John Ronald Reuel Tolkien Teil 2
Die Erschaffung eines Mythos
Was ist ein Mythos?
Ein Mythos ist eine Bezeichnung für die bildhafte Erzählung eines Volkes über Ereignisse und Begebenheiten, die den Ursprung, den Verlauf und das Ende einer Welt in Verbindung mit deren Göttern, Geistern und übermenschlichen Wesen beschreibt. Diese Ereignisse spiegeln meist den Kampf zwischen Gut und Böse wider.
Der Unterschied zur Geschichtsschreibung, die auf Wahrheit beruht und verstanden werden
kann, liegt darin, dass ein Mythos geglaubt werden will. Die Geschichte ist also rational, ein Mythos irrational. Und trotzdem wird ein Mythos als Wahrheit angenommen.
Unter dem Aspekt betrachtet, dass Tolkien sich darüber ärgerte, dass es für England keine so großartige Legende gab wie zum Beispiel »Kalevala«, »Beowulf« oder »Edda« und er eben so etwas für sein Land erschaffen wollte, reicht das eigentlich schon aus, um zu behaupten, dass sein Werk um Mittelerde ein Mythos ist. Denn bei genauer Betrachtung erkennt man in Mittelerde nichts anderes als Tolkiens Heimat in einer anderen Zeit und das Auenland stellt nichts anderes dar als die ländliche, vorindustrielle Grafschaft Sarehole, wo Tolkien vier Jahre seines Lebens verbrachte.
Als Grundlage für die Erschaffung von Mittelerde benutzte Tolkien zunächst die Entwicklung eigener Sprachen. Und damit fing er sehr früh an, wie man seiner Biografie entnehmen kann.
Tolkiens Weg zum Mythos Mittelerde
Tolkiens Weg nach Mittelerde beginnt sich also schon im jungen Alter von 11 Jahren zu entwickeln. Dass Tolkien das damals schon bewusst war, bezweifle ich, dennoch wurde im Jahre 1903 mit dem Erlernen der ersten Sprachen ein Grundstein gelegt. Die ersten Sprachen, welche der Elfjährige erlernte, waren Griechisch, Finnisch und Walisisch. Zwei Jahre später beginnt Tolkien Latein, Deutsch, Französisch sowie Alt- und Mittelenglisch zu lernen.
Zu dieser Zeit, also 1905, fängt Tolkien ebenfalls an, seine ersten Fantasiesprachen zu entwickeln. Und die Sprachen haben letztendlich einen sehr großen Einfluss auf die Entstehung aller Werke von Tolkien beigetragen, sie waren eine Grundlage für die Erschaffung von Mittelerde. Tolkien nutzte die Sprache als Inspirationsquelle für seine Werke und entwickelte danach erst die Welt für seine Sprachen.
Doch bis dahin ist es noch ein langer Weg, der aber schon immer geprägt war von etwas Besonderem. So schreibt Tolkien 1910, da ist er 18 Jahre alt, sein erstes Gedicht »Waldsonnenschein«, in dem er Elfen und Feen tanzen lässt.
Ein Jahr später setzt er sich mit dem finnischen Nationalepos »Kalevala« auseinander. Und Tolkien fragt sich schon sehr früh, warum es so etwas in der Art nicht für England gibt. Vielleicht ist dabei schon die Idee zur Erschaffung seines eigenen Mythos entstanden: Mittelerde, in welchem er dann später England in mythischer Form darstellt.
Im Jahre 1911 unternimmt Tolkien eine Reise in die Schweiz. Bei einer Wanderung entdeckt und kauft er eine Karte mit dem Bild von Josef Madlener »Der Berggeist«.
Auf den Umschlag dieser Karte schreibt Tolkien später »Gandalfs Ursprung«.
1913 beginnt Tolkien mit seinem Anglistik-Studium, Spezialrichtung Sprachwissenschaft und Spezialfach Altnordisch.
