Der Marone – Der arme Mensch
Thomas Mayne Reid
Der Marone – Erstes Buch
Kapitel 5
Der arme Mensch
Welchen Eindruck das Lesen des Briefes auch auf Käthchen Vaughan hervorgebracht haben mochte, sicherlich war es nicht Unwillen. Im Gegenteil, ein Ausdruck des Mitgefühls schlich über ihr Gesicht, als sie den Inhalt des Briefes musterte. Als sie ihn beendet, kam über ihren Lippen gleichsam unwillkürlich und gerade noch hörbar der Ausruf: »Der arme Mensch!«
Sie wusste in der Tat von Herbert Vaughan kaum etwas als den Namen, und dass er ihr Vetter sei. Aber das Wort Vetter besaß besonders in dem Ohr junger Leute einen anziehenden Ton, der an Interesse dem einer Schwester oder eines Bruders gleichkam, ja ihn zuweilen noch übertraf.
Zweifelsfrei ist die für einen Blutsverwandten gefühlte Neigung ein Instinkt der Natur, und wenn er zeitweise auch verleugnet und zur Abneigung, ja selbst zum Hasse verkehrt wird, – wo etwa Geiz oder eine andere Leidenschaft die Oberhand gewinnt, – die Abneigung ist die Ausnahme, nicht die Regel.
Bei Loftus Vaughan hatte weltlicher Ehrgeiz zusammen mit Geldgier die volle Herrschaft über sein Herz gewonnen und jede Spur brüderlicher Zuneigung zerstört. Unter dem Einfluss dieser giftigen Leidenschaften hatte er längst aufgehört, sich um seine Verwandten zu bekümmern. Selbst die kleinen armseligen Summen, die er von Zeit zu Zeit seinem weniger beglückten Bruder übersandt hatte, waren von ihm nur durch wiederholtes und ernsthaftes Anflehen erlangt und mit grollendem Widerstreben gegeben worden.
Solche Leidenschaften waren in dem Herzen seiner Tochter nicht vorhanden, die ihre Triebe missleiten und sie aus ihrer wahren Natürlichkeit irre zu führen vermochten. Obgleich sie nur sehr wenig von ihrem Verwandten wusste, so hatte doch die Bezeichnung Vetter alle die natürlichen Triebe der Zärtlichkeit in ihr geweckt, die gewöhnlich dadurch hervorgerufen werden.
Herbert Vaughan war der Einzige, der mit ihr in dieser Weise verwandt war. Überhaupt wusste sie mit Ausnahme dieses jungen Mannes und ihres eigenen Vaters – nun, da der Bruder des Vaters tot war – von keinem andern Verwandten auf der ganzen Erde, da weder ihre Mutter noch ihrer Verwandtschaft ihr jemals bekannt gewesen war.
Sie hatte weder Bruder noch Schwester gehabt, und Herbert Vaughan war nicht nur ihr Vetter, sondern ihr einziger Vetter. Dieses Gefühl, eine halbe Waise zu sein, mag das instinktmäßige Band, das die Natur gewoben, wohl noch verstärkt haben.
Noch ein anderer Umstand konnte vielleicht gleichen Einfluss ausüben. Obgleich von jedem Luxus und von einer Masse von Bediensteten umgeben, fehlte ihr doch immer etwas, dessen Entbehrung sie tief fühlen musste.
Die Freunde ihres Vaters waren nur Tischfreunde und nicht von ihrem Geschlecht. Ihre Frauen, Schwestern und Töchter wurden selten auf Willkommenberg gesehen, und wenn sie zufällig dort erschienen, so zeigte ihr Betragen offenbar, dass sie die Freunde des Herrn Vaughan, jedoch nicht die seiner Tochter waren. Zwischen ihnen und Fräulein Vaughan war eine gewisse Zurückhaltung, eine gewisse Kälte, die, obgleich vielleicht für einen mit jamaikanischer Gesellschaft nicht Vertrauten unbemerkbar, dennoch wirklich vorhanden waren. Das junge Mädchen wusste es selbst, obwohl sie den Grund dafür nicht kannte und sich in ihrer einfachen Unschuld gar nicht darum bemühte, ihn zu erfahren. Denn glücklicherweise hatte man niemals von dem Makel ihres Blutes geredet und sie wusste gar nicht, dass mit dem Namen »kleine Quasheba« eigentlich ein Schimpfwort verbunden sei. So lange hatte ein günstiges Geschick diese demütigende Botschaft von ihr ferngehalten.
