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Das Geheimnis des Medizinbeutels – Teil 6

Das Geheimnis des Medizinbeutels – Teil 6
Eine Erzählung von Fr. Daum
Um 1925 erschienen im Verlag von A. Anton & Co. in Leipzig

Die Abenddämmerung senkte sich hernieder und hüllte die Erde in düstere Schleier, als die kleine Schar unter tiefem Schweigen den Wald verließ. Vorsichtig näherte sie sich den Hügeln, die den Wasserlauf des Musselshell River einsäumten. Plötzlich hielten die an der Spitze reitenden Führer an.

Rifle Ben sagte zu seinen Gefährten: »Hier müssen wir uns trennen. Der Häuptling Büffelstirn reitet mit seinen Kriegern nach Süden, um den vor uns liegenden Berg des Donners zu umgehen. Seine Aufgabe ist, mit den Piegan die Mustangherde zu scheuchen und, wenn möglich, wegzutreiben. Wir reiten bis zum River und schleichen dann flussaufwärts bis zu der Stelle, wo ein felsiger Ausläufer des Berges dicht an das Ufer herantritt. Dort muss sich die Felsspalte befinden, die den Berg durchschneidet. Zur selben Zeit, wo die Piegan von Süden her angreifen, müssen wir zu der Felsenspalte eilen und nach dem Deutschen suchen. Die Aufmerksamkeit der Assiniboine wird durch den Angriff auf ihre Mustangherde von dem nördlichen Teil ihres Lagers abgelenkt, und ich hoffe, es bleibt uns Zeit genug übrig, um den Gefangenen herauszuholen. Das ist, kurz gesagt, unser Plan. Ob er gelingt, weiß ich natürlich nicht, denn es können Zwischenfälle eintreten, die irgendeine Änderung notwendig machen. An sich ist er einfach, und wenn ein jeder seine Pflicht tut, werden wir den Assiniboine einen Streich spielen, der ihnen einen empfindlichen Schaden zufügt. Nun weiß jeder Bescheid. Alles Weitere besprechen wir an Ort und Stelle. Büffelstirn wird das Zeichen zum Angriff geben.«

»Howgh!«, erwiderte zustimmend der Häuptling und ritt mit seinen Kriegern in südlicher Richtung davon. Rifle Ben führte seine Gefährten zwischen zwei flachen Hügeln hindurch bis an das Ufer des Flusses, dessen Rauschen laut durch die Stille der Nacht drang. An einem, sich dunkel von der Umgebung abhebenden niederen Gehölz wurde haltgemacht.

Mit leiser Stimme gebot Rifle Ben: »Steigt ab, die Tiere müssen hierbleiben. Doktor, es wäre mir am liebsten, wenn Ihr mit dem Knaben die Bewachung der Pferde übernehmen wolltet. Die vor uns liegende Aufgabe stellt Anforderungen, die einem Mann, der sich im Osten mit dem Tintengerät herumschlägt, fremd sind. Daher …«

»Schweigt, alte Lederjacke, ich gehe mit und danke dafür, mich hier im Busch zu verkriechen, während andere der Gefahr die Stirn bieten«, unterbrach der junge Gelehrte ärgerlich den Alten. Auch Karl Martens erklärte, unter keinen Umständen zurückbleiben zu wollen.

»Schwatzt nicht unnütz von Gefahren, Mann«, sagte der Trapper, »wir wehren uns bloß unserer Haut. Ob das hier überhaupt nötig sein wird, das hängt von den Umständen ab. So mag denn Pierre bei den Gäulen zurückbleiben. Vorwärts, folgt mir und haltet euch genau an das, was ich euch vormache«, sagte der Alte und schritt leise auftretend voran.

Nachdem sie etwa eine Viertelstunde am Ufer des Flusses zwischen losem Gestrüpp aufwärts geschritten waren, gewahrten sie zwei schwach leuchtende Lichtpunkte vor sich. Ben blieb stehen und flüsterte: »Dort, wo die beiden Feuer brennen, stehen die Zelte der Assiniboine. Das uns zunächst gelegene Feuer befindet sich mitten im Zeltlager, das andere bei den oberhalb des Dorfes weidenden Mustangs. An beiden sitzen Wächter. Wir schleichen jetzt noch ein wenig weiter, bis wir zu dem Felsen gelangen, der bis an das Flussufer heranreicht.«

