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John Tanner – Das Leben eines Jägers 4

John Tanner
Das Leben eines Jägers
oder
John Tanners Denkwürdigkeiten über seinen 30-jährigen Aufenthalt unter den Indianern Nordamerikas
Erstmals erschienen 1830 in New York, übersetzt von Dr. Karl Andree

Viertes Kapitel

Der Winter wurde sehr streng, und wir fingen an, unsere Armut zu fühlen. Es war mir und Wa-me-gon-a-biew nicht möglich, so viel Wild zu schießen, wie zu unserem Unterhalt nötig war. Er war siebenzehn, ich dreizehn Jahre alt, und es ließen sich nur selten Tiere blicken.

Die Kälte wurde täglich heftiger, und wir verlegten unsere Hütte in den Wald, um besser Holz holen und Feuer unterhalten zu können. Da mussten ich und mein Bruder außerordentliche Anstrengungen machen, um keine Hungersnot aufkommen zu lassen. Wir streiften oft zwei bis drei Tagereisen weit von unserer Hütte weg, brachten aber in der Regel nur wenig heim. Auf einem dieser Jagdpfade hatten wir uns einen Ruheplatz ausgesucht und mit Zedernzweigen gegen das Wetter geschützt. In der Mitte hatten wir oft Feuer gemacht, und dieses ergriff einst, während wir schliefen, die dürren Zweige mit einer solchen Schnelligkeit, dass wir uns kaum retten konnten. Es war, als ob eine Pulverexplosion stattgefunden hätte.

Dieser Lagerplatz war weit von unserer Hütte entfernt, und auf dem Rückweg mussten wir über einen Fluss setzen, der so schnell strömte, dass er nie gänzlich zufror. Das Wetter war so kalt, dass die Bäume unter der Last des Reifes krachten. Wir versuchten den Übergang, ich zuerst, mein Bruder folgte, wurde aber, während er über das Eis schlittern wollte, über und über nass, während mir nur die Beine nass geworden waren. Unsere Hände waren so erstarrt, dass es lange dauerte, ehe wir unsere Schneeschuhe losbinden konnten. Kaum waren wir aus dem Wasser, wurden unsere Beinschienen und Mokassins ganz steif. Mein Bruder ließ allen Mut sinken und sagte, er wolle hier sterben. Ich aber mochte nicht, wie er doch tat, mich hinsetzen und ruhig den Tod abwarten. Ich machte mir am Ufer des Flusses möglichst viel Bewegung, und zwar an einer Stelle, wo der Wind im Schnee weggefegt hatte. Endlich fand ich ein Stück faulen Holzes, das recht trocken war, und mit welchem ich endlich durch Reiben ein Feuer anmachen konnte. Nun tauten wir auf, trockneten unsere Mokassins uns hoben sie daraufhin wieder an, um Holz holen und ein stärkeres Feuer anmachen zu können. Als die Nacht kam, hatten wir ein gutes Feuer, trockene Kleider, aber nichts zu essen. Doch fühlten wir uns nach so vielen Leiden sehr glücklich.

Bei Tagesanbruch machten wir uns wieder auf den Weg und trafen bald mit unserer Mutter zusammen, die uns Kleider und ein wenig zu essen brachte. Sie hatte uns schon seit dem vorigen Tag nach Sonnenuntergang erwartet, und war, da sie wusste, dass wir über einen gefährlichen Fluss setzen mussten, die ganze Nacht hindurchgegangen, denn sie fürchtete, der Eisgang möchte uns gefährlich geworden sein.

Wir lebten einige Zeit in einem recht elenden Zustand und waren halb tot vor Hunger. Da kam ein Creek, genannt der Raucher, zu den Handelsleuten, hörte, dass wir uns in einer äußerst betrübten Lage befanden, und lud uns ein, ihm in sein Land zu folgen, wo er für uns jagen und im Frühjahr wieder zurückbringen wollte. Wir gingen zwei ganze Tage Richtung Westen, um zu seiner Hütte zu kommen, zu einem Ort, der We-sau-ko-ta-see-be (Fluss des verbrannten Holzes) hieß. Hier nahm er uns unter seinem Dach auf und ließ es uns, solange wir bei ihm waren, an nichts fehlen. So ist es noch Brauch bei Indianern, die weit entfernt von den Weißen leben, aber die Ottawa und alle anderen, die unweit von den Ansiedelungen wohnen, gleichen schon den Weißen und geben keinem etwas, der nicht zahlen kann. Wenn einer von denen, welche in jener Zeit zu Net-no-kwas Familie gehörten, nachdem so viele Jahre verflossen sind, mit einem Familienglied Pe-twaw-we-ninnes, des Rauchers, zusammenträfe, so würde er ihn Bruder nennen und als solchen behandeln.

Wir waren schon seit einigen Tagen wieder zu dem Tragplatz zurückgekehrt, als uns ein anderer Mann von derselben Creek aufforderte, ihm zu einer der großen Inseln im Oberen See zu folgen, auf der wir Karibus, Störe und alles, was zu unserem Unterhalt notwendig wäre, in Fülle antreffen würden. Wir gingen also mit ihm, reisten vor Tagesanbruch ab und bestiegen gegen Einbruch der Nacht, trotz des widrigen Windes, unsere Fahrzeuge. In den Löchern und Spalten der Felsen, die mit dem Wasserspiegel beinahe auf gleicher Höhe liegen, fanden wir mehr Möweneier, als wir fortschaffen konnten. Wir harpunierten auch gleich nach unserer Ankunft zwei oder drei Störe, und am andern Morgen brachte Wa-ge-mah-wub, den wir unseren Schwager nannten, und der wirklich mit Net-no-kwa weitläufig verwandt war, zwei Karibus von der Jagd zurück.

Wir brauchten eine ganze Tagereise, um vom Ufer bis zu einem großen See zu gelangen, in den ein kleiner Fluss mündete. Dort fanden wir Biber, Ottern und viel anderes Wild. Solange wir auf dieser Insel blieben, hatten wir Überfluss an allem. Wir verließen sie, um zum Tragplatz zurückzukehren. Es waren zehn Kanus beisammen, von denen acht der Familie Wa-ge-mah-wubs gehörten. In der Nacht war es ruhig, und als wir bei Tagesanbruch die Insel verließen, das Wasser nicht einmal gekräuselt. Kaum aber waren wir ein paar Hundert Schritte weit gerudert, da hielten alle Kanus an, und der Häuptling richtete mit lauter Stimme ein Gebet an den großen Geist, damit derselbe einen gnädigen Blick auf uns herabwerfen möchte.

»Du hast diesen See gemacht«, sprach er, »und hast auch uns geschaffen, deine Kinder. Du kannst Ruhe halten auf diesem Wasser, bis wir glücklich und gesund darüber hinweggefahren sind.«

In dieser Weise betete er etwa fünf bis zehn Minuten und warf dann ein wenig Tabak ins Wasser, und jedes Kanu folgte seinem Beispiel. Darauf fuhren alle weiter und der Alte stimmte einen Gesang an, dessen Sinn mir nicht mehr gegenwärtig ist. Ich weiß nur, dass er religiösen Inhalts war. Ich hatte meine Muttersprache schon vergessen und von der Religion der Weißen hatte ich nur noch einige dunkle Vorstellungen.

Ich entsinne mich, dass die Anrufung, welche der Häuptling an den großen Geist richtete, mir sehr ausdrucksvoll vorkam und einen tiefen Eindruck auf mich machte. Alle Indianer waren bewegt. Sie hatten sich in ihren gebrechlichen Fahrzeugen einem ungeheueren See anvertraut und fühlten daher um so mehr, wie sehr sie in der Gewalt des Wesens waren, das Wind und Wellen beherrscht. Sie ruderten schweigend und mit der größten Tätigkeit. Lange vor Einbruch der Dunkelheit landeten wir glücklich am großen Tragplatz, ohne dass auch nur ein Lüftchen den See gekräuselt hätte.

Seit jenem Tag hatte ich alle mögliche Freiheit, konnte nach Belieben gehen, wohin ich wollte, und es wäre mir leicht gewesen, die Flucht zu ergreifen. Aber ich glaubte, mein Vater sei mit seiner ganzen Familie erwürgt worden, und wusste, dass meiner unter den Weißen ein Leben voller Arbeit und Mühsal harrte. Ich war ohne Freunde und Verwandte, besaß weder Geld noch Eigentum, und hätte unter äußerster Dürftigkeit leben müssen. Dagegen sah ich, dass unter den Indianern alle, die durch Alter oder Krankheit verhindert waren, selbst auf die Jagd zu gehen, sehr darauf rechnen durften, von anderen unterstützt zu werden. Auch stieg ich schon in ihrer Achtung und wurde wie ein junger Mensch ihres eigenen Stammes behandelt. Darum fasste ich den Entschluss, bei ihnen zu bleiben, gab indessen nie die Absicht auf, später einmal zu den Weißen zurückzukehren. Wir waren also wieder am Tragplatz, von wo die wohlwollende Gastfreundschaft der Creek uns schon zweimal in eine andere Gegend gezogen hatte. Net-no-kwa fasste den Entschluss, wieder den Weg zum roten Fluss einzuschlagen. Und als sie eben darüber mit sich einig geworden war, erfuhr sie von einem Handelsmann, dass einer ihrer Schwiegersöhne, der sie am Moose-See verlassen hatte, als Ke-wa-tins schlimmer Zustand ihr nicht erlaubte, weiter zu ziehen, in einem Streit, welcher sich während eines Saufgelages erhoben hatte, ermordet worden sei. Die Witwe war von den Handelsleuten bis zum Rain Lake mitgenommen worden und hatte ihre Mutter gebeten, sie möchte doch zu ihr kommen. Das war ein Grund mehr für uns, zum Red River aufzubrechen, und wir beschlossen unverzüglich dahin abzureisen. Unser Kanu war an die Kaufleute vermietet worden und mit Warenballen beladen, die zum Red River geschafft werden sollten. Noch andere Fahrzeuge hatten dieselbe Bestimmung. Net-no-kwa verlangte Platz für uns, bis wir zu der Stelle kämen, wo wir auf unser Kanu treffen mussten. Wir fanden es bald, und da die Handelsleute sich weigerten, es herauszugeben, so nahm es Net-no-kwa gegen ihren Willen und lud unsere Sachen hinein. Die Handelsleute wagten nicht, etwas dagegen zu tun. Ich habe nie einen Indianer, weder Mann noch Frau, gesehen, der so entschieden gestanden und eine feste Autorität ausgeübt hätte, wie Net-no-kwa. Sie machte stets sowohl mit den Indianern als auch mit den Weißen, was sie wollte. Ihr Ansehen rührte wahrscheinlich daher, dass sie nie etwas anderes in Anspruch nahm und forderte, als was recht und billig war. Am Rain Lake trafen wir die Tochter der alten Frau. Sie hatte zwar einige Indianer bei sich, war aber in den gleichen Umständen. Net-no-kwa sprach lange mit ihr über unsere Lage, unser Unglück und unsere Verluste, vom Tod ihres Mannes und jenem Ke-wa-tins. Die beiden Söhne, welche ihr noch geblieben waren, wären sehr jung, sagte sie. Es finge aber an, mit ihnen schon recht gut zu gehen.  Und da sie einmal so weit hergekommen wäre, um am Red River Biber zu jagen, so wolle sie auch nicht wieder umkehren. Weder ich noch mein Bruder, die wir doch an der Sache sehr nahe beteiligt waren, wurden um Rat oder unsere Meinung befragt.