Dennoch fühlte sie stets eine gewisse gesellige Isolierung, einen Mangel an wirklichen Freuden. Dies hatte zweifelsohne dazu beigetragen, sowohl ihr Herz als auch ihre Gesichtszüge mit einem Charakter von Selbstbeherrschung und Selbstvertrauen zu erfüllen, der ihrem jugendlichen Alter wenig entsprach.
Dies hatte auch die Bande der Zärtlichkeit, die sie an ihren Vater knüpften, verstärkt. Und sollte es nicht auch dem Wort »Vetter« ein größeres Interesse verliehen haben?
War dies wirklich der Fall oder war es lediglich kindliches Mitgefühl mit dem Missgeschick. So viel ist gewiss, dass Käthchen Vaughan, als sie den Brief wieder auf den Tisch legte, die Worte murmelte: »Der arme Mensch!«
Obschon, wie bereits erwähnt, in einem kaum hörbaren Tone hervorgebracht, erreichten diese Worte doch das Ohr ihres Vaters.
»Der arme Mensch!«, wiederholte er, sich heftig nach seiner Tochter umschauend und sie mit einem verärgerten Blick betrachtend.
»Ich bin verwundert, Käthchen, dich in solchem Ton von jemandem sprechen zu hören, der nichts getan hat, um dein Mitleid zu verdienen. Ein fauler Bursche, ein Tunichtgut, gerade wie sein Vater es auch gewesen war. Und wenn ich nur daran denke, – kommt hierher als Zwischendeckpassagier, in demselben Schiff mit Herrn Montagu Smythje! Teufel noch mal! Was für eine Schande! Herr Smythje wird gewiss erfahren, wer er ist, obwohl er sich eigentlich mit solcher Kanaille nicht einlässt. Er muss den Burschen sehen, und wenn er ihn dann hier wiedersieht, wird er sich seiner schon erinnern. Ja, ich muss Vorkehrungen treffen, dies zu verhüten.
Der arme Mensch! In der Tat, arm genug, aber nicht in dem Sinne. Ganz wie sein Vater, wahrhaftig, der zwischen Malerpinsel und Palette in den Tag hinein lebte, anstatt ein einträgliches Geschäft zu ergreifen, bloß um ein Künstler genannt zu werden. Arm! Possen das! Pah, lass mich das nicht wieder hören!«
Als Herr Vaughan sein böswilliges und übel gelauntes Geschwätz beendet hatte, zog er den Umschlag von der Zeitung ab und suchte durch deren Inhalt seinen Geist vom unangenehmen Inhalt des Briefes sowie wie seines Schreibers abzuwenden.
Das junge Mädchen, durch die ganz ungewohnte Heftigkeit des Verweises beschämt und außer Fassung gebracht, saß mit niedergeschlagenen Augen, ohne weiter eine Antwort zu geben. Die rote Farbe ihrer Wangen war dunkler geworden und bis an ihre Stirn gedrungen. Ungeachtet der ihren Gefühlen angetanen Gewalt war es leicht zu bemerken, dass das Mitgefühl, welches sie für ihren armen und unbekannten Vetter gezeigt hatte, so tief wie zuvor empfunden wurde.
Weit entfernt, dasselbe erstickt oder unterdrückt zu haben, hatte das Benehmen ihres Vaters es vielmehr noch vergrößert und verstärkt. Denn das Sprichwort von dem gestohlenen Wasser bleibt stets wahr, und die verbotene Frucht ist heute noch gerade so verlockend, wie sie es am Schöpfungstag gewesen. Wie es zu Anfang war, so wird es ewig bleiben.