag mit dem Beil vor die Stirn, und dann wurde die Beute von vieren fortgeschleppt.

»Sollen wir uns das Lager einmal ansehen?«, fragte Arsa.

»Weshalb nicht?«

Sie schlüpften zwischen den Stämmen bis an die Feuerstelle. Ein buntes, vielgestaltiges Bild zeigte sich ihren Blicken. Die Zigeuner hatten zwischen den Bäumen einige zerfetzte buntfarbige Lappen auf die kunstloseste Weise ausgespannt und waren beschäftigt, in die Zelte Moos und trockene Blätter zu schleppen, während andere Wasser aus dem Bach holten oder Reisig sammelten.

Ein Zigeuner lag am Stamm einer mächtigen Buche und spielte auf der Geige eine leise, wohllautende Melodie. Ein anderer rauchte eine Pfeife, während der dritte die Arme unter dem Kopf ruhen ließ und sich mit einer alten, zahnlosen Frau herumzankte.

Die Hexe humpelte, so rasch es ihre Jahre gestatteten, zum Wagen, wobei sie eine schnelle Bewegung der Gebüsche, hinter denen die Knaben steckten, bemerkt haben mochte. »Hallo!«, rief sie. »Fremde!«

Das Wort wirkte wie ein Zauberschlag. Der Geiger ließ das Instrument fallen und sprang auf, als habe ihn ein Schuss getroffen. Die Männer, die den Bären ausweideten, stürmten herbei, und binnen weniger Sekunden hatte man Frauen und Kinder hinter den Wagen in vorläufige Sicherheit gebracht, dann erst zogen braune Hände die beiden Versteckten aus dem Gebüsch hervor. Schwarze, blitzende Augen sahen sie an.

»Wer seid ihr? Was wollt ihr von uns?«

»Wir kommen zufällig des Weges«, antwortete Arsa. »Der Wald gehört allen.«

»Das ist wahr«, gestanden die Zigeuner. »Wir sind auch ehrliche Leute und haben den Landjäger in keiner Weise zu fürchten. Wollt ihr nicht ein Weilchen bei uns bleiben? Unser Abendessen ist fertig, und in dem Becher perlt etwas Gutes. Esst und trinkt mit uns!«

Arsa und Ossip willigten ein und erregten große Freude, als sie das Versteck der Bärenjungen bezeichnen konnten. Mehrere Männer eilten hin und brachten die kleinen Tiere, die man sogleich zu einer säugenden Hündin als Adoptivkinder gab, während die eigenen Sprösslinge der gehorsamen Alten ohne Umstände in den Bach geschleudert wurden.

Ossip konnte sich nicht mehr länger aufhalten, und so nahmen beide Knaben Abschied von dem braunen Völkchen, das zum Jahrmarkt zog, um dort seine bekannten Gauklerspiele zu treiben.

»Auf Wiedersehen!«, rief der Anführer. »Glückliche Reise!«