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Fantomas – Kapitel 8.2

Es war ein fürchterlicher Anblick. Der Körper eines sehr jungen Mannes, noch fast ein Junge mit seinen langen, schlaksigen Gliedmaßen. Das Gesicht war so schrecklich angeschwollen und zerfetzt, dass es ohne Konturen war. Eines der Beine war nahezu gänzlich vom Leib abgerissen. Durch Risse in der Kleidung quoll das Fleisch, blau und verfärbt vom langen Treiben im Wasser. Auf den Schultern und im Nacken waren Schrammen und Flecken von Blut. Bouzille, der sichtlich unbeeindruckt von dem schrecklichen Anblick war und weiter sang »Ich habe einen Leichnam geangelt, ich habe 25 Francs gewonnen«, bemerkte, dass große Holzsplitter in einigen der Wunden steckten, die vom langen Wasserbad verrottet waren. Er richtete sich auf und sprach zu Mère Chiquard: »Ich sehe schon, was das ist. Er muss in eines der Mühlräder geraten sein, das hat ihn so zugerichtet.«

Mit Unbehagen schüttelte Mère Chiquard ihren Kopf. »Ich denke, das war Mord! Was für eine hinterhältige Sache!«

»Es nützt nichts, wenn ich ihn länger ansehe«, sagte Bouzille, »ich erkenne ihn nicht. Er ist nicht aus der Gegend.«

»Das ist sicher«, stimmte ihm die alte Frau zu, »er ist wie ein Herr gekleidet.«

Die beiden schwiegen sich an. Bouzille war längst nicht mehr so selbstzufrieden wie noch wenige Minuten zuvor. Die Belohnung von 25 Francs forderte, dass er sofort die Polizei informieren müsste. Die Vorstellung eines Verbrechens, wie von der guten Frau vermutet, verstörte ihn doch sehr, um so mehr, als er ihr insgeheim Recht gab.

Ein erneuter Mord in der Nachbarschaft würde die Obrigkeiten sicherlich aufregen und die Polizei in schlechte Laune versetzen. Bouzille wusste aus Erfahrung, dass als Erstes nach einer solchen Tragödie die Landstreicher verhaftet würden und dass, wenn die Polizei launisch war, diese die Landstreicher immer für etwas anderes dran kriegten. Er hatte ja schon zuvor die kurze Lust verspürt, sein Winterquartier ins Gefängnis zu verlagern, aber nach seinen Plänen, nach Paris zu reisen, erschien ihm die Freiheit doch verlockender. Er kam also zu einer plötzlichen Entscheidung. »Ich werde ihn wieder zurück ins Wasser stoßen.«

Aber Mère Chiquard hielt ihn auf, gerade als er seine Idee umsetzen wollte. »Das darfst du nicht tun, stell dir vor, uns hat schon jemand gesehen? Das würde uns endlosen Ärger bringen!«

Eine halbe Stunde später, überzeugt davon, dass es seine traurige Pflicht war, ließ Bouzille zwei Drittel seines Zuges in Mère Chiquards Obhut zurück, schwang sich auf sein vorsintflutliches Dreirad und radelte langsam in Richtung Saint-Jaury.

 

***

 

Neujahr ist ein melancholischer und langweiliger Tag für jene, deren öffentliche oder persönliche Beziehungen ihn nicht zu einem außergewöhnlich interessanten Tag machen. Da ist der Jahreswechsel zum einen, der nachdenklich macht, und da ist zum anderen der erzwungene Müßiggang, der energiegeladene Menschen wie eine zeitweise Lähmung überkommt und ihnen nichts als die Meditation lässt, um sich zu beschäftigen.

Juve, der es sich in seinem privaten Arbeitszimmer bequem gemacht hatte, überkamen diese Gedanken just, als der Abend dieses ersten Januars hereinbrach. Er war ein überzeugter Junggeselle und lebte seit einigen Jahren in einer kleinen Wohnung im fünften Stock eines alten Hauses in der Rue Bonaparte. Er war an jenem Tag noch nicht ausgegangen, aber wenngleich ruhend, war er nicht müßig. Den ganzen letzten Monat war er völlig durch seinen Versuch beansprucht gewesen, das Mysterium rund um die zwei Fälle zu lösen, in die er involviert war: den Fall Beltham und den Fall Langrune. Um diese kreisten seine Gedanken nun gemächlich, während er in seinem warmen Zimmer vor einem flackernden Holzfeuer saß und dem blauen Rauch zusah, wie dieser in Ringen zur Decke des Raumes aufstieg. Diese zwei Fälle waren sehr unterschiedlich und doch sagte ihm sein Instinkt als Détective, dass, obwohl sie in Details voneinander abwichen, ihre Konzeption und ihre Ausführung von nur einem Kopf ersonnen und von gleicher Hand begangen worden waren. Er war überzeugt, dass er es mit einem mysteriösen und gefährlichen Individuum zu tun hatte und dass er, während er selbst in der Öffentlichkeit stand, einen Kampf mit einem verborgenen und unsichtbaren Gegner ausfocht. Er strebte danach, dem Gegner Form und Substanz zu verleihen, als der Name Fantômas ihm in den Sinn kam. Fantômas! Was mochte Fantômas gerade tun, und falls er wirklich existierte, woran der Détective fest glaubte, wie verbrachte er den Neujahrstag?