Wieder setzte sich der kleine Trupp in Bewegung. Bald sahen die Männer den Schein der beiden Feuer nicht mehr, weil der Felsenrücken sich davorschob. Vorsichtig näherten sich die Schleichenden dem Ende des Felsenriffs, das, etwa zwanzig Schritte vom Fluss entfernt, steil aufragte. Im Schutz der sie deckenden Felswand wurde haltgemacht. Ben kroch bis zur Felskante und spähte zum Dorf hinüber. Er rief den Doktor an seine Seite. Dieser betrachtete voll Interesse den Ort, welcher der Schauplatz erregter nächtlicher Szenen werden sollte. Hinter dem Felsenriff, das sie verbarg, erweiterte sich das flache, leicht ansteigende Ufer ganz bedeutend und lief weiter oberhalb in die freie Ebene aus. Die steilen Wände des Donnerberges traten zurück. Zwischen ihnen und dem Fluss lagen in einer Entfernung von hundert Schritten die Zelte des Assiniboinedorfes, deren spitze Kegel, vom Feuerschein schwach erhellt, aus dem nächtlichen Dunkel leuchteten. Hinter dem Dorfe befand sich die Mustangherde.

»Seht Ihr den dunklen Strich an der Felswand?«, wandte sich Ben flüsternd an Allan. Als dieser bejahte, erklärte der Alte: »Das ist der Felsspalt, der tief in den Berg einschneidet. Die Rothäute glauben, ein Blitzstrahl habe den Berg gestalten, deshalb haben sie ihm den Namen Berg des Donners gegeben. Gleich am Eingang, der sehr zerklüftet ist, muss sich das Felsloch befinden, in dem der deutsche Rifledoktor steckt.«

»Hoffentlich finden wir den Ärmsten, damit er endlich erlöst wird«, sagte James Allan, dessen Herz vor Erwartung und Unruhe heftig schlug, wenn sein Blick auf die nahen Zelte fiel, in denen die wilden Gegner schliefen.

»Wir werden ihn schon herausholen«, meinte Rifle Ren gelassen, den die Nähe der blutdürstigen Wilden nicht aus seiner gewohnten Ruhe brachte.

So verging nahezu eine Stunde, die dem vor Erwartung bebenden Karl Martens eine Ewigkeit dünkte. Rifle Ren beruhigte ihn mit dem Hinweis darauf, dass die Piegan ja einen viel weiteren Weg zurücklegen mussten als sie selbst. Plötzlich dröhnte der Knall eines Schusses durch die Stille der Nacht. Ein wilder, triumphierender Schrei, der aus der Mitte des Dorfes ertönte, folgte unmittelbar darauf.

»Goddam! Das war Büffelstirn! Ein toller Kerl! Er hat sich in das Dorf geschlichen und einen der Wächter erschossen. Vorwärts, wir müssen uns beeilen«, rief Ben mit gedämpfter Stimme und eilte in raschem, möglichst geräuschlosem Lauf um die Felsecke herum, gefolgt von seinen Gefährten. Der Schrei des Piegan-Häuptlings entfesselte ein furchtbares Geheul. Es war das Signal für seine Krieger zum Angriff auf die Mustangherde, den sie gut vorbereitet hatten. Die eine Hälfte seiner Leute war zu Fuß bis in die Nähe des Feuers geschlichen, wo die Wächter saßen. Als der Knall des Schusses die Luft erschütterte, sprangen die Wächter erschreckt auf. Sofort schossen die Piegan die Männer nieder, bildeten eine Linie und liefen, ein gellendes Geschrei ausstoßend, auf die wild durcheinander jagenden Mustangs zu. Dabei schwenkten sie ihre Büffelroben (Fellmäntel), die aufgeregten Tiere vor sich her vom Dorf fort treibend. Ihre berittenen Gefährten jagten auf das Zeltdorf zu und schossen auf die in den Zeltgassen sichtbar werdenden Gestalten.

Tosender Lärm erfüllte die Talbreite. In panikartiger Flucht galoppierten die Mustangs der freien Prärie zu. Da wandten die berittenen Piegan, die inzwischen ihren kühnen Häuptling aufgenommen hatten, ihre Mustangs und rasten hinter der fliehenden Herde her. Ihre Gefährten hatten ihre eigenen Tiere wieder bestiegen und bemühten sich, die auseinanderstrebenden Mustangs der Assiniboine, die entsetzt davonpreschten, zusammenzuhalten. Es gelang ihnen, einen erheblichen Teil der flüchtenden Tiere fortzutreiben. Sie wussten, dass die anderen nicht eher anhalten würden, als bis sie völlig erschöpft waren. So waren die Assiniboine nicht in der Lage, die Diebe zu verfolgen, wenn auch einige besonders wertvolle Tiere, die, gesondert von der Herde, bei den Zelten angepflockt waren, in ihrem Besitz geblieben waren.