Wir nahmen unseren Weg zuerst zum Wälder-See, den die Indianer Pub-be-kwaw-waug-gaw-fau-gi-e-gun, den See der Sandhügel nennen. Ich begreife nicht, wie die Weißen auf den Namen Wälder-See verfallen sind, denn Holz ist nur sehr wenig in seiner Umgebung vorhanden. Die stürmischen Winde drohten uns große Gefahr, und die Wellen schlugen mit solcher Gewalt gegen unser Kanu, das ich kaum imstande war, alles eindringende Wasser mit einem großen Kessel auszuschöpfen und das Fahrzeug flott zu erhalten.

Gegen Ende des Jahres kamen wir an den See mit schlammigem Wasser, den die Weißen Winnipeg nennen. Dort wurde Net-no-kwa vom vielen Kummer, der über sie gekommen war, seit sie die Heimat verlassen hatte, überwältigt, fing, ganz gegen ihre Gewohnheit, zu trinken an und berauschte sich. Da der Wind günstig schien, so beschlossen wir, einfältig und unerfahren, wie wir in jenem Alter waren, die alte Frau in das Kanu zu tragen und zum jenseitigen Ufer hinüberzufahren. Die Handelsleute sagten, der Wind würde uns gefährlich werden. Wir hörten aber nicht auf ihren Rat und ruderten los. Da der Wind vom Ufer her wehte, so schlugen die Wellen anfangs nicht hoch. Bald aber schlugen sie immer heftiger gegen das Fahrzeug, und ich glaubte jeden Augenblick, es müsse voll Wasser laufen und sinken oder kentern. Umkehren konnten wir nicht. Das wäre noch viel gefährlicher gewesen, als die Weiterfahrt. Bald ging auch die Sonne unter und der Sturm wurde immer schrecklicher. Wir hielten uns schon für verloren und schrien laut auf.

Da erwachte plötzlich die alte Frau, stand auf, richtete mit lauter Stimme ein inniges Gebet an den großen Geist, fing mit erstaunlicher Lebhaftigkeit zu rudern an, ermahnte uns auszuharren und zeigte Wa-me-gon-a-biew , wie er das Kanu lenken müsse. Als wir uns endlich dem Ufer näherten, erkannte sie die Stelle, wo wir notwendig landen mussten, und äußerte die lebhafteste Besorgnis.

»Meine Kinder«, sagte sie, »ich glaube, es ist um uns geschehen. Dort vor uns liegen viele große Klippen dicht unter dem Wasser. An denen wird unser Kanu in Stücke zerschellen. Indessen können wir gar nichts weiter tun, als vorwärtsrudern. Denn wenn wir auch die Klippen nicht erkennen, so ist doch noch die Möglichkeit vorhanden, dass wir zwischen ihnen hindurch kommen.«

Wenige Augenblicke danach lief unser Kanu ganz sanft auf den Sand am Strand. Wir sprangen sogleich hinaus, um es dem Bereiche der Wellen zu entziehen, und schlugen ein Lager auf.

Kaum hatten wir unser Feuer angezündet, als wir mit der Alten über ihren Rausch und den Schreck scherzten, den sie bei ihrem Erwachen geäußert hatte. Am anderen Morgen sahen wir, dass das Ufer genau so beschaffen war, wie sie es uns geschildert hatte. Wir waren in der Dunkelheit an einer Stelle gelandet, die bei solchem Wind zu erreichen auch der tollkühnste Indianer nicht einmal den Versuch gemacht haben würde.

Der folgende Tag war schön und ruhig. Wir blieben deshalb auf unserem Lagerplatz liegen. Gegen Abend war unser Gepäck wieder trocken, und wir ruderten der Mündung des Red River zu, die wir in der Nacht erreichten. Wir erblickten eine Hütte, stiegen ans Land, zündeten aber kein Feuer an und machten nicht das geringste Geräusch, um die Leute, die wir nicht kannten, ungestört zu lassen. Am andern Morgen weckten sie uns, und es zeigte sich, dass wir uns bei der Familie eines Bruders von Taw-ga-we-ninne befanden, derselben, welche zu besuchen unsere Absicht gewesen war.