Ein lautes Klingeln der Türglocke schreckte ihn aus dem Stuhl, und ohne seinem Hausdiener Gelegenheit zu geben, zu antworten, ging er selbst zum Eingang und nahm von einem Boten ein Telegramm entgegen, das er hastig aufriss und las:

In der Dordogne Körper eines ertrunkenen jungen Mannes gefunden, Gesicht unkenntlich, von der Beschreibung her möglicherweise Charles Rambert. Bitte überprüfen Sie die Lage und telegrafieren uns, wie Sie vorgehen möchten.

Das Telegramm war in Brives aufgegeben worden und unterzeichnet von Monsieur de Presles.

»Endlich etwas Neues«, murmelte der Détective. »Ertrunken in der Dordogne und das Gesicht unerkennbar! Ob das wohl wirklich Charles Rambert ist?«

Seit Monsieur Etienne Rambert und sein Sohn so unauffindbar verschwunden waren, hatte der Détective natürlich in Gedanken verschiedenste Hypothesen entwickelt. Aber er war zu keinem Schluss gekommen, der sein Urteilsvermögen richtig zufriedenstellte. Obwohl ihre Flucht ihn nicht großartig überrascht hatte, war er doch sehr überrascht gewesen, dass die Polizei nicht in der Lage war, irgendeine Spur von ihnen zu finden, denn Juve billigte ihr, ob berechtigt oder unberechtigt, ein gutes Stück Intelligenz und Fähigkeit zu. Somit war es beileibe nicht unvernünftig, den Tod der Flüchtigen als Erklärung für das Versagen der Polizei zu akzeptieren, sie zu finden. Wie auch immer, dies war eine neue Entwicklung in diesem Fall und er wollte gerade eine Antwort an Monsieur de Presles entwerfen, als die Türglocke erneut laut erklang.

Diesmal bewegte sich Juve nicht, sondern hörte seinem Bediensteten beim Gespräch mit dem Besucher zu. Es war eine strikte Regel Juves, niemals in seiner Wohnung Besucher zu empfangen. Wenn ihn jemand dienstlich zu sehen wünschte, war er fast jeden Tag um 11 Uhr morgens in seinem Büro im Hauptquartier anzutreffen. Sehr wenigen Menschen gewährte er eine Verabredung in einem ruhigen und diskreten kleinen Café auf dem Boulevard Saint-Michel. Aber er lud niemanden in seine eigenen Räumlichkeiten ein, mit Ausnahme ein oder zwei seiner eigenen Verwandten vom Lande, und auch diese wurden mit einer Losung ausgestattet, um Zutritt zu erlangen. Daher, trotz allen Flehens des Mannes, antwortete der Hausdiener stoisch mit der Versicherung, dass der Hausherr niemanden zu empfangen wünsche. Dennoch war die Nachdrücklichkeit des Besuchers derart groß, dass sich der Diener veranlasst sah, seine Visitenkarte hereinzubringen, wenn auch mit einiger Furcht vor den Konsequenzen für ihn selbst.

Aber zu seiner großen Erleichterung und Überraschung sagte Juve knapp: »Bring ihn sofort herein!«

Und wenige Sekunden später stand Monsieur Etienne Rambert im Zimmer!

Der ältere Herr, der wenige Tage zuvor so mysteriös geflohen war, gemeinsam mit dem Sohn, dem eine so schreckliche Strafe drohte, verbeugte sich respektvoll vor dem Détective. Dabei zeigte er den erbärmlichen Gesichtsausdruck eines vom Gewicht seines Unglücks Niedergedrückten. Seine Züge waren ausgemergelt, sein Gesicht trug den Stempel tiefster Trauer und in seiner Hand hatte er eine Abendzeitung, die er in seiner Anspannung fast zu einem Ball zerknüllt hatte.

»Sagen Sie mir, Monsieur, ob es wahr ist«, sagte er mit einer tiefen, bebenden Stimme. »Ich habe gerade dieses gelesen.«

Juve zeigte auf einen Stuhl, nahm die Zeitung mechanisch, strich sie glatt und las unter einer großen Überschrift Ist dies eine Fortsetzung des Verbrechens von Beaulieu? eine ähnliche Geschichte wie jene, die er gerade dem Telegramm des Monsieurs de Presles entnommen hatte.

Juve betrachtete Monsieur Etienne Rambert ein paar Minuten ruhig, um dann, ohne direkt auf die erste Frage seines Besuchers zu antworten, eine Frage in der ihm eigenen ruhigen Stimmlage zu stellen, diese wunderbar indifferente Tonlosigkeit, die jeden Hinweis auf seine inneren Gedanken verbarg.

»Warum kommen Sie zu mir, Monsieur?«

»Um es herauszufinden, Monsieur«, antwortete der alte Mann.

»Um was herauszufinden?«

»Ob der arme ertrunkene Körper jener meines … Sohnes ist: mein armer Charles?«

»Das müssten eher Sie mir sagen können, Monsieur«, sagte Juve, ungerührt wie immer.

Es entstand eine Pause. Trotz seiner Gefühlslage schien Monsieur Rambert innig nachzudenken. Plötzlich traf er anscheinend eine wichtige Entscheidung und sprach, die Augen zu dem Détective erhebend, sehr langsam: »Haben Sie Mitgefühl, mein Herr, mit dem gebrochenen Herzen eines Vaters. Hören Sie zu, ich habe ein schreckliches Geständnis zu machen!«

Juve zog seinen Stuhl näher an Monsieur Rambert heran.

»Ich höre«, sagte er sanft, und Monsieur Etienne Rambert begann sein schreckliches Geständnis.