Besonders beeindruckt ist er bei seinen Studien von »Crist«, einer Hymne über Christi Himmelfahrt, des altenglischen Dichters Cynewulf aus der zweiten Hälfte des 8., ersten Hälfte des 9. Jahrhunderts. In »Crist« gibt es den rettenden Engel Earendel, aus dem Tolkien seine Figur Earendil entwickelte.
Ebenfalls in diesem Jahr setzt sich Tolkien mit der Edda auseinander, und zwar so intensiv, dass er Elemente und Namen daraus für seinen Mythos verwenden wird. Allein der Name Gandalf ist der Älteren Edda entlehnt und bedeutet »Elbe des Stabes«.
Im 1914 geschriebenen Gedicht »The Voyage of Earendil the Evening Star« gibt es dann die ersten konkreten mythologischen Äußerungen. Es geht um die Fahrt des Sternenschiffs über das Firmament, die so lange dauert, bis das Morgenlicht das Bild verlöschen lässt. Die Idee für dieses Gedicht über den Sternenschiffer entstammt aus »„Crist«, jedoch hat Tolkien daraus sein ganz eigenes Gedicht gemacht. Und so die Erschaffung seiner Mythologie gegründet. Earendil wird in »Das Silmarillion« eine tragende Rolle spielen, denn an seinem Schiff befindet sich der letzte Silmaril und wird am Ende des 1. Zeitalters als hellster Stern an den Himmel gesetzt.
Earendils Nachkomme, der Halbelb Elrond, wird eine der Hauptverbindungen zu den späteren Zeitaltern sein.
Tolkien schreibt in der Folgezeit viele Gedichte, unter anderem auch »Goblin Feet«, in welchem zum ersten Mal Kobolde auftauchen.
Schon ein Jahr später beginnt er, Gedichte in seiner Feensprache zu schreiben. Dabei entsteht zum Beispiel das Gedicht »Kor«. »Kor« ist eine Stadt der Elben, die auf dem gleichnamigen Berg erbaut wurde. Tolkien hat die Stadt auch in seiner Zeichnung »Die Feenküste« einfließen lassen.
1915 entsteht dann auch schon das erste Lexikon in der Elbensprache »Quenya«. Diese Sprache entwickelt Tolkien aus einer Mischung von Latein, Griechisch und Finnisch und verwendet sie als Sprache der Gelehrten und Dichter in Mittelerde.
Und mit dem Mythos Mittelerde geht es 1917 während eines Genesungsurlaubes richtig los. Zu dieser Zeit beginnt Tolkien die erste Geschichte für »The Book of Lost Tales« zu schreiben, woraus später dann »Das Silmarillion« entstand, die Geschichte: »The Fall of Gondolin«.
Tolkien arbeitet auch weiter an seinen Sprachen, sodass Sindarin und Quenya weiter von ihm ausgeformt werden. Er beginnt ebenfalls an der Arbeit zu einem Lexikon der gnomischen Sprachen wie Noldor, welches dann »Das Goldogrin« heißen wird.
Während einer Krankheit schreibt Tolkien die Geschichte »The Children of Hurin« und es ist im ersten Jahr seiner Ehe mit Edith, also 1917, als auch das zentrale Thema für »Das Silmarillion« Luthien und Beren entsteht. Bei Waldspaziergängen mit Edith singt und tanzt sie für Tolkien, und damit entsteht die zentrale Geschichte für »Das Silmarillion«.
