Paraforce Band 19
Dieses Mal war alles anders.
Damian Atanasio wusste es, kaum dass er das Labor betreten hatte. Sogar die Tiere schienen es zu spüren, obwohl es eigentlich unmöglich war, dass sie in ihren hermetisch abgeriegelten Glaskäfigen irgendwelche Emotionen, gleich welcher Art, empfangen konnten. Trotzdem standen die Labormäuse wie an einer Perlenschnur aufgereiht hinter der Frontscheibe ihres gläsernen Gefängnisses. Aufgeregt wischten sie mit den Schwänzen über den Käfigboden, während ihre dunklen Knopfaugen jede Bewegung des Mannes verfolgten.
Eine seltsame, angespannte Atmosphäre breitete sich in dem Raum aus, die allmählich sowohl Mensch als auch Tier erfasste.
Lediglich der schwarz-weiß gefleckte Kater im Nachbarkäfig schien von all dem nichts mitzubekommen. Die Katze lag wie immer reglos auf dem Bauch, und nur das Spiel ihrer spitzen Ohren verriet, das noch Leben in dem Tier steckte.
Damian Atanasio zog die Tür hinter sich zu und drehte den Schlüssel im Schloss, bis es knirschte. Nach einem kurzen Blick auf die Käfige wandte er sich um und steuerte zielstrebig auf einen Tisch in der Mitte des Raumes zu. Das Möbelstück war derart mit Mess-, Steuer- und Regelgeräten überladen, sodass es den Anschein hatte, als ob es jeden Moment unter dem Gewicht der Apparaturen zusammenbrechen würde.
Ein Umstand, der Damian offensichtlich nicht interessierte. Ohne eine Miene zu verziehen, trat er an den Tisch heran und aktivierte nach einer kurzen Musterung die ersten Instrumente.
Die Labormäuse reagierten sofort. Das Gebaren der Tiere wurde nervöser, je mehr er von den Apparaturen einschaltete.
Die Mäuse sprangen geradezu kopflos in ihrem Käfig umher, und selbst die Katze zeigte nun eine Reaktion. Sie legte den Kopf schief und schien nach etwas zu lauschen.
Sie wissen, was jetzt kommt, dachte Damian und lachte meckernd. Seine Finger flogen über die Tastaturen der Geräte, drückten Knöpfe, schoben Regler nach oben und legten Schalter um. Sie wissen es ganz genau.
Sein abgehacktes Lachen erfüllte das kleine Labor bis in den hintersten Winkel.
Inzwischen hatte sich das Innere des Mäusekäfigs in ein wahres Tollhaus verwandelt.
Die Tiere fiepten und quiekten. Einige von ihnen sprangen mit geradezu grotesk anmutenden Sätzen im Käfig umher, während andere mit den Vorderpfoten an den Scheiben klebten und ihre Zähne gegen das Glas schlugen. Urplötzlich ging eine fast greifbare Bedrohung von den kleinen Nagern aus.
Auch die Katze schien zu spüren, dass etwas in der Luft lag. Sie stand auf und begann zu knurren. Die Muskeln in ihren Hinterläufen spannten sich, während sich gleichzeitig ihre Nacken- und Schwanzhaare sträubten.
Ihr Knurren und Fauchen wurde lauter.
Damian blickte über den Tisch hinweg zu der Katze.
»Bist du bereit?«
Die Katze versteifte sich.
Sie legte ihre Ohren straff nach hinten, entblößte die Zähne und antwortete ihm mit einem Knurren, das tief aus der Kehle kam.
Damian lachte erneut.
»Also gut, dann zeig mal, was du kannst.«
Langsam, beinahe behutsam legte sich seine Rechte um den Knauf eines Hebels, der etwas abseits von den ganzen Apparaturen neben den Tierkäfigen angebracht war.
Einen Moment lang, so schien es, hatte er Bedenken, ihn zu betätigen. Aber nur einen Moment, dann drückte er den Hebel mit aller Kraft nach vorne.
In der gleichen Sekunde raste die Scheibe, durch die beide Käfige getrennt waren, wie ein Fallbeil nach unten und verschwand in einer Fassung im Boden. Einer Flutwelle gleich ergossen sich die Nager in das Revier der Katze. Der ganze Boden war von weißhaarigen, nacktschwänzigen Leibern bedeckt. Überall war ein Fiepen und Pfeifen. Es schien, als hätten sich alle weißen Mäuse der Welt im Käfig der Katze versammelt.
Entgegen ihrer Natur gingen sie sofort zum Angriff über. Sie versuchten ihren Gegner zu überrennen und ihn durch ihre Masse zu Boden drücken.
Die Katze versuchte wiederum ihren Ansturm abzublocken. Mit ihren Krallen teilte sie furchtbare Schläge aus.
Mäuseschädel wurden zertrümmert, Kehlen aufgeschlitzt, Leiber zerfetzt. Blut spritzte wie roter Regen durch den Käfig, klatschte gegen die Scheiben und vermischte sich mit den Eingeweiden der Nager zu einem schleimigen, rotbraunen Brei, der innerhalb von Sekunden den Boden des Käfigs überzog.
Doch die Übermacht war zu groß.
Unzählige rasiermesserscharfe Zähne bohrten sich von allen Seiten her in den Leib der Katze, zerrten, rissen und zerfleischten das Tier, dessen schrille Schreie die Scheiben des Käfigs zum Erzittern brachten.
Der Todeskampf des Katers war entsetzlich.
Trotzdem zauberte der Anblick einen Ausdruck absoluter Wunschlosigkeit auf Damians Gesicht.
***
Es war kurz vor Sonnenaufgang, als es sich Andrew Brown auf dem umgestürzten Stamm eines Bergahorns gemütlich machte.
Er streckte die Beine aus und zog sich seine braune Kappe aus irischem Donegal-Tweed tief in die Stirn. Dann legte er die Hände um den Knauf seines Spazierstocks, einem beeindruckenden, mit Sterlingsilber verzierten Erbstück väterlicherseits, und starrte mit dem Wissen um das Naturschauspiel, das in wenigen Minuten beginnen würde, erwartungsvoll gen Osten.
Kurze Zeit später war es soweit.
Vor ihm am Horizont zeigte sich zunächst nur ein schmaler, hell schimmernder Streifen, der jedoch nach und nach in dunkles Purpurrot überging und dabei immer größer wurde. Der neue Morgen erwachte und tauchte den Horizont nach einer wahren Farbenexplosion in eine Symphonie aus leuchtendem Rot und gleißendem, grellen Gelb und Weiß.
Schnell begann das erste Licht des Tages die kalte Dunkelheit zu verschlucken.
Als die Sonne zu seiner Linken über der kantabrischen Bergwelt endgültig aufgestiegen war und die Strahlen das Land mit ihrem Licht überzogen, pfiff Andrew unwillkürlich durch die Zähne. Von seinem Platz aus bot sich ihm ein atemberaubendes Bild. Ein Anblick, der ihn weit mehr für die Strapazen, die er auf sich genommen hatte, entschädigte, als er es sich hätte jemals erträumen lassen. Das Licht des neuen Tages beschien eine Landschaft, wie sie großartiger nicht sein konnte.
Deutlich waren die schroffen Berghänge im Norden zu erkennen, die fast bis zur Schneefallgrenze hinauf von immergrünem Buschwerk, Buchen und Birken durchzogen waren. Im Süden dagegen war die Hügellandschaft etwas niedriger und statt mit Bäumen mit blauen Pyrenäendisteln und stängellosem Leimkraut durchsetzt. Dazwischen gab es Wiesen, auf denen Wildblumen in mannigfaltigen Farben blühten, und reißende Bäche, die schäumend von den Bergen hinab in das Tal stürzten.
