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Wolfram von Bärenburg – Teil 6

Wolfram von Bärenburg, genannt der Erzteufel
Der verwegenste Raubritter und schrecklichste Mörder, ein Scheusal des Mittelalters, von der Hölle ausgespien zum Verderben der Menschen
Eine haarsträubende Schauergeschichte aus den furchtbaren Zeiten des Faustrechts und des heimlichen Gerichts der heiligen Feme aus dem Jahr 1860
Kapitel 6

Die Waldhexe

Durch das Hochgewitter und den strömenden Regen erfrischt, erwachten der Wald und alle Tiere in ihm nach der furchtbaren Nacht und der schrecklichen Bärenfütterung mit Menschenfleisch im strahlenden Licht der aufgehenden Sonne zu neuem Leben. Die Amseln mit ihren gelben Schnäbeln, die munteren Finken und viele andere Singvögel hüpften fröhlich auf den Zweigen der Bäume und begrüßten mit ihren schönsten Liedern den herrlichen Morgen.

Aus tiefem Schlaf fuhr Ritter Kurt empor, der in der schmalen Wandvertiefung einer Sandgrube ein trockenes Nachtlager gefunden hatte. Es war ihm anfangs, als ob alles, was er in der entschwundenen Nacht erlebte, nur ein schwerer Traum gewesen war, bis ihn die Erinnerung an alle einzelnen Vorgänge mit der Überzeugung der entsetzlichen Wirklichkeit erfüllte. Hunger und Durst quälten ihn. Da lud ihn die Natur an ihre mütterliche Tafel und bewirtete ihn wie die Vögel mit Heidelbeeren und dem klaren Wasser eines kleinen Waldbaches.

»Was soll ich nun anstellen?«, fragte er sich.

»Hier im Wald kann ich auf die Dauer mich nicht herumtreiben, nicht in einer Höhle wohnen und mich nur mit dem Fleisch erlegten Wildes ernähren. Bricht meine Axt oder verlier ich sie, so bin ich waffenlos den wilden Bestien ausgeliefert. Soll ich in irgendeiner Ritterburg gastliche Aufnahme suchen? Ich will keine Almosen. Leiste ich dem gastfreundlichen Ritter Beistand in einer Fehde, so weiß ich nicht einmal, ob ich für eine gerechte Sache kämpfe, und ich könnte mein Leben verlieren, das ich nur für meine Rache an dem Mörder meines geliebten Weibes einzusetzen geschworen habe. Um diesen Zweck zu erreichen, darf ich mich von dieser Gegend in der Nähe der Bärenburg nicht entfernen. Ja, ich bleibe in diesem Wald. Der rächende Gott kann Wolfram auf einer Jagd in meine Hände liefern. Leider habe ich keine Armbrust, um ihn vom sicheren Versteck eines Gebüsches aus, vom Ross zu schießen. Ich bin aber ein guter Schütze, und so könnte mir leicht das Unglück begegnen, ihn augenblicklich zu töten, was nicht geschehen darf. Bevor ich ihn mit meiner Axt in Stücke haue, soll er aus meinem Mund erfahren, dass ich es bin, Ritter Kurt von Steinau, der ihn zur Strafe des Weibermordes wie einen giftigen Basilisken erschlägt.

Aber die schwarzen Männer der heiligen Feme haben mich vor Selbsthilfe gewarnt. Gut, ich will am nächsten Freitag auf einem Kreuzweg erscheinen. Wie will denn das heimliche Gericht die Vorladung Wolframs an das Tor der Bärenburg heften, die kein Tor hat? Wie dem auch sei! Ist die Frist von sechs Wochen verstrichen, ohne dass an ihm das Urteil des heimlichen Gerichtes vollzogen wurde, so bin ich der Vollstrecker!«

Mit solchen Gedanken und halblaut gemurmelten Worten schritt Kurt immer tiefer in den oft völlig unwegsamen Wald hinein, als er plötzlich ein leises Ächzen in seiner Nähe vernahm. Er blieb stehen und lauschte. Er drängte sich durch ein dichtes Gebüsch und erblickte ein altes Weib mit einer schweren Kiepe auf dem Rücken, das zu Boden gefallen war. Da die Alte mit dem Kopf tiefer lag als mit dem übrigen Leib, so bemühte sie sich vergebens, aufzustehen. Kurt sprang hinzu, fasste sie um die Hüfte und hob sie federleicht empor.

»Du hast dir doch nicht wehgetan, liebe Alte?«, fragte sie Kurt einfühlsam, während er die aus dem Tragekorb herausgefallenen Kräuter zusammenraffte und wieder hineinlegte.

»Nein«, antwortete die Alte, die Gesichtszüge des Ritters mit gespannter Aufmerksamkeit betrachtend. »Ich danke Euch für Euern Beistand.«

»Ist kaum eines Dankes wert, doch kam er zur rechten Zeit, da dich in dieser hilflosen Lage leicht Bären oder Wölfe hätten zerreißen können.«

»Ich fürchte mehr die bösen Menschen als Bären und Wölfe, die mir immer ängstlich aus dem Weg gehen, weil ich von Zeit zu Zeit meinen ganzen Leib mit dem Saft eines Krautes einreibe, dessen Geruch diesen Bestien unausstehlich ist. Aber der Hungertod stand mir bevor, wenn Ihr nicht gekommen wärt.«

»So dank’ ich Gott, dass er mir Gelegenheit gab, dich zu retten.«

»Ihr habt noch immer das gute Herz Eurer Kinderjahre.«

Kurt sah sie verwundert an. »Wie meinst du dies?«, fragte er.

»Das ist eine lange Geschichte, die ich Euch in meinem sogenannten Hexennest erzählen will, wenn Ihr mich dahin begleiten wollt.«

»Recht gerne.«

»Der Weg ist nicht weit, und ich kann Euch dort einen guten Imbiss auftischen, und einen Krug welschen Weines, wie Ihr ihn vielleicht auf Steinau nie besser getrunken habt.«

Bei diesen Worten blinzelte sie ihn mit ihren kleinen grauen Augen an, und ein gutmütiges Lächeln spielte um ihren zahnlosen Mund.

»Auf Steinau?«, fragte Kurt, mit Mühe sein Erstaunen verhehlend, indem er den Stab vom Boden aufhob, der ihr beim Sturz aus der Hand gefallen war, und ihn ihr reichte.

»Ja, auf Steinau.«

»Wo liegt denn dieses Steinau, und was ist es?«

»Nicht volle drei Stunden von hier, eine Burg.«

»An eine Burg Steinau kann ich mich nicht erinnern.«

»Glaub ich gerne«, erwiderte die Alte kichernd, »in Eurem hohen Alter ist das Gedächtnis schwach geworden. Da ist das Gedächtnis der mehr als achtzigjährigen Waldhexe, wie mich die Leute nennen, ohne zu wissen warum, viel stärker, als das Eurige.«

»Daran zweifle ich nicht. Aber es ist mein voller Ernst, wenn ich dir sage, dass ich eine Burg Steinau nicht zu kenne.«

»Ich auch nicht,« lachte die Waldhexe aus vollem Halse, »denn die Burg Steinau ist verbrannt, und dem Erdboden gleichgemacht worden.«

»Eine traurige Geschichte!«

»Jawohl! Hat aber nichts zu sagen, denn der rechtmäßige Besitzer von Grund und Boden, auf welchem die Burg Steinau stand, wird sie bald prächtiger wieder aufbauen, als sie jemals war.«

»Ist er denn so reich?«

»Was nicht ist, kann noch werden.«

Nachdem sie eine Weile durch den Wald gelaufen waren, kamen die alte Frau und Ritter Kurt ihrem Ziel immer näher.

»Jetzt sind wir gleich an meinem Hexennest. Seid indes nicht stutzig, nur mein hohes Alter, mein gebeugter Körper und mein runzliges Gesicht drücken mir diesen Schimpf auf. Ich will Euch den Weg weisen. Folgt mir getrost.«