An Luthien und Beren veranschaulicht Tolkien zum ersten Mal, dass die scheinbar Schwachen, welche später dann durch die Hobbits dargestellt werden, den Ausschlag für den Verlauf der Geschichte geben. In »Das Silmarillion« wird die Geschichte der Elben erzählt, des unsterblichen Volkes, dessen Erschaffung ein Geheimnis bleibt. Die Elben waren zuerst in Mittelerde, die Menschen sind sozusagen Nachkömmlinge, die im 1. Zeitalter noch keine Hauptrolle spielen. Erst nachdem die Elben die Welt zu höchster Blüte gebracht haben und anfangen zu schwinden, machen sie den Menschen Platz. Doch gerade dem Menschen Beren gelingt es, aus der Burg des Feindes einen der Silmaril zu stehlen, er gewinnt dadurch die Hand der Elbe Luthien und daraus hervor geht die erste Ehe zwischen einem Sterblichen und einer Unsterblichen.
Im Jahr 1923 kommt es zu einem zufälligen (?) Namen für einen Handlungsort in Mittelerde. Tolkien leidet an einer Lungenentzündung und bekommt Besuch von seinem Großvater John Suffield. John wohnt bei Tante Jane, einer Schwester von Tolkiens Mutter, in Dormston in Worcestershire auf einer Farm, die Bag End (Beutelsend) genannt wird, da sie am Ende eines Weges liegt, der nicht weiterführt. Doch auch für Tolkien führt der Name Bag End erst einmal nicht weiter, denn er arbeitet zunächst an »The Book of Lost Tales« weiter und vollendet es fast. Die Bearbeitung wird sich allerdings noch Jahre hinziehen.
1926 hat Tolkien sein Elbisch-Alphabet soweit fertig, dass er sein Tagebuch bis 1933 in dieser Sprache schreiben wird.
Im Jahre 1928 schreibt Tolkien, während er Arbeiten seiner Studenten korrigiert, auf ein leeres Blatt »In a hole in the ground there lived a hobbit«.
Was aus diesem Satz geworden ist, wissen unterdessen Millionen von Lesern auf der ganzen Welt. »Die Geburtsstunde« des Bilbo Beutlin liest sich hier sehr unspektakulär, doch dass sich daraus eines der beliebtesten Bücher der Welt entwickeln würde, war Tolkien in diesem Moment sicher nicht bewusst. Es dauert auch noch 3 Jahre, bis er mit dem Schreiben von »Der Hobbit« beginnt, und das Buch bleibt vorerst auch noch unvollendet.
Denn im gleichen Jahr arbeitet Tolkien zusammen mit C.S. Lewis und Hugo Dyson an seiner Idee »Mythos als Erfinden in Bezug auf die Wahrheit und schriftstellerische Tätigkeit als Nachschöpfen oder Nebenschöpfen«. Damit sollte unter anderem erreicht werden, dass der Leser von einer Geschichte so eingenommen ist, dass er vergisst, dass es nur eine Geschichte ist. Er soll sich in der geschaffenen Welt zu Hause fühlen. Im Gedicht »Mythopoeia« hat Tolkien diese Idee zusammengefasst und Michael Ende hat später in seinem Buch »Die unendliche Geschichte« dieses Thema meisterhaft umgesetzt. 1939 hielt Tolkien dann übrigens an der St. Andrews University einen Vortrag zum Thema »Nebenschöpfung«, der 1947 mit dem Titel »On Fairy Stories« (»Über Märchen«) veröffentlicht wurde.
Doch zurück zu »Der Hobbit«, der ja noch immer unvollendet geblieben ist. Tolkien führt hier seinen Mythos fort. Sprachlich unterscheidet sich »Der Hobbit« von allen anderen Werken durch seine Märchenhaftigkeit, als etwas für Kinder. Die Geschichte hat einen wesentlichen Einfluss auf das Gesamtwerk. Die Hobbits und das Auenland werden bekannt, der Hobbit Bilbo Beutlin kommt in den Besitz des einen Ringes, man lernt die Zwerge kennen, Elrond spielt auch in »Der Hobbit« eine Rolle, nur die eigentliche Handlung, die Suche nach und der Raub des Drachengoldes, sind für Tolkiens Mythos eher nebensächlich. Und dass der Nekromant, dem Gandalf sich stellt, Sauron ist, stellt sich erst später heraus. Deshalb hat Tolkien auch einige Veränderungen an »Der Hobbit« vornehmen müssen, um die Parallelen zum gesamten Mythos, insbesondere aber zu »Der Herr der Ringe«, herauszuarbeiten.