Ein Weißrückenspecht schwebte mit weit ausgebreiteten Schwingen hoch am Himmel, während ein paar Murmeltiere keinen Steinwurf weit von ihm entfernt auf einer Wiese ihren Bau verlassen hatten, um ihren alltäglichen Beschäftigungen – Fressen, Ausruhen, Spielen und Wache halten – nachgingen.
Andrew genoss das Naturschauspiel mit allen Sinnen. Tief atmete er die würzige Bergluft in seine Lungen ein. Ein zufriedenes Grinsen umspielte dabei seine Mundpartie.
Vergessen war die Tatsache, dass sein Wecker mitten in der Nacht geklingelt hatte, obwohl er sich im wohlverdienten Urlaub befand, vergessen auch der beschwerliche Aufstieg bis auf halbe Höhe der Berge, deren Spitzen immerhin mehr als 2500 Meter über dem Meeresspiegel lagen.
Diese Aussicht entschädigte ihn für alles.
Er schob die Mütze aus der Stirn, stützte sich mit den Händen auf dem Baumstamm ab, während er sich nach hinten lehnte, und genoss die wärmenden Strahlen der Morgensonne.
Es waren genau diese Momente, die ihn aus seiner Heimat, den regenverhangenen Ebenen Mitteleng-lands, jedes Jahr hierher in die Pyrenäen lockten.
Plötzlich vernahm er ein seltsames Geräusch. Es klang wie ein unterdrücktes Röcheln. Ein Laut, der absolut nicht in diese Idylle hineinpasste.
Sein Kopf ruckte herum.
Erstaunt bemerkte er, wie die Murmeltiere auf der Wiese erschrocken zusammenzuckten und keinen Herzschlag später fiepend in ihren Bau stürmten.
Kopfschüttelnd richtete er sich auf. Als er dabei nach oben blickte, war auch der Specht verschwunden. Irgendetwas musste die Tiere erschreckt haben.
Hastig blickte sich Andrew um.
Wieder erklang das Geräusch, diesmal schon wesentlich näher.
Sein Kopf ruckte nach links und er erkannte gerade noch, wie eine schemenhafte Gestalt hinter einem der neben ihm liegenden Felsen verschwand. Den Umrissen nach handelte es sich dabei wahrscheinlich um einen Hund.
Er grinste und schalt sich insgeheim einen Narren.
Natürlich war es ein Hund, was denn sonst? Schließlich war eine der Haupteinnahmequellen für die Bevölkerung des Landes die Weidewirtschaft mit Schafen und Ziegen und dem daraus resultierenden lukrativen Handel mit Käse. Deshalb war es nur logisch, dass er einen Hund gesehen hatte, seines Wissens nach gab es keinen Schaf- oder Ziegenhirten, der hier nicht wenigstens einen Hund zum Hüten und Treiben seiner Herde besaß.
Trotzdem wurde ihm etwas mulmig zumute.
Was, wenn er unwissentlich in die Weidegründe eines solchen Hirten eingedrungen war, dessen Hund diese als sein Revier betrachtete?
Er fühlte sich mit seinen 59 Jahren zwar noch ziemlich vital, aber den Angriff eines wütenden Schäferhundes abzuwehren war schließlich doch etwas anderes, als daheim in Birmingham hinter dem Bankschalter zu sitzen.
Andrew Brown entschloss sich spontan, den Weg, den er gekommen war, wieder zurückzugehen.
Er hatte noch keine zehn Schritte hinter sich gebracht, als seitlich von ihm ein Hund zu bellen begann. Laut, anhaltend, in immer größer werdender Wut.
Brown konnte sich eines mulmigen Gefühls nicht erwehren.
Wie weit war es bis zu seiner Pension?
Drei Meilen?
Vielleicht vier?
Andrew schluckte und beschleunigte unwillkürlich seine Schritte.
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