1936 gerät das unvollendete Typoskript von »Der Hobbit« Susan Dagnall vom Verlag Allen & Unwin in die Hände. Sie liest es, ist begeistert und überredet Tolkien, das Buch unbedingt zu vollenden. Der Verlag möchte es gern veröffentlichen. Und schon ein Jahr später, am 21. September 1937 erscheint das Buch »The Hobbit« und wird sofort ein Bestseller. Bis Weihnachten ist die erste Auflage verkauft. Der Verlag fordert natürlich sofort eine Fortsetzung, Tolkien beginnt diese auch zu schreiben, doch dafür wird er fast 20 Jahre brauchen. Diese Fortsetzung wird der Höhepunkt im Erschaffen von Tolkiens Mythologie werden, als »The Lord of the Rings« bis heute Millionen von Leser begeistern und wahren Kultstatus erlangen.
Doch der Weg bis dahin ist weit. 1938, während eines Urlaubs in Sidmouth, hat Tolkien zum ersten Mal die Idee des Herrscherringes und erwähnt auch zum ersten Mal den Titel.
Ein Jahr später sind die Protagonisten soweit gediehen, dass eine gravierende Veränderung vorgenommen wird. Aus dem Hobbit Bingo wird endgültig Frodo.
Fünf Jahre später, Tolkiens Sohn Christopher macht eine Pilotenausbildung in Südafrika, wird während des regen Briefwechsels zwischen Vater und Sohn über den Werdegang des Buches »Shelob« (»Kankra«) erfunden. Und 1947 nimmt Tolkien eine (oben erwähnt) Veränderung in »Der Hobbit« vor, um die Geschichte von Bilbo und Gollum an »Der Herr der Ringe« anzupassen. In der Erstausgabe »Der Hobbit« ist Gollum noch bereit, den Ring zu verwetten und ärgert sich, dass er ihn nicht einlösen kann, weil er ihn verloren hat. Deshalb zeigt er Bilbo den Weg nach draußen und die beiden verabschieden sich voneinander. Dieses Verhalten passt nun überhaupt nicht in die neue Handlung.
»Der Herr der Ringe« bildet dann auch den Abschluss des großen Mythos um Mittelerde. Alle Motive und Elemente der vorangegangenen Werke werden in diesem Buch vereint, zusammengefasst und in ihrer Bedeutung dem Leser endgültig schlüssig gemacht.
Der allgegenwärtige Feind Sauron wird besiegt, der eine Ring vernichtet und die verbliebenen Elben treten ihre letzte Fahrt nach Westen an. Mittelerde wird ein Reich der Menschen und bekommt seinen wahren König zurück, die dritte Hochzeit zwischen einem Sterblichen, dem Menschen Aragorn, und einer Unsterblichen, der Elbe Arwen, schließt den Kreis zu den Anfängen in »Das Silmarillion«.
Erzählt wird die Geschichte allerdings nicht aus der Sicht der Elben, wie in »Das Silmarillion«, sondern aus der Sicht der Kleinen und Unscheinbaren,
den Hobbits.
Textquellen und weiterführende Literatur:
- Humphrey Carpenter, J.R.R. Tolkien – Eine Biographie
- Michael Nagula, Tolkiens Welt
- Friedhelm Schneidewind, Das große Tolkien – Lexikon
- Helmut W. Pesch, J.R.R. Tolkien – Der Mythenschöpfer (darin enthalten der Brief Tolkiens an Milton Waldman)
Bildquellen:
Copyright © 2007 by Anke Brandt
Der vollständige Artikel steht als PDF-Download zur Verfügung.
Bisherige